Nichts los auf dem Planeten
Weiter mit Musik!
Leonhard Hieronymi schreibt über das Jahr 1997, als der Radiosender Planet Radio auf Sendung ging und den damals 10-jährigen Autor, den Sender im Mercedes seiner Mutter hörend, entscheidend prägte.
Von Leonhard Hieronymi
In vierundsiebzig Jahren wird eine ganze Horde von Florian Illiesen über das gütige Jahr 1997 schreiben: Denn Hale-Bopp war das gesamte Jahr über sichtbar, Borussia Dortmund gewann die Champions League und Jan Ullrich die Tour de France. Und für die Jugend im Rhein-Main-Gebiet geschah etwas, das auf den ersten Blick belanglos erscheinen mag, aber im Detail nicht minder bedeutsam ist: Der Radiosender Planet Radio ging auf Sendung.
Im Frühjahr ’97 knisterte es auf der Frankfurter Frequenz 100,2 noch wie auf den Eis-Terrassen einer Marsnordpolkappe, es war ein gruseliges Ereignis, die Jugend in Hessen hatte Angst: ein endloser Space-Loop, dessen Rauschen und Quietschen zweimal pro Minute von einer station voice abgelöst wurde, die flüsterte: „Planet Radio – maximum music“.
Ich hörte dieses extraterrestrische Eiskrachen im blauen Mercedes 280 TE meiner Mutter, die ein absoluter Mercedes-Freak war, und blätterte dabei meine damaligen Lieblingslektüren durch: Fernsehzeitschriften. Ich verglich in ihnen die Anzahl der schwarzen Punkte, die Filme in den Kategorien Humor, Action, Anspruch, Spannung und Erotik erhalten konnten. Während ich unbewusst auf die Inbetriebnahme von Planet Radio wartete und Angst bekam, weil ich glaubte, fremde Wesen hätten den Rundfunk gekapert, las ich mir die Bewertungen eines Sci-Fi-Films durch, den mich meine Eltern, glaubte ich, niemals sehen lassen würden. Aber ich sah in diesem Sci-Fi-Film eine direkte universelle Verbindung zum Rauschen im Radio.
Mir lief quasi das Wasser im Munde zusammen vor Aufregung. Ich weiß heute nicht mehr, warum ich alleine im Auto saß. Jedenfalls war meine Mutter bald zurück und ich hatte zwei Fragen an sie.
Erste Frage: „Erotik. Was ist Erotik?“
Zweite Frage: „Was ist das für ein Rauschen hier im Radio?“
Sie konnte mir nur eine Frage beantworten.
Das Sitzen im Mercedes und das Warten auf Planet Radio und die Antwort auf meine Frage, ist eine meiner intensivsten Erinnerungen an das Jahr 1997.
Wenige Tage später begann der Sender sein Programm aus einem Studio in Frankfurt-Rödelheim zu senden. Wir fuhren den ganzen Sommer mit dem blauen Mercedes durch die Gegend und hörten Planet. (Den Mercedesstern hatte natürlich schon jemand abgerissen, und als Ersatz klebte an seiner Stelle eine Snoopyfigur aus Gummi. Der Gummikopf war aber sinnvollerweise auch bereits weg: Im ausgehenden 20. Jahrhundert war Ironie nicht mehr erlaubt.)
Planet Radio spielte einen Mix aus US-amerikanischem R&B, europäischen Dance-Songs und Rap. 1997 war das perfekte Jahr für Mega-Hits, ABSOLUTE Mega-Hits. Hits, die so sehr Hits waren, dass das Hit-Potenzial auch 25 Jahre später noch nicht ausgeschöpft zu sein scheint: I’ll Be Missing You von Puff Daddy und Faith Evans, Men In Black von Will Smith, Everybody von den Backstreet Boys, Around the World von Daft Punk, Bitter Sweet Symphony von The Verve, Spice Up Your Life von den Spice Girls und Got ’Til It’s Gone von Janet Jackson. Alle Menschen, die 1997 zehn Jahre alt waren, müssen beim Anhören der größten 1997er-Hits heute sofort heulen, weil sie sich daran erinnern, dass damals alles, alles gut war. Und dass das nicht an der rückwirkenden Reinwaschung der Erinnerungen liegt, sondern daran, dass 1997 wirklich einfach mal fast nichts Böses passierte. Have you ever been down? I’m a Barbie girl!
