Mit dem Dorftheater zurück zu den Wurzeln
Der Theaterregisseur Vítězslav Větrovec hat den Zauber der Wanderbühne, des Straßen- und des dörflichen Volkstheaters für sich entdeckt. Er verliebte sich in das Dorf Velká Lhota, wo er mit seiner Theaterarbeit volkstümliche Traditionen wieder zum Leben erweckt. Das Theater ist für ihn der Weg, seinen Platz in der Welt zu finden.
Was verbindet Sie mit dem dörflichen Volkstheater und wie kamen sie damit in Kontakt?
Ich studiere Theaterregie an der JAMU (Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst Brno / Brünn). Seit dem ersten Jahrgang habe ich mit meinen Kommilitonen regelmäßig ein Kabarett mit dem Namen Triptychon aufgeführt. Die Vorstellungen fanden immer in der Bar Skleněná louka statt, dem sogenannten „Fass“. In dieser Spelunke haben wir nur dreißig Zentimeter vom Zuschauer entfernt gespielt und die sehr lebendigen Reaktionen hautnah miterlebt. Einmal ist sogar ein Bierglas auf der Bühne gelandet. Und dieses unbekümmerte und offene Publikum ist ein Teil dessen, was mich bis heute am Straßen- und Volkstheater so fasziniert und anzieht. Außerdem ist es diese gewisse Grobheit, die einfach dazu gehört. Tiefgründe Gedanken kann man in populärer Form fast allen vermitteln. Das Volkstheater arbeitet mit der Stilform der extremen Übertreibung und des Grotesken – das Hohe wird erniedrigt und das Niedere emporgehoben. Und vielleicht gelingt es ihm gerade wegen der Metaphorik und Zeichenhaftigkeit, über alles Mögliche zu sprechen.
Mir gefallen auch die sozialen Schnittpunkte, die durch das Theater entstehen: Es kann Leute zusammenbringen, ja zusammenzwingen, die sich unter anderen Umständen nie kennenlernen würden. Ich mag es, wenn das Theater in den Menschen einen Abdruck hinterlässt, wenn da „etwas Reales“ entsteht und sich etwas verändert. Aber all das bekommt man auch im offiziellen Theater. Vielleicht bin ich einfach nur gerne an der frischen Luft.
Sie waren 2014 im Rahmen des Projekts KočéBRování in kurdischen Dörfern in der Türkei oder vergangenes Jahr in Marokko unterwegs. Haben Sie da versucht, den Zuschauern mittels unserer volkstümlichen Traditionen einen Einblick ins unsere Gebräuche und Kultur zu geben?
Das nicht. Wir haben uns eher für die Problematik einer universellen Theatersprache interessiert, es ging also um die grundlegenden Prinzipien des Theaters. Cykly, die Inszenierung, die wir auf der Tour durch die Türkei aufgeführt haben, erzählte die Geschichte eines ganz gewöhnlichen menschlichen Lebens. Volkstümliche Traditionen sind an sich universal, und das durch sie inspirierte Theater hat die Fähigkeit, Menschen verschiedener Kulturen zu vereinen. Denn da wird etwas gezeigt, was uns alle verbindet. Im Mittelpunkt steht immer der Ablauf eines Jahres, der sich überall auf der Welt ähnelt, oder es geht um irgendeinen entscheidenden Zeitpunkt im Leben, zum Beispiel Hochzeit, Taufe oder Beerdigung, oder den Moment, wenn ein Mensch sich bewusst wird, dass es so etwas wie den Tod gibt. Indem wir die Geschichte von der Geburt bis zum Tod in der Form von volkstümlichen Traditionen erzählt haben, wollten wir das gegenseitige Verständnis von uns allen ermöglichen. Und das von uns in Marokko inszenierte Tausend und eine Nacht war eine Folge einzelner Geschichten aus der gleichnamigen Sammlung von Volksmärchen- und erzählungen.
Welches sind die Grundprinzipien des Theaters, das Sie machen?
Kommunikation, eine bewusst geführte Aufmerksamkeit des Zuschauers, Expressivität – vor Allem im Sinne von Ausdruck und Ausdrucksfähigkeit, nicht Eindrücklichkeit. Auch der Rhythmus und nicht zuletzt „die Behauptung des eigenen Spielfeldes“ gehören dazu. Auf unseren Reisen im Ausland wird uns und den Schauspielern gleichermaßen klar, dass wir die zuhause als selbstverständlich wahrgenommenen Konventionen in dem fremden Umfeld nicht nutzen können. Da wissen die Zuschauer nicht, wann sie klatschen sollen, dass sie nicht zu uns auf die Bühne kommen sollen, oder dass es mehrere Szenen gleichzeitig nebeneinander geben kann. Umso unmittelbarer aber ist ihre Reaktion, und Sie müssen sie dann durch Ihre bloße Anwesenheit auf der Bühne fesseln. Unsere Aufführungen würden dem durchschnittlichen Zuschauer nicht gefallen, es geht mehr um die Reise zu den Wurzeln, zum Wesen der theatralischen Kommunikation zwischen dem Schauspieler und den Zuschauern, wenn sie aufeinander treffen. Der Ausdruck „Zusammentreffen“ beschreibt unser Theater wohl am besten.
2008 sind Sie zum ersten Mal mit Ihren Kollegen von der JAMU nach Velká Lhota gekommen und kehren bis heute immer wieder dorthin zurück. Womit beschäftigen Sie sich dort?
