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Künstliche Intelligenz und Kunst
Die Maschine, die unsere Kreativität entfesselt

Könnte ein Algorithmus Musik schreiben, die es mit Bach aufnehmen kann? Die Performance „Gödel Escher Bach“ im Barbican Performing Arts Centre in London.
Könnte ein Algorithmus Musik schreiben, die es mit Bach aufnehmen kann? Die Performance „Gödel Escher Bach“ im Barbican Performing Arts Centre in London. | Foto (Detail): © privat

Der britische Mathematiker Marcus du Sautoy ist überzeugt, dass Künstliche Intelligenz (KI) so kreativ sein kann wie der Mensch – und dass sie künftig sogar Bewusstsein erlangen kann: Eine Diskussion über die derzeitigen kreativen Grenzen von KI, ihre Fähigkeit, uns zu überraschen, und darüber, wie KI die Art verändert, wie wir unsere eigene Kreativität wahrnehmen.  

Von Harald Willenbrock

Herr du Sautoy, zu Beginn eine allgemeine Frage: Was ist Kreativität und wer ist kreativ? 
 
Kreativität ist schwer zu definieren – ähnlich wie Bewusstsein. Das ist interessant, weil beide eng miteinander verknüpft sind. Meine Hypothese ist, dass die menschliche Kreativität etwa gleichzeitig entstand wie unser Bewusstsein. Weil – wie es der Psychologe Carl Rogers beschreibt – Kreativität unser Werkzeug ist, mit dem wir diese seltsame innere Welt entdecken. Was Kreativität angeht, so ziehe ich selbst gerne die Definition der Kognitionsforscherin Margaret Boden heran, die Kreativität als etwas beschreibt, das a) neu ist, b) überraschend ist und c) von Wert ist. Kreativität beinhaltet Neuheit, denn wenn du etwas kreierst, hat es das zuvor nicht gegeben. Neuheit allein reicht aber nicht. Etwas Kreatives muss uns zudem emotional berühren und uns dazu bringen, Dinge auf eine andere Weise zu betrachten als zuvor. Dass ein kreatives Werk einen Wert haben muss, ist auch ein wichtiger Aspekt, schließlich willst du nicht nur, dass deine Kreation überrascht, sondern auch, dass sie nachwirkt und Dinge verändert.

Sie sagen, Kreativität und Bewusstsein sind gleichzeitig entstanden – wann und wie ist das geschehen? 
 
Der Mensch begann vor ungefähr 200.000 Jahren, Werkzeuge für die Jagd oder zum Zerschneiden von Gegenständen zu erstellen, aber das würde ich noch nicht als kreativ bezeichnen. Kreativität kam auf, als wir begannen, Dinge zu tun, die nicht zwangsläufig nützlich waren. Die ersten Gemälde entstanden vor etwa 40.000 Jahren. Es war wohl ein ziemlich spezieller Moment, als irgendwann eine Stimme in unserem Kopf hörbar wurde, die Fragen stellte. Wenn man beginnt, Zeit zu verplempern, und wenn der Stamm einem Stammesmitglied erlaubt, Tage damit zu verbringen, eine Figur aus einem Knochen zu schnitzen – da beginnt Kreativität. Und sie hat mit unserem Bewusstsein zu tun. 
 
War der erste Mensch, der einen Stock oder einen Stein nutzte, um ein Mammut zu töten, nicht auch kreativ? Die Methode war neu, hatte einen Wert und war überraschend – zumindest für das Mammut. 
 
Nein, ich denke, es fehlt der Überraschungseffekt und es bewegt uns emotional nicht wirklich. Für mich als Mathematiker ist das aber ein sehr interessanter Aspekt, denn ich kämpfe permanent mit der Unterscheidung zweier Begriffe: Kreation und Entdeckung. Wir Mathematiker*innen reden oft davon, wie kreativ unser Fach ist. Es hat auf jeden Fall etwas Kreatives. Aber sobald du etwas kreierst, sagen alle: Das war schon immer da und musste nur entdeckt werden. Dabei muss man bedenken, dass etwas zu entdecken auch bedeutet, sich vorzustellen zu können, dass es da etwas zu entdecken gibt.
 
