Je me souviens
Die Umbenennung der Vergangenheit

Shaping the past / Renaming the past
Photo (detail): © Monik Richter

Die Namen von Straßen, Plätzen und anderen Orten verraten eine Menge darüber, auf welche Weise eine Stadt und ihre Führungspersönlichkeiten in die Geschichte eingehen möchten. In dem Maße, wie sich die Perspektiven auf das Erbe der Stadt verändern und vielfältiger werden, werden die bürokratischen und kontextuellen Herausforderungen einer Korrektur der Fehler der Vergangenheit deutlich.

Von Christopher Curtis

Es ist hilfreich, sich die Sprache der Mohawk als etwas Lebendiges vorzustellen.

Da sie einer mündlichen Tradition entstammt, lässt sie sich nur schwer auf Buchstaben auf einer Seite beschränken. Ein einziges Wort kann eine Person, eine Handlung und einen Ort miteinander verweben.
Etwas so Einfaches wie Kenien:kéha – „Sprache des Feuerstein-Volkes“ – besteht aus drei individuellen Elementen, die verschmelzen, um ein Wort zu bilden. Wenn etwas so Lebendiges sich nur schwer auf Papier festhalten lässt, kann man sich daher vorstellen, um wieviel schwieriger es sein muss, es auf ein Straßenschild zu kriegen.

Hommage an Montreals Indigene Wurzeln

Dies war womöglich eine der größten Hürden, die es für Akwiratékha Martin und Hilda Nicholas zu überwinden galt, als sie 2018 versuchten, sich einen Namen einfallen zu lassen, der die berüchtigte rue Amherst in der Innenstadt von Montreal ersetzen sollte.

„Sie wollten, dass wir sie „Drei Schwestern“ nennen (der Name der Mohawk für die Hauptnutzpflanzen Mais, Bohnen und Kürbis), aber das war zu lang“, erklärt Martin, der Mohawk-Sprachlehrer im Kahnawake-Territorium südlich von Montreal ist. 

„Ich meinte nur: ‚Nein, das sprengt das Schild und geht einmal um den Block, so lang ist das.‘ Áhsen nikontate´kèn:`a. Können Sie sich vorstellen, das einem Taxifahrer zu sagen?“

Zusammen mit der Versöhnungsbeauftragten der Stadt mühten sie sich weiter ab, damit die Straße, die nach einem umstrittenen britischen General benannt war, endlich zu etwas werden konnte, das Montreals Indigenen Wurzeln Tribut zollt.

Was Straßennamen angeht, standen die Einwohner*innen von Montreal Änderungen nicht immer positiv gegenüber. 

Die Entscheidung von Bürgermeister Jean Doré im Jahr 1987, den Dorchester Boulevard nach dem damals kürzlich verstorbenen René Levesque zu benennen – einem der Männer, die das moderne Quebec prägten –, entfachte bei der anglophonen Minderheit der Stadt heftigen Widerstand.

„Doré hat ohne guten Grund eine vollkommen unnötige Sprachkrise ausgelöst“, erklärte Stadtrat Nick Auf der Maur unter Hinweis darauf, dass Dorchester, ein britischer Gouverneur Neufrankreichs, von Montreals zweisprachigem Erbe zeuge. Der Name wurde trotzdem geändert. Heute erstreckt sich der René Levesque Boulevard von der Ostseite der Jacques-Cartier-Brücke durch die Innenstadt und dann weiter bis zur Stadt Westmount, wo er nach wie vor den Namen Dorchester trägt.

Als Bürgermeister Gerald Tremblay 2006 versuchte, die Parc Avenue zu Ehren des ehemaligen liberalen Premierministers Robert Bourassa umzubenennen, zwang ihn der Gegenwind von Händler*innen und Anwohner*innen dazu, den Plan komplett aufzugeben.

Es brauchte weitere acht Jahre, drei Bürgermeister und einen typisch Montrealer Kompromiss, bis Bourassas Name endlich ein Straßenschild in der Innenstadt zierte. Um das zuwege zu bringen, musste Bürgermeister Denis Coderre eine Straße zweiteilen. Der untere Teil trägt Bourassas Namen, während der Abschnitt um die McGill University seinen alten Namen beibehielt: University Street.
  • Atateken © Monik Richter

    Grünes Licht für die rue Atateken

  • Atateken © Monik Richter

    Die rue Atateken in Montreal zwischen „Gay Village“ und Parc Lafontaine, einem großen Park im Stadtteil Plateau Mont-Royal

 

Teil einer wesentlich breiteren Bewegung

Als Coderres Regierung 2017 den Startschuss für die Umbenennung der Amherst Street gab, gab es keine solchen Kontroversen. 

Zwei Jahre zuvor hatte Justin Trudeaus Liberale Partei bei landesweiten Wahlen eine überwältigende Mehrheit gewonnen und versprochen, Kanadas Beziehungen mit den First Nations zu verbessern. Die neue Regierung leitete eine öffentliche Untersuchung zur hohen Zahl verschwundener und ermordeter indigener Frauen in Kanada ein und Quebec führte eine eigene parlamentarische Untersuchung zu anti-indigenem Rassismus in Regierungsinstitutionen durch.

Als indigene Gruppen daher die Frage der Umbenennung der Straße in der Innenstadt aufbrachten, war dies Teil einer wesentlich breiteren Bewegung.

