How much is the fish?
Drei Sender
Enis Maci erzählt von drei Radiosendern zu drei unterschiedlichen Zeiten an drei unterschiedlichen Orten. Radio-Erinnerungen aus dem Vatikan, dem Ruhrgebiet und dem Dollart.
Von Enis Maci
1
1874 kommt Guglielmo Marconi zur Welt. Er schürzt seine Lippen auf der Suche nach Milch. Bologna liegt in Nebel.
Ein paar Straßen weiter putzen zwei Anarchisten ihre Gewehre. Im Sommer wollen sie zum Aufstand rufen. Am Ende wird einer von ihnen eingekerkert, und der andere flieht als Priester verkleidet über die Alpen.
1909 erhält Marconi den Nobelpreis für Physik, seiner Leistungen um die Funktelegrafie wegen.
1923 tritt er der Partito Nazionale Fascista bei. Acht Jahre später begründet er Radio Vaticana. Die Leitung des Senders obliegt den Jesuiten.
1988 hält ein Student seine Ohrmuschel an die Kiste. Er konzentriert sich. Obwohl die Stimme seine Sprache spricht, ist er ratlos. „Wer“, fragt er sich, „war noch mal der Heilige Geist?“ Er kann das nirgends nachschlagen.
Ich stelle mir einen schmalen Mönch vor. Dicht vor ihm der Ploppschutz. Er legt die Hände um die Kopfhörer wie im Do they know it’s Christmas?-Video. Die Ärmel seiner Kutte blähen sich zu Flügeln. Ein Rutenbündel aus Strahlen umgibt ihn. Er glüht.
Diese Strahlen überwinden Meere und Störsender. Sie entfalten ihre Wirkung auch dort, wo sie nicht sollen. Die Stimme des Mönchs knistert hinter geschlossenen Fenstern und sogar hinter geschlossenen Vorhängen, als könne ein Uneingeweihter sie sehen, wenn er nur fest genug hinschaute.
1993 komme ich zur Welt. Und lerne einen Satz: „Die Wände haben Ohren.“
2
Mein Schülerpraktikum verbringe ich in einer Anwaltskanzlei. Hier arbeitet August Vordemberge. Er hat einmal Hans-Jürgen Rösner verteidigt, einen der Geiselnehmer von Gladbeck. Die Kanzlei befindet sich im Hochhaus neben KiK.
Am ersten Tag bestellt Vordemberge mich zu sich. Die Schreibtischkante schneidet in seinen Bauch, über dem sich ein grüner Zweireiher spannt. Ich stelle mir vor, dass er ihn bei diesem Herrenausstatter im Hauptbahnhof gekauft hat, früher, vor der Sanierung und der WM, vor meiner Geburt bestimmt. Das Wort „Herrenausstatter“ kenne ich aus dem Schaufenster dieses Ladens.
Vordemberge zeigt mir sein Diktiergerät, dessen Kassetten die Sekretärinnen stündlich abholen, um den Inhalt niederzuschreiben. Er erklärt mir die Sache mit dem Rechtsstaat, und dass auch üble Leute ein Recht auf Verteidigung haben. Dann darf ich gehen.
Ich komme mir damals sehr erwachsen vor. Zwei Wochen lang esse ich im Café Extrablatt zu Mittag. Der kleine Salat mit Pizzabrötchen kostet 2,95 Euro. Am Ende der zweiten Woche muss ich mit Kupfergeld bezahlen.
In der Kanzlei wird überall geraucht, außer im Empfangszimmer, weil die Rezeptionistin schwanger ist. Ich aber sitze bei den Akten, mit Lars, dem unglücklichen Bürokaufmann, der seinen Kolleginnen die höheren Gehälter und das Tageslicht neidet. Ich hefte und klebe. Aus irgendeinem Grund hat Lars mir die Macht über das Radio gegeben, und so hören wir BFBS, den britischen Truppensender. Nachmittags werden Briefe der im Ausland stationierten Soldaten in die Heimat vorgelesen.
Am vierten Tag fragt Britta, die Chefsekretärin, mich, warum wir Militärradio hören. Es ist eine Hausaufgabe. Sie fragt nach dem Namen des Lehrers. Ich nenne ihn, und sie erzählt mir eine Geschichte.
In einem anderen Leben, als Referendar, hatte mein Lehrer ein Verhältnis mit einer Klassenkameradin Brittas. Man sah die beiden in der Stadt oder an der Bushaltestelle, und in der Schule benahmen sie sich komisch. Als das Mädchen volljährig wurde, musste die ganze Stufe den Mann auf Vorabifeten und Schrebergartenparties ertragen. „Ok“, sagt Britta, „die sind bis heute verheiratet.“ Sie überreicht mir den verlangten Stapel Zeitungsartikel zur Geiselnahme. „Aber irgendwie find ich’s trotzdem nicht ok.“
Jahre später sehe ich Rösler auf Freigang, in der Bild-Zeitung. Ich stelle mir vor, wie ein Teleobjektiv aus dem Gebüsch ragt. Der Kriminelle sitzt auf einer Parkbank und isst ein Twix. „Twix“, informiert mich die Bildunterschrift, „hieß noch Raider, als Rösler in Freiheit war.“
3
Als ich den Wagen langsam auf die Fähre rolle, klebt der Himmel in meinem Nacken wie die feuchte Hand eines Ladendetektivs.
Es ist Karsamstag. Gestern erst habe ich orange gebräunte Mädchen mit glitzernden Schlüsselbeinen dabei beobachtet, wie sie ihre Oberteile an den Achseln hochzogen, Margaritas in sich hineinschütteten, stolperten. Die ersten wirklich freien Tage seit Neujahr.
Es ist, als würde die Fähre schwanken, der Wagen aber nicht. Er hat eine lange Antenne. Wie der verbliebene Fühler eines verletzten Tiers, denke ich.
In Dünkirchen gelangen wir wieder auf den Kontinent. Es ist die Zeit der Terroranschläge, der mit Macheten geköpften Dorfpriester und so weiter, also weigere ich mich, vor Holland Halt zu machen. Wir drehen das Radio auf, und HP Baxxter spricht zu uns. Er wird am Abend im Antwerpener Sportpaleis auftreten, beim großen Back to the 90s and Nillies-Konzert. Geduldig beantwortet er die Fragen des Moderators, die im Wesentlichen seine Gewohnheiten betreffen, Frühstücksvorlieben, Rituale.
Ich stelle mir HP vor, wie er seine Füße in den Dollart hält, da, wo die Ems ins Wattenmeer mündet. Mitten durch die Bucht verläuft eine Grenze. Hier brach einmal das Meer über das Moor ein. Unter dem Wasser liegen Dörfer, Klöster und Kirchen. Ganz unten liegt Torf.
Ich stelle mir vor, wie der Dollart brennt.
Wie HP einen Heringshappen isst, in seinem Hotel auf der alten Warft. Vor seinem Fenster träge Schiffe. Mit Waffen beladen erreichten sie einmal den Kongo, und kehrten voll anderer Dinge zurück.
Erst als der Mittelstreifen unter mir vibriert, fang ich mich wieder. Vor mir flaches Grün und Fenster ohne Gardinen. Der Himmel erdrückt mich – jeder Ladendiebstahl wird zur Anzeige gebracht –, und der Moderator fragt HP, ob er einen Song habe, der besonders gut zu Belgien passt, und HP versteht die Frage nicht, und der Moderator sagt: „What about ‚How much is the fish‘?“ Und HP sagt: „It’s always good to have a hit like ‚How much is the fish‘.“