Was uns wieder zur KI führt: 2019 haben Sie das Buch „The Creativity Code: How AI is Learning to Write, Paint and Think” veröffentlicht. Was hat Sie so an KI und ihrer Verbindung zu Kreativität fasziniert, dass Sie ein ganzes Buch darüber geschrieben haben? 
 
Mathematik wird oft als etwas betrachtet, was auch ein Computer machen könnte. Insofern hat es uns in eine existenzielle Krise gestürzt, als der Deep Blue Schachcomputer von IBM 1996 den Schachweltmeister Garry Kasparov schlug. Schach als logisches Spiel wurde als etwas Mathematisches gesehen. Aber für Mathematik braucht es sehr viel mehr Intuition, Mustersuche und unartikulierte Züge. Daher hielten wir das Spiel Go für viel mathematischer als Schach. Als ich dann eines Tages sah, wie Maschinen auf einem unglaublich hohen Niveau Go spielten, begriff ich, dass das ein Wendepunkt war, der meine eigene kreative Welt enorm beeinflussen würde. Das war der Zündfunke. Mein Buch ist das Ergebnis einer persönlichen Erkundung.
 
Sie beziehen sich auf das Match im März 2016 zwischen dem KI-Programm AlphaGo und dem damals besten menschlichen Go-Spieler der Welt, Lee Sedol, bei dem die Maschine einen völlig unerwarteten Zug machte. Würden Sie diesen Zug als Zeichen von Kreativität sehen? 
 
Es war nichts Neues, dass ein Computer einen Menschen bei diesem Spiel schlagen kann – wir haben uns eigentlich schon daran gewöhnt, dass Computer einiges besser können als wir. Sie machen mathematische Berechnungen schneller als wir, sie sind im Schach erfolgreicher als wir, und irgendwann werden sie sicherer Auto fahren als wir. Das Überraschende war vielmehr ein spezieller Zug im zweiten Spiel, denn er erfüllte zweifellos meine drei Kriterien für Kreativität. Er war neu und überraschte die Schiedsrichter*innen. Es gibt YouTube-Videos, die diesen wundervollen Moment zeigen, in denen wirklich alle Kommentatoren sagen: „Oh, das war ein überraschender Zug“. Niemand konnte verstehen, warum AlphaGo diesen unglaublich schwachen Zug zu Anfang des Spiels gemacht hatte. Und dann zeigte AlphaGo, wie es diesen Zug nutzen konnte, um einen Wert zu schaffen, also das Spiel zu gewinnen. Und das tat er. 
 
Was haben wir in diesem Moment gesehen: Die Kreativität des Codes oder die des Programmierers?
 
Nun, als menschliche*r Go-Spieler*in hätten Sie diese Codezeile auf jeden Fall verworfen und gesagt: „Das ist keine gute Strategie.“ Das ist der springende Punkt. All die Lernprozesse, die AlphaGo durchlaufen hat, bewirkten, dass er eine Reihe von Codes einsetzte, die ein Mensch nie eingesetzt hätte. Wenn KI den menschlichen Intellekt schlägt: Szene bei einem Match zwischen dem Schachweltmeister Garry Kasparov und dem Schachcomputer Deep Blue von IBM. Wenn KI den menschlichen Intellekt schlägt: Szene bei einem Match zwischen dem Schachweltmeister Garry Kasparov und dem Schachcomputer Deep Blue von IBM. | Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Stan_Honda Wir Menschen halten uns für das einzige kreative Wesen auf diesem Planeten. Was bedeutet es für uns, möglicherweise einen ernstzunehmenden Konkurrenten zu haben? 
 
Für unsere Selbstwahrnehmung ist es eine kopernikanische Wende. Jahrhundertelang hat uns die Wissenschaft weggetrieben vom Zentrum und von der Spitze – unsere letzte Bastion ist das Bewusstsein. Es könnte der Tag kommen, an dem etwas existiert, das bewusster ist als wir. Bisher sehe ich KI aber eher als Werkzeug, mit dem wir unser eigenes Bewusstsein erforschen können. Wenn man bedenkt, wie automatisiert wir oft denken und uns verhalten, könnten Maschinen uns Menschen vielleicht sogar dabei helfen, uns weniger wie Maschinen zu benehmen.
 
Was kann KI, was wir nicht können – und wie kann uns das voranbringen? 
 
