Pantomime auf Absätzen
Seit mehr als 30 Jahren gibt es die Berliner „Etage“
Keine der fünf Frauen auf der Bühne spricht. Trotzdem versteht jeder im Publikum, worum es in dem Stück „Flotte Flagge“ geht. Die fünf jungen Künstlerinnen studieren im 6. Semester Pantomime an der Prager Akademie der Künste (AMU). Ihrer Eigenproduktion „Flotte Flagge“ haben sie den treffenden Untertitel „Pantomime auf Absätzen“ gegeben.
Auf hohen Absätzen tanzen, stolzieren und stolpern die fünf Tänzerinnen aus Prag gekonnt über die Bühne des Berliner Hauses „Die Etage“. Inspiriert von John Steinbecks Roman „Die Straße der Ölsardinen“, schildern die jungen Künstlerinnen das Leben von vier Prostituierten und ihrer Zuhälterin. Für den Regisseur und Lehrer Radim Vizváry ist das Gast- fast schon ein Heimspiel: Mehrere Semester hat er hier unterrichtet.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1981 hat sich „Die Etage“ zu einer der wichtigsten Adressen für die Pantomime-Kunst in Europa entwickelt. Hier kann man sich auch zum Artisten, Schauspieler oder Tänzer ausbilden lassen. Ihren Namen hat die „Etage“ von ihrer Lage: Im dritten Stock eines alten Kreuzberger Fabrikgeländes herrscht regelmäßig Hochbetrieb.
Internationale Vernetzung
Nicht anders ist es an diesem Freitagabend. Während das Gastensemble aus Prag Generalprobe hat, laufen junge Balletttänzerinnen über die Flure, Schauspielstudenten verabschieden sich von ihren Lehrern und die ersten Theatergäste gönnen sich ein Glas Wein im hauseigenen Café.
Die Kunstschule ist gleichermaßen ein Kulturzentrum, das viel Wert auf internationale Kooperationen legt. Von ungefähr kommt das nicht: Ihr Leiter und Gründer, Nils-Zdenĕk Kühn, pflegt die besten Kontakte ins Ausland. Der gebürtige Mähre hat am Prager Konservatorium Tanz studiert, lernte dann die Kunst der Pantomime, bevor er für mehrere Jahre in die USA ging. Eine Stelle an der Deutschen Oper verschlug ihn in den siebziger Jahren nach Berlin.
„Pantomime ist eine filigrane Kunst“
„Damals gab es in Deutschland kaum Orte, an denen Pantomime gezeigt oder gelehrt wurde“, sagt Kühn. Ganz anders in seinem Heimatland: Ähnlich wie in Frankreich hat Pantomime im tschechischen, besonders im „Schwarzen“, Theater eine große Tradition. „Merkwürdig“ finde er, dass „Pantomime zwar keine Sache der deutschen Seele ist, dass aber fast alle großen Pantomime-Künstler in Deutschland groß geworden sind.“ Dass ausgerechnet hier nach wie vor viele Menschen ausschließlich an Clowns und die Darstellung von Tollpatschigkeit denken, wenn sie das Wort „Pantomime“ hören, ärgert Kühn. „Es ist eine filigrane Kunst, das Humoreske ist nur eine Facette von vielen“, charakterisiert er die Disziplin, die eben auch dramatisch sein könne.
„Nonverbales Theater muss verständlich sein“
Kaum ein zeitgenössischer Regisseur kennt die tragischen Elemente, die sich pantomimisch darstellen lassen, so gut wie Radim Vizváry. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit dem Thema; in seinen Choreographien vereinen sich Witz und Tragik. „Die eigentliche Kunst besteht darin, Komplexes einfach darzustellen, das heißt, das Essentielle herauszufiltern und durch Mimik und Gestik zu vereinfachen. Noch mehr als für verbales Theater gilt für das nonverbale, dass es für den Zuschauer verständlich sein muss.“
Der Spaß muss dabei natürlich nicht verloren gehen. Bei der Aufführung der „Flotten Flagge“ findet nicht nur auf der Bühne fast jeder mögliche Gefühlsausbruch statt. So still die Schauspielerinnen mimen und gestikulieren, so laut wird im Publikum gelacht, sich erschrocken und applaudiert.
Auch im Zuschauerraum bekommt man nach dieser Vorstellung eine Ahnung davon, was Kühn meint, wenn er die Tänzerin Mary Wigman zitiert: „Pantomime ist ein Schritt zum Tanz, ein Schritt zum Schauspiel, in beide Gebiete gleichermaßen eingreifend, von ihnen empfangen und sie befruchtend, trotzdem eine selbstständige Theatersparte, die nicht an Wort und Ton gebunden ist und die sich an den menschlichen Körper und den Geiste richtet.“