Die Jägerin
„Aus dem Nichts“ von Fatih Akin zeigt den Rachefeldzug einer Frau, die Mann und Kind bei einem Attentat von Neonazis verloren hat. Der Film nimmt sich viel vor. Zu viel?
NSU – die Abkürzung steht für Nationalsozialistischer Untergrund. Das Terrornetzwerk ist verantwortlich für eine beispiellose Mordserie in der jüngsten Geschichte der Bundesrepublik. Fatih Akin, Hamburger Drehbuchautor und Regisseur und bekannt für Filme wie Gegen die Wand (2004) und Soul Kitchen (2009), hat in Aus dem Nichts den Umgang mit den NSU-Morden und den Hinterbliebenen verarbeitet. Das Werk wurde im Januar 2018 gleich zweimal in den USA als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet – bei den Golden Globe Awards und den Critics’ Choice Movie Awards.
Der Tag, an dem sich alles ändert
Die Story: Katja und Nuri Şekerci leben in Hamburg, sind verheiratet und haben einen fünfjährigen Sohn namens Rocco. Nuri, einst Drogenhändler, studiert im Gefängnis BWL und eröffnet nach seiner Entlassung ein Übersetzer- und Steuerbüro. Eines Tages ändert sich alles: Katja bringt Rocco zu seinem Vater, um mit einer Freundin in ein türkisches Bad zu gehen. Auf dem Rückweg sieht sie, dass ein Teil der Straße, in dem Nuris Geschäft liegt, abgesperrt ist: Die Polizei teilt ihr mit, dass ein Mann und ein Junge durch eine Nagelbombe ums Leben gekommen seien.
Schnell gehen die Überlegungen der Polizei in Richtung Organisierte Kriminalität. Oder hat der Mord politische Gründe? Katja zieht sich zurück, betäubt sich mit Drogen, schneidet sich die Pulsadern auf. Da meldet sich ihr Anwalt: Die Polizei hat zwei Neonazis festgenommen – ein junges Ehepaar. Katja fühlt sich in ihrer Vermutung bestätigt. Kurz nachdem sie ihren Sohn bei Nuri zurückgelassen hatte, hatte sie vor seinem Geschäft eine Frau gesehen, die sich von ihrem neuen Fahrrad entfernte, ohne es abschließen, wozu Katja ihr aber geraten hatte.
Was folgt, ist der Prozess gegen Edda und André Möller. Auch wenn Katjas Anwalt überzeugt ist, dass beide verurteilt werden, geschieht das Gegenteil und das Neonaziduo kommt aus Mangel an Beweisen frei. Katja kann das nicht akzeptieren und geht auf die Suche nach dem Paar, um Rache zu nehmen.
Wichtiger Beitrag zur Diskussion über Rechtsextremismus
Aus dem Nichts von Fatih Akin hat sich viel vorgenommen: Der Film ist Drama, Gerichtsfilm und Thriller in einem – auch erkennbar an seiner dreiteiligen Struktur. Auf einen Prolog, der die Hochzeit von Katja und Nuri in einem Gefängnis zeigt, folgen drei einzelne Abschnitte.
Der Film konzentriert ganz auf die Figur der Katja, dargestellt von Diane Kruger, die hier zum ersten Mal überhaupt in einem deutschsprachigen Film mitspielt. Durch die Fokussierung auf Katja bleiben andere Figuren bewusst blass – auch Ulrich Tukur, der im Gerichtsprozess den Vater von André Möller spielt. In besonderer Erinnerung jedoch bleibt der Anwalt des Neonazis, gespielt von Johannes Kirch, der viel lebendiger und bösartiger wirkt als sein Mandant.
Durch Akins Wahl, seinen Film in drei Abschnitte zu unterteilen, wirkt der Inhalt jedoch gedrängt. Einiges kann nur angerissen werden. Andererseits werden bestimmte Stimmungen bei Katja überbetont, etwa wenn es nach dem Tod ihrer Familie ständig regnet. Im zweiten, vor allem dann aber im dritten Teil gelingt es Kruger, die Zuschauer stärker zu fesseln – mit ihrer körperlichen Präsenz. Man sieht eine Frau, dünn, zäh, rauchend, deren Verzweiflung sich in Wut verwandelt. Für diese Intensität ist die Kamera mit verantwortlich, die den Fokus derart auf Katja legt, dass man den Eindruck gewinnt, selbst neben ihr zu stehen und ihre Anspannung auf der Jagd nach den Neonazis zu spüren.
Mit Aus dem Nichts hat Fatih Akin einen Film geschaffen, der einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über den NSU, Rechtsextremismus und den Umgang mit Fremden in der Bundesrepublik darstellt – wichtig auch deshalb, weil er die Perspektive von Hinterbliebenen einnimmt. Der Film bewertet jedoch nicht und überlässt es dem Zuschauer, sich mit Katjas Rachefeldzug und dem Thema Selbstjustiz auseinanderzusetzen.
In einer Reihe mit US-Produktionen
Wenn die Academy am 23. Januar die Oscar-Nominierungen bekannt gibt, gilt Akins Aus dem Nichts als aussichtsreicher Kandidat. Gut möglich, dass der Film daher 2018 auch den Oscar als bester fremdsprachiger Film bekommt. Zwei Punkte sprächen dafür. Erstens: Rechte Gewalt ist auch in den USA ein Thema – und dass nicht erst seit dem Amtsantritt von Donald J. Trump als US-Präsident. Und zweitens: Selbstjustiz, das Missachten von Gesetzen und Konventionen, ist ein gängiges Sujet in vielen US-Produktionen - seien es noch so unterschiedliche Filme wie Rambo (1982) mit Sylvester Stallone oder Django unchained (2012) mit Jamie Foxx. Letzterer gewann übrigens zwei Oscars, für das beste Drehbuch und für den besten Nebendarsteller.
Geboren 1981 in Urmia, Iran. Promovierter Germanist, freier Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Mehr Informationen unter behrangsamsami.com