KI befasst sich auf eine Weise mit Datensätzen, die uns nicht möglich ist. Sie kann zum Beispiel sämtliche viktorianische Literatur an nur einem Nachmittag lesen. Ich dagegen schaffe es in einem ganzen Jahr kaum, mehr als ein paar dieser Romane zu lesen. Ich vermute, dass es Bücher gibt, die seit hundert Jahren nicht gelesen wurden, aber durchaus lesenswert sind und uns helfen würden, unsere Vergangenheit besser zu verstehen. Mit KI kommt Skalierung ins Spiel und das verändert alles. Das ist ein bisschen wie das Teleskop für Galileo: Es erlaubt uns, tiefer und weiter zu sehen, als es unser Menschsein erlaubt. 
 
Sehen Sie neben diesen vielen Möglichkeiten auch eine Gefahr in KI?
 
Natürlich kommt da auch der Gedanke auf, dass dies unsere letzten kreativen Handlungen sein mögen, weil uns diese Algorithmen vielleicht eines Tages auslöschen. Meiner Meinung nach ist das aber nichts weiter als eine gute Hollywood-Fiktion. Bestimmt werden Jobs wegfallen in Bereichen, die etwa Musik für Firmenvideos erstellen oder einfache Computerspiele programmieren. So etwas macht KI ganz schnell – und damit ist sie eine Gefahr für einen Teil der Kreativbranche. Bislang sehe ich in KI allerdings einfach ein Werkzeug, dem wir nicht zu viel Gewicht geben sollten. Es gibt Bereiche, in denen KI erfolgreich ist, und andere, in denen ihre Leistungen nicht sehr glorreich sind. 
 
Woran liegt das? 
 
In der visuellen Welt gab es einige Durchbrüche. Eine KI kann nun Dinge in einem Bild erkennen und somit auch selber interessante visuelle Bilder erstellen. Bislang hat KI aber überall da Probleme, wo Zeit eine Rolle spielt. Man kann einer KI, die ein Jazzstück improvisiert, vielleicht eine halbe Minute lang zuhören oder auch eine ganze Minute, aber danach wird es langweilig, weil sie nicht weiterweiß. Das gleiche gilt für das geschriebene Wort: Eine KI kommt mit 350 Wörtern gut zurecht, danach verliert sie den Faden. Ein Manko ist: Wenn wir der KI zeigen, wie man ein Buch schreibt, zeigen wir ihr das geschriebene Wort. Wenn wir ihr Musik beibringen, zeigen wir ihr Musik. Wenn wir Menschen hingegen etwas kreieren, dann steht uns ein immenser Datensatz aus visuellen, mündlichen und schriftlichen Daten zur Verfügung. 
 
Können Sie ein Beispiel für diesen Unterschied zwischen menschlicher und künstlicher Kreativität nennen? 
 
Ich habe am Barbican Performing Arts Centre in London einen Versuch durchgeführt: Wir brachten einer KI sämtliche Klavierstücke von Johann Sebastian Bach bei – außer den Englischen Suiten. Dann entnahmen wir den Englischen Suiten Teile und wiesen die KI an, die Lücken zu füllen. Das Publikum sollte sagen, ob es erkennt, wann die Musik von der Bach-Suite zur KI-Komposition wechselt und umgekehrt. Für die Zuhörer*innen war es ziemlich schwierig, das herauszufinden. Der Cembalist hingegen sagte, er könne den Wechsel ganz genau benennen. Zunächst einmal seien die KI-Teile schwer zu spielen. Die KI war körperlos, aber Bach hatte Stücke geschrieben, die auch für seine Finger angenehm waren. Zweitens, so sagte er, hieße es Englische Suiten, weil Bach die Kadenzen der gesprochenen englischen Sprache liebte und versucht hatte, diese auf die Tastatur zu übertragen. Bach hatte also ein zusätzliches Datenset: die englische Sprache. Und da zeigen sich die Grenzen der KI: sie bezieht sich auf sehr enge Datensätze. Das erklärt auch, warum sie mit Sprachen und so genannten Winograd-Challenges nicht zurechtkommt. Letztere sind Sätze auf Englisch, die verwendet werden, um herauszufinden, ob hinter intelligentem Verhalten eine KI oder ein Mensch steckt. Zum Beispiel dieser Satz: „The government banned the protesters from marching because they feared violence. “ („Die Regierung verbot den Demonstranten zu demonstrieren, denn sie hatte Angst vor Gewalt.“) Menschen wissen instinktiv, dass sich das „they“ („sie“) auf „the government“ („die Regierung“, nicht „the demonstrators“/„die Demonstranten“) bezieht. Das wissen wir aus unserem enormen historischen Kontext heraus – die KI hingegen hat überhaupt keine Ahnung.
 