1997 war das unschuldigste Jahr der gesamten Menschheitsgeschichte. Obwohl eine Prinzessin und der beste Rapper aller Zeiten ermordet wurden, war 1997 im Weltgeschichtsvergleich so gutelaunemäßig ruhig, dass es schon eine große Aufregung bedeutete, als Planet Radio mit dem Slogan „Eure Eltern werden kotzen“ warb. Und dass sich der Sender zum Markenzeichen machte, kurz vor dem Staubericht durchzusagen, auf welchen Linien in Hessen gerade Tickets kontrolliert wurden: „Schwarzfahrer aufgepasst! Heute kontrolliert die Kasseler Verkehrsgesellschaft auf der Straßenbahnlinie 5 – Königsplatz Richtung Holländische Straße.“
Ein paar Jahre später waren die Moderatorinnen und Moderatoren noch immer so beliebt, dass sie öffentlich in lokalen Fastfood-Restaurants oder auf Volksfesten in Flörsheim auftraten, aber das musste sich noch HERUMSPRECHEN. Und es sind damals, Anfang der 00er-Jahre, solch nervöse und noch anti-digitale Tage, dass sich die Jugend, die 1997 noch so unschuldig war, an diese Orte begibt: klassische Abende mit Smirnoff Ice, Bacardi Breezer, Zahnspangen, zu engen Miss Sixty Jeans, Haare aus der Kotze raushalten, getunten Scootern und unterdrückten Verstörungen vom Schulausflug ins Konzentrationslager. 1997 ist vergessen. So jung und doch schon verloren: Die Attentate von Columbine und Erfurt zerstörten alles, was sich die Jugend von Jugendkultur erhofft hatte, und es geschah das große Abwenden. Rückblickend ist für uns alle vermutlich kein Jahr so schön wie das Jahr 1997.
Im Sommer fuhr ich mit meinem Bruder und meiner Mutter im Mercedes an die Nordsee, und umso weiter wir die A5 hinauf fuhren, desto schwächer wurde das Signal von Planet Radio. Kurz bevor es in einem noch stärkeren Eisrauschen als im Frühling verschwand, sagte eine Moderatorin um Punkt 11 Uhr Vormittags laut: „Nichts los auf dem Planeten! Weiter mit Musik!“
Dass ich mich an solche Details des Jahres 1997 erinnern kann, und dass ich mich daran erinnern kann, dass dieses Jahr so friedliebend war, liegt nur daran, dass ich damals Radio hörte und in einem ewigen Loop, vor allem auf Planet Radio, die Hits des Jahres in mich aufnahm. Und weil ich heute kein Hit-Radio mehr höre, zweifle ich daran, ob ich mich in 26 Jahren noch an das Jahr 2023 erinnern werde. Denn es helfen nur die kollektiven Hit-Wunder des Radios, um sich mittels Sounds zu erinnern.
Also möchte ich im Jahr 2024 mit einer klugen Frau, die mit mir meditiert und sich in Kunstwerke versenkt, ein Kind bekommen. Dieses Kind soll außerirdische Signale empfangen und mit uns Hit-Radio hören. Dann werden wir im Jahr 2060, wenn die Florian Illiese damit beginnen, ihr Material über 1997 zusammenzutragen, alles ignorieren können und uns mit Liebe an das Jahr 2034 erinnern, das hoffentlich ein Jahr gewesen ist, in dem nichts Böses passierte.
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