Zu schade zum Wegschmeißen
Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, spielen neben Schauspielern auch Requisiten... und das nicht immer nur als zweite Geige. Der Schädel aus der berühmten Hamlet-Szene ist eine ähnliche Ikone wie der existentielle Ausspruch des dänischen Prinzen. Alle Requisiten des Prager Nationaltheaters lagern im Fundus im Stadtteil Vinohrady, ganz gleich ob sie bereits Theaterveteranen sind oder erst auf ihre Premiere warten.
Durch ein Tor betrete ich einen Innenhof. Dort erwartet mich der Requisiteur und Maler Miloš Koutecký, er ist der Chef des Fundus. Die Zigarette drückt er nicht einmal aus, als wir in den mit Plakaten beklebten Aufzug steigen. Auf dem Flur begegnen wir einem geschminkten, kostümierten Mann. Endlich stehen wir vor der Tür zur Märchenwelt. Miloš Koutecký öffnet die Tür in sein Reich und heißt mich im angeblich größten Requisitenfundus Europas willkommen. „Radók hat das behaupetet und der war in jedem großen Theaterfundus.“
Es gibt hier schier unendlich viele Gegenstände, Koutecký sagt es seien Hunderttausende. Als Besucher ist man davon überwältigt. „Hier gefällt es jedem,“ sagt Koutecký – nicht zum letzten Mal. Es gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Auf einer Konsole liegt die Krone, die im Jahr 2002 die Schauspielerin Iva Janžurová vor herabfallenden Kulissenteilen rettete, in der Nähe stehen die Büsten früherer Herrscher.
Wenn eine Schulklasse den Fundus besucht, endet es meistens damit, dass die Jungen mit Pistolenrepliken aufeinander zielen. Das Waffenarsenal des Fundus besteht aber nicht nur aus Repliken, sondern auch aus echten Waffen. Eine solche ist das Schwert des letzten Prager Henkers aus dem 18. Jahrhundert, der damit verurteilten Verbrechern die Hände abhackte. „Wir haben hier original österreichische Gewehre, die den gesamten Ersten Weltkrieg mitgemacht haben. Die Soldaten sind mit ihnen durch Sibirien bis nach Wladiwostok am Pazifik gekommen. Über Amerika sind sie nach Hause zurückgekehrt, und danach landeten ihre Gewehre im Nationaltheater. Einmal habe ich sie für eine Probe verliehen, und zwei Tage später kam ein Gewehr in zwei Teile zerbrochen zurück. Den ganzen Krieg hatte es überstanden, und im Theater geht es sofort kaputt!“
Für die Patina reicht ein bißchen Dreck
Requisiten, die älter sind als das Nationaltheater selbst, aber auch solche, die ihr Alter lediglich vortäuschen, füllen den Fundus in Vinhorady. Angeschlossen an das Lager ist auch eine Malerwerkstatt, in der manchen Requisiten eine künstliche Patina verliehen wird. „Meistens sollen die Gegenstände abgewetzt und benutzt aussehen. Dafür reicht es oft, sie einfach etwas dreckig zu machen“, erklärt der Maler und Student der Kunstgeschichte Pavel Šafránek. „Um Bilder alt aussehen zu lassen, verwenden