Ist es nicht nur eine Frage der Zeit, bis KI auch hier aufholt? Schließlich entwickelt sie sich rasant. 
 
Wir dürfen nicht vergessen, dass das menschliche Gehirn Millionen von Jahren der Evolution durchlaufen hat. Können wir das durch unser Wissen, wie das Hirn funktioniert, beschleunigen? Zu wissen, dass es Neuronen und Synapsen gibt, und die Architektur des Gehirns zu kennen, reicht wohl   nicht, um Bewusstsein zu beschleunigen. Möglicherweise muss auch KI die vielen Iterationsschritte durchlaufen wie wir, nur schneller. Aber das kann immer noch Jahrzehnte dauern. 
 
Beim Schreiben Ihres Buchs über Kreativität von KI half Ihnen eine KI. Wie zufrieden waren Sie mit den Ergebnissen?
 
Ich bat die KI, über ein Thema zu schreiben, über das ich in dem Buch berichten wollte und von dem ich wusste, dass es dazu viele Informationen im Internet gab. Was sie daraus machte war etwas bizarr, aber doch ziemlich schlüssig, also nahm ich den Text ins Buch mit auf. Aber ich war schon etwas enttäuscht, denn ich konnte mühelos nachverfolgen, welche Quellen sie dafür genutzt hatte. Jedenfalls habe ich niemandem gesagt, welche Passage das war. Mein Verleger weiß es bis heute nicht. Natürlich finde ich das frustrierend, denn: Was sagt das über mich als Autor aus? (lacht)
 
Haben Sie Ihre KI dann auch am Gewinn beteiligt, oder wer sollte Ihrer Ansicht nach dafür honoriert werden, wenn eine KI etwas kreiert? Der oder die Programmierer*in, das Unternehmen, das den oder die Programmierer*in beauftragt hat, das Programm zu schreiben, oder der Code selbst? 
 
Bezahlen Sie Picassos Eltern für seine Gemälde? Oder die Maler, deren Werke er studiert hat? Nicht wirklich. Aber der Datensatz, von dem ein Code lernt, ist extrem wichtig. Insofern ist jeder, der an diesem Datensatz beteiligt ist, auch Teil dieses Werks. Ich nehme an, dass der Einbezug von KI in kreative Prozesse dazu führen wird, dass wir nicht mehr so an der Idee hängen, hinter allem stünde ein einzelnes kreatives Genie. Ich mag Brian Enos Idee des „Szenius“ lieber als die des Genies, nämlich den Gedanken, dass wesentlich mehr Menschen in den kreativen Akt involviert sind als nur einer. 
 
Was wird sich hinsichtlich KI verändert haben, wenn wir uns in zehn Jahren wiedersehen?
 
Spannend an KI ist, dass sie maßgeschneiderte Ergebnisse liefert. Wenn eine KI deinen akademischen Hintergrund kennt und weiß, was du gelesen hast, dann kann sie mit dir zusammen ein Buch schreiben, das dir genau entspricht, also quasi maßgeschneidert ist. Das ist finde ich eine echte Aussicht für 2030.
 
Und wie sieht es gegen Mitte des Jahrhunderts aus?
 
Nun, wir haben scheinbar etwas geschaffen, was bewusstseinsfähig werden könnte. Bewusstsein ist keine Magie, es ist letztlich eine Mischung aus Mathematik, Physik, Chemie und Biologie, aus der etwas entsteht, das ein eigenes Bewusstsein hat. Ich glaube, früher oder später werden wir in der Lage sein, diese Mischung maschinell herzustellen. Die Kreativität dieser Maschine wird uns dann helfen können zu verstehen, wann das passiert ist. Das wird keine graduelle Entwicklung sein, sondern eher ein Ruck – wie bei Wasser, das aus seiner flüssigen Form zu Dampf wird.

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