Man kann sagen, dass wir versuchen, über die Verbindung der Menschen mit der Landschaft, in der sie leben, zu sprechen. Im ersten Jahr haben wir zusammen mit Professor Kovalčuk und dem ortsansässigen Ehepaar Čudlý, den Gründern des Gesangsvereins Festivia Chorus in Lhota, eine traditionelle Trauungszeremonie rekonstruiert wie sie von dem Professoren, Musikwissenschaftler und Folkloristen Robert Smetana beschrieben wurde. Dieser hatte dort in den 1930er Jahren Lieder zusammengetragen, in denen unter anderem Gesänge aus der Frührenaissance erhalten geblieben sind.
In einer weiteren Phase versuchten wir nach einem Gespräch mit den Bewohnern von Velká Lhota mit immer noch lebendigen Themen zu arbeiten und sie dann darzustellen. Wir holten František Macků, einen gewissen „ortsbekannten Irren“, „aus dem Jenseits“ auf die Bühne. Er war in der ganzen Region und praktisch mit allen im Ort bekannt. Er fungierte sozusagen als Bindeglied des gesamten Dorfes. Wir haben außerdem die Geschichte der hiesigen Schule und über das Schicksal des Lehrers František Havlík erzählt. Dieser hatte auf den Tag genau 30 Jahre lang in Velká Lhota unterrichtet, von 1957 bis 1987.
In dem Dorf leben viele Alteingesessene. Ein Herr sagte mir, er habe seine Herkunft wohl bis in die Mitte des 14.Jahrhunderts zurückverfolgen können. Aber auch die Jungen kommen wieder dorthin zurück. Ich glaube es ist richtig, ihnen ihre Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen und ihnen zu zeigen, wo sie leben und wer sie eigentlich sind.
Was für Auswirkungen haben Ihre Theatervorstellungen auf die Bewohner von Velká Lhota?
Das Theater ist für sie etwas, worüber sie sich noch lange unterhalten und was sie verbindet. Es ist Ereignis, ein Feiertag. Meistens kommt das ganze Dorf für die Vorstellung zusammen, danach trinken wir zusammen und sprechen darüber bis in die Nacht hinein. Heute sind die Bewohner von Lhota stolz darauf, dass sie ein eigenes Theater haben. Aufnahmen der Inszenierungen werden von Hand zu Hand gereicht und auch Verwandten gezeigt. In den letzten Jahren ist aus dem Projekt ein Festival geworden, zu dem sogar ausländische Studenten anreisen. Dieses Jahr sind wir mit 30 Mann angereist, das entspricht einem Drittel der Dorfbevölkerung. Zum ersten Mal haben auch Menschen aus Lhota selbst teilgenommen, allen voran die Dorffeuerwehr. Diese Vorstellung lehnte sich an den Film Hoří, má panenko (Der Feuerwehrball, 1967) von Miloš Forman an. Alle, die bei der Aufführung mitgewirkt haben, sind jetzt natürlich Lokalhelden.
Wie haben diese Erfahrungen Sie selbst beeinflusst?
Letztes Jahr habe ich in Lhota geheiratet, dieses Jahr überlege ich, dort ein Haus zu kaufen. Ich würde in Zukunft gerne dort leben, ich mag diesen Ort und die Leute. Ich stamme aus Most, einer Stadt, die für den Kohleabbau zerstört und auf der „grünen Wiese“ neu errichtet wurde. Plattenbausiedlungen, kein richtiges Stadtzentrum, eine Landschaft wie ohne Gedächtnis, vollkommen entwurzelt. Ich bin aber mit der Gegend um Lhota verwachsen, die Landschaft und ich harmonieren gut. Ich werde auch schon fast als Einheimischer wahrgenommen. Auf diese Art entdecke ich meine eigenen Wurzeln, erforsche sie. Für mich geht es darum, sich seines Platzes in der Welt bewusst zu werden, und das mit allem, was dazu gehört. Das Wunderbare ist, dass sich mir das alles eben genau durch das Theater eröffnet hat.
Wissen Sie denn schon, was Sie auf dem Dorf machen und wovon Sie leben würden?
Mit dem weitermachen, was ich begonnen habe – jedes Jahr die Veranstaltung und Weiterentwicklung des Theaterfestivals, das auch Gäste aus dem Ausland und andere Auswärtige besuchen. Diese können nämlicg etwas ins Dorf mitbringen, was für die Einheimischen nicht alltäglich ist. In meiner Dissertation nenne ich die Zeit, in der Gäste aus der Türkei, Spanien oder Finnland und Ensemblemitglieder des Jara Pokojský Theaters aus Brno in Lhota zu Gast sind, „die Ausweitung der Dorfgrenzen“. Es würde mich freuen, wenn das Aufeinandertreffen von Theatermachern aus unterschiedlichen Ländern in dem winzigen Dörfchen auf der Böhmisch-Mährischen Höhe alle Seiten bereichern würde, vielleicht auch abseits des Theaterbezugs. Ich möchte mich weiter der Geschichte dieses Dorfes widmen. Im Rahmen meiner Dissertation habe ich ungefähr ein Jahrhundert aus der Chronik von Velká Lhota elektronisch aufgezeichnet, es bleibt mir aber immer noch reichlich zu tun. Ich plane eine Dokumentation von Gesprächen mit ortsansässigen Zeitzeugen, um ihre Erinnerungen für die Enkel zu erhalten. Und ich möchte noch weitere Beschreibungen der folkloristischen Bräuche aus der Region finden. Ich spiele mit dem Gedanken einer Art antropologischen und ethnographischen Theaterzentrums. Wie man sehen kann, hat mich auch mit 30 die Naivität noch nicht verlassen. Ob ich aber davon leben werden kann, bezweifle ich.