„General Jeffery Amherst wurde zu einem Symbol für den Kolonialismus“, erklärt Elizabeth Elbourne, die an der McGill University englische Geschichte lehrt. „Er hatte stark anti-indigene Ansichten. Bekanntlich gab er während des Pontiac-Krieges einem indigenen Lager mit Pocken infizierte Decken. Wenn das erst einmal zum Symbol für Amherst geworden ist, lässt sich die Beibehaltung des Namens nicht mehr rechtfertigen.“

„Versöhnung und General Amherst gleichzeitig geht nicht“

Es war die Rechtsanwältin Marie-Eve Bordeleau aus dem Volk der Cree, die mit der Durchführung der Namensänderung betraut wurde. Der Bürgermeister ernannte Bordeleau zu Montreals Versöhnungsbeauftragter, der Person, die die Stadt zu einem Ort machen sollte, der bessere Beziehungen zwischen Siedler*innen und der indigenen Bevölkerung fördert.

„Versöhnung und General Amherst gleichzeitig geht nicht, die beiden passen einfach nicht zusammen“, erklärt Bordeleau. „Aber was sollte ihn ersetzen? Es bestanden nie wirklich Zweifel daran, dass der neue Name auf Mohawk sein musste. Montreal liegt auf dem nie abgetretenen Territorium der Irokes*innen und so schien es nur recht und billig, dass der neue Name auf Mohawk sein würde. Also stellten wir ein Team aus indigenen Personen aus ganz Quebec zusammen, aber die tatsächliche Formulierung des neuen Namens musste von den Mohawk-Sprecher*innen kommen.“

„Das war wahrscheinlich der einfachste Teil des ganzen Vorgangs, denn wie sich herausstellt, ist das Umbenennen einer Straße ein kolossales Unterfangen.“

Montreal hat streng genommen keine Zuständigkeit für die Benennung seiner eigenen Straßen. Diese Entscheidung muss von einem Provinzkomitee genehmigt werden, das Faktoren wie die Länge des Straßennamens, die Übereinstimmung mit Quebecs Sprachgesetzen und eine Reihe anderer „sehr strenger“ Kriterien auswertet, wie Bordeleau erklärt.

„Der Name darf aus Sicherheitsgründen nicht zu lang oder zu kompliziert sein. Wenn jemand zum Beispiel die Polizei ruft, muss er oder sie den Namen schnell sagen können“, erklärt sie.  Bei einer Sitzung des Namenskomitees im Jahr 2018 klinkten sich Martin und Nicholas zwischendurch aus und begannen, auf Mohawk miteinander zu sprechen.

„Es gibt da einen Ausdruck, ‚alle meine Verwandten‘ – tewatatè:ken –, das heißt so viel wie ‚zusammen sind wir Brüder und Schwestern‘. Wir kürzten es ab, sodass es kein Pronomen enthält, es also weder Männer noch Frauen sind: Atateken. Das klang gut.“

Der neue Name wurde an einem sonnigen Junimorgen im Jahr 2019 enthüllt – um genau zu sein, dem Tag der Indigenen Völker. In einer Zeremonie, in der führende Persönlichkeiten der nahegelegenen Mohawk-Territorien Kahnawake und Kanesatake vor der Menge sprachen, erklärte Chief Serge Simon, Atateken Street signalisiere eine „Veränderung der Mentalität“, sie zeige, dass Montreal sich mit einem fehlenden Stück seiner Geschichte auseinandersetze.

Für Martin war das Erlebnis nicht ganz so tiefgreifend.

„Ein paar Monate, nachdem die Schilder geändert worden waren, fuhr ich vorbei und hatte beinahe vergessen, dass es sie gab“, sagte er. „Ich fand es bewegend. Ich dachte: ‚Ich habe einen kleinen Teil dazu beigetragen.‘ Wegen der Ältesten meines Volkes ist ein Teil von uns auf diesem Schild. Es war mir eine Ehre, daran beteiligt gewesen zu sein.“
 

Erklärung der Stadt Montreal

Affiche à la rue Atateken
Straßenschild an der reu Atateken | © Monik Richter
Von der rue Amherst zur rue Atateken
 
Am 20. August 2019 ersetzte der Stadtrat von Montreal auf Anraten des Autochtonen-Toponymik-Ausschusses, der im Zusammenhang mit dem Projekt Montreal, Metropole der Versöhnung (Montréal, métropole de réconciliation), eingesetzt worden war, den Namen der rue Amherst durch einen neuen Namen aus der Sprache der Kanien'keha (Mohawk): „Atateken Street“.
 
Mehr als 200 Jahre lang war der Name von General Jeffrey Amherst (1717-1797), Oberbefehlshaber der britischen Armeen für Nordamerika von 1758 bis 1763 und Kolonialverwalter, mit dieser Straße verbunden. Er war es, der am 8. September 1760 im Namen der englischen Behörden die Kapitulation Montreals akzeptierte. In den letzten Jahren wurde sein Ansehen im Zusammenhang mit dem Krieg von 1754-1763 getrübt, insbesondere durch seine extrem herablassenden Äußerungen gegenüber den First Nations und durch seinen Wunsch, diese auszurotten.
 
Obwohl der Name rue Amherst endgültig aus der Toponymik von Montreal gestrichen wurde, wurde beschlossen, den Namen rue Amherst Square beizubehalten, um diese dunkle Episode unserer Geschichte im Gedächtnis der Stadt zu bewahren. Der Name der rue Square-Amherst zeugt von der Präsenz des ehemaligen Amherst-Square (Platz), der mit der Erweiterung des Saint-Jacques-Markts in den 1930er Jahren verschwand.
 
Symbol des Friedens und der Brüderlichkeit
 
„Atateken“ bedeutet „Brüder und Schwestern“ und trägt den Begriff der Beziehungen und der Gleichheit zwischen den Menschen mit sich. Die rue Atateken, die den Fluss und den La Fontaine Park durch das Montrealer Schwulenviertel hindurch verbindet, ist ein Symbol für das, was uns verbindet.
 
Montreal, 21. Oktober 2019

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