2003│89 min
Was nützt die Liebe in Gedanken

Von Wieland Speck

 

Was nützt die Liebe in Gedanken

Regie: Achim von Borries | Deutschland 2003 | 89 Minuten | Farbe
Sprachen: Deutsch mit englischen Untertiteln
Filmverleih: X Verleih 
Bezugsquelle: Goethe-Institut

Der filmische Bogen beginnt mit einem deutschen Filmprogramm um die Wende zum 20. Jahrhundert, als die homosexuelle Befreiungsbewegung von Deutschland aus zum ersten Mal Fahrt aufnahm. „Der Einstein des Sex“ von Rosa von Praunheim ist dem Vater der weltweit ersten Schwulenbewegung gewidmet, Dr. Magnus Hirschfeld, dem Begründer der Sexualwissenschaft im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Besetzt mit deutschen Stars (unter anderen Otto Sander, Ben und Meret Becker) und aktivistischen Polit-Tunten der Berliner 1980er-Jahre führt uns der biografische Film mitten in den Beginn der europäischen Moderne.

Was diese Bewegung zuvorderst nötig machte, war die preußische Gesetzgebung, die seit Reichsgründung 1871 in ganz Deutschland homosexuelle Männer kriminalisierte. In „Paragraph 175“ machen die beiden US-amerikanischen, zweifachen Oscargewinner Robert Epstein und Jeffrey Friedman die unheilvolle Geschichte dieses Gesetzes auch durch die Nazizeit erfahrbar. Der Film ist bis heute die umfassendste Dokumentation zu diesem deutschen Thema und gewann im Jahr 2000 Preise auf den Festivals von Sundance (Beste Regie) und Berlin (Fipresci und Teddy Award).

Hier soll auch der erste schwule Film der Filmgeschichte Erwähnung finden: „Anders als die Andern“ von Richard Oswald 1919, in dem die fatale Auswirkung des Paragraphen thematisiert wird. Co-Autor des Films war Magnus Hirschfeld, der auch im Film auftritt. (Nicht zu verwechseln mit dem zweideutig-finsteren Film ähnlichen Titels des Regisseurs von Jud Süß Veit Harlan von 1957.)

Für Lesben und Trans*-Personen sah (und sieht) die Welt anders aus: Jede nicht-heterokonforme Minderheit macht ihre spezifischen Erfahrungen mit Coming-Out und Diskriminierung. Ein Meilenstein war 1931 Leontine Sagans Mädchen in Uniform nach dem Buch von Christa Winsloe. Die Liebe zwischen Frauen, vermengt mit Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnissen, ergab eine explosive Mischung, die die Gesellschaft nicht nur damals stark beschäftigte: Der Film erfuhr mehrere Remakes, 1950 in Mexiko und 1958 in West-Deutschland. Noch nachhaltiger war die Trans*-Geschichte Viktor und Viktoria (Reinhold Schünzel, 1933): Die Remakes reichen bis heute und gewinnen der zugrunde liegenden Travestie teils mehr teils weniger emanzipatorische Seiten ab.

Dem die Welt inspirierenden Gefühl der Berliner 20er-Jahre auf kinematografisch stilsichere und einfühlsame Weise gibt Achim von Borries Raum in WAS NÜTZT DIE LIEBE IN GEDANKEN. Ein Kammerspiel zwischen drei Jugendlichen der Oberklasse und einem jungen Koch geht auf jugendrelevante Themen ein wie Sexualitäten in der Findungsphase, existentialistische Fragen und Todessehnsucht. Dieser Film wendet sich an Kinogänger*innen aller Altersgruppen und gibt die kulturelle Aufbruchszeit, aber auch gesellschaftliche Verwerfungen wie das Ende der imperialen Klassengesellschaft wieder: die starke Besetzung mit jungen Stars (Daniel Brühl, August Diehl, Anna Maria Mühe, Jana Pallaske, Thure Lindhardt) tut ein Übriges, Interesse sowohl an queeren Themen als auch an deutschem Kino zu wecken. Von Borries ist Co-Creator der aktuellen Erfolgsserie Babylon Berlin.
Wieland Speck zeichnet mit seinen Filmempfehlungen (in VERSALIEN) zentrale Themen der gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland nach. Die Empfehlungen werden begleitet von ergänzenden Vorschlägen (in „Anführungszeichen“).

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