Welche Filme oder Momente haben die Berlinale-Blogger 2017 nostalgisch oder nachdenklich gemacht? In diesem Artikel reflektieren sie gemeinsam über das Thema „Damals und Heute“
Ahmed Shawky – Ägypten: Bones Of Contention ist ein sehr anrührender Dokumentarfilm, der sich hier und da auch schwarzen Humors bedient, um die Grausamkeiten zu zeigen, mit denen das Franco-Regime jenen Menschen in Spanien begegnete, die der LGBT-Community angehörten oder sonst auf irgendeine Art anders waren. Während das Publikum viele Szenen zum Lachen fand, musste ich die ganze Zeit daran denken, dass das, was hier zum Teil als Witz dargestellt wird, in vielen Ländern, vor allem in der Region, wo ich herkomme, auch heute immer noch Alltag ist.
Camila Gonzatto – Brasilien: Der Dokumentarfilm I’m Not Your Negro (Frankreich/USA/Belgien/Schweiz), der im Rahmen von Panorama Dokumente aufgeführt wurde, ist unter der Regie von Raoul Peck auf der Grundlage von Texten von James Baldwin (1924-1987) entstanden und bringt die Kämpfe der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA auf die Leinwand. Die Grundlage des Films bildet der Tod dreier Schlüsselfiguren: Malcolm X, Martin Luther King Jr. und Medgar Evers. Er ist eine Collage von Archivbildern und Ausschnitten aus Hollywood-Filmen und erzählt von der Darstellung von Schwarzen im US-amerikanischen Film und der Konstruktion der Rolle von Schwarzen in einer Nation. Wenngleich die Sprache des Dokumentarfilms eher TV-Charakter hat und sich filmsprachlich nicht besonders abhebt, übermittelt er wichtige Reflexionen Baldwins, die auch heute noch aktuell und relevant sind. So schließt beispielsweise der Film mit folgendem Zitat: „Ihr habt den Schwarzen erfunden. Ihr müsst Euch fragen, warum. Davon hängt unsere Zukunft ab“.
Yun-hua Chen – China: T2 Trainspotting hat in mir viele Nostalgiegefühle geweckt. Die gealterten Darsteller Ewan McGregor, Robert Carlyle und Ewen Bremner zu sehen, ist wie ein Blick auf mein eigenes alterndes Ich. Die Charaktere werden ihren eigenen jüngeren Versionen von vor 21 Jahren gegenübergestellt, wie sie die Felsküste in Edinburgh entlangschlendern, oder rennend auf den kiesbedeckten Bürgersteigen. Das lässt mich an meine letzten 21 Jahre zurückdenken, und der Klang des charmanten schottischen Akzents ruft mir die besten Jahre meines Lebens in Erinnerung, die ich in Edinburgh verbrachte. Edinburgh hat sich seit der Zeit von Trainspotting in den neunziger Jahren sehr verändert – die Tram funktioniert inzwischen und die Gentrifizierung nimmt ihren Lauf. Und ich bin nicht mehr der Teenager, der mit Entsetzen zuschaute, wie Ewan McGregor in die „schlimmste Toilette in Schottland“ eintauchte. Die tiefe Faszination für die Magie der Kinoleinwand hat mich aber nie losgelassen (und wird es wohl auch nie tun).
Andrea D’Addio – Italien: In Return to Montauk unternimmt der Schriftsteller Max Zorn, gespielt von Stellan Skarsgård, eine Reise in die Vergangenheit. Sein letztes Buch scheint eine erfundene Geschichte zu sein. In Wirklichkeit geht es darin aber um eine vergangene, aber nie ganz vergessene Liebe. Wenn Max daher beschlossen hat, das Buch auch in New York vorzustellen, obwohl er mittlerweile dauerhaft in Berlin wohnt, dann auch um zu verstehen, warum diese Geschichte vor mehr als zwanzig Jahren endete. Er wird es erfahren, aber gleichzeitig einen Blick auf eine sentimentale und ebenso unsichere Zukunft werfen, die vielleicht Stoff für einen weiteren Roman bieten wird. Für Schriftsteller dient die Zeit mit den damit verbundenen Sehnsüchten und Gewissensbissen oft der Inspiration.
Sarah Ward – Australien: „Damals und Heute“ wäre ein passender Alternativtitel für Rückkehr nach Montauk gewesen. In Volker Schlöndorffs Film (dessen Buch in Zusammenarbeit mit Brooklyn-Autor Colm Tóibín entstanden ist) geht es nicht nur um Nostalgie und Sehnsucht, sondern vor allem um den universellen, existenziellen und unvermeidlichen Drang, herauszufinden, wie die Vergangenheit unsere Zukunft bestimmt; ein Drang, der unter dem Stirnrunzeln und den sehnsüchtigen Blicken der gefühlvollen Hauptdarsteller lebendig wird.
Philipp Bühler – Deutschland: Der Ort Montauk auf Long Island scheint das Thema Erinnerung magisch anzuziehen. Inspiriert von Max Frisch inszeniert Volker Schlöndorff hier Rückkehr nach Montauk (Wettbewerb). Die Erinnerung ist immer schöner als die Wirklichkeit. Das gediegene Erwachsenenkino ist quasi die Antithese zu Michel Gondrys modernem Sci-Fi-Klassiker Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004) über gelöschte Erinnerungen, der ebenfalls in Montauk endete – oder begann, je nachdem. Derzeit allerdings, da uns die Zukunft mehr beschäftigt als die Vergangenheit, ist die Science-Fiction-Retrospektive aktueller. Ridley Scotts Zukunftsvision in Blade Runner (1982) ist gnadenlos dystopisch und spielt im Jahr 2019. Wir haben noch zwei Jahre.
Julia Thurnau – Norwegen: Von 2003 bis 2005 und 2010 bis jetzt moderiert Anke Engelke mit ihrem unbändigen Witz die Eröffnungsgala der Berlinale. Die First Lady der Deutschen Komiker Szene steht in Abendrobe, hohen Schuhen und mit Tesiro-Klunkern geschmückt auf der Bühne, während Dieter Kosslick bequeme Turnschuhe trägt. Damit spielt Engelke einen von vielen Stereotypen ihres Registers aus. Schade, dass die Mehrheit der Frauen die immer gleiche Gender-Performance abliefert, statt aus der Vielfalt der potentieller Rollen zu schöpfen, die sie stattdessen einnehmen könnte, wie z.B. Tilda Swinton, die auf der Berlinale 2015 als David Bowie verkleidet erschien.
Dorota Chrobak – Polen: Manchmal ändern sich Dinge nicht. Besonders in der Welt der Politik. Viceroy's House spielt im Jahr 1947, aber zeitweise bekommt man den Eindruck, dass es heute passiert. Große Jungs regieren die Welt, spielen Katz und Maus (cat & mouse), Verstecken (hide & seek), Schach und Dame (chess & checkers) und viele andere „lustige Spielchen” (funny games). Aber die Opfer sind immer schmerzhaft echt. Die Teilung von Indien in zwei Staaten, Indien und Pakistan, hat die größte Völkerwanderung der Weltgeschichte hervorgerufen. Siebzehn Millionen Menschen mussten von einem Land ins andere ziehen. Während dieser Umsiedelung sind eine Million Menschen ums Leben gekommen. Klingt vertraut? Manchmal ändern sich Dinge nicht. Nur das Spielzeug ist ein wenig anders.
Pablo López Barbero – Spanien: Der Dokumentarfilm Beuys über das Leben des genialen Künstlers hat mich durch seinen wirklich revolutionären Protagonisten fasziniert. Joseph Beuys war ein Künstler mit Leib und Seele, respektlos und polemisch, der sich zudem durch sein enormes politisches und soziales Engagement auszeichnete. Und ich frage mich die ganze Zeit, ob die heutige Kunstszene die Anregungen durch Beuys aus dieser lebhaften zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirklich umgesetzt hat. Ich frage mich, ob das neue Jahrhundert, das uns vernetzt und uns informierter und wissender macht, uns auch etwas weniger menschlich macht. Es bleiben Zweifel.
Nathanael Smith – Vereinigtes Königreich: Eins der wiederkehrenden Themen der 67. Berlinale ist das Stilmittel, mittels der Geschichte einen Blick auf unsere Gegenwart zu werfen. So endet etwa der sehr scharfsinnige und intelligent gemachte Film Der junge Karl Marx von Raoul Peck mit einer mutigen Nachrichten-Montage, die klar macht: Marx‘ Ideen sind auch heute noch wichtig. Ein seltener didaktischer Moment in einem Film, der ansonsten eher zu Debatte anregt. Man könnte sich fragen, warum der Film überhaupt einen solchen Abspann braucht; denn dieser spricht ja im Grunde dem Publikum die Fähigkeit ab, selbst einen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Anscheinend wollte Peck nach einem Film, der in erste Linie den Kopf anspricht, hier einfach mal jeden noch so routinierten Filmkritiker ins Herz treffen – und das ist ihm auch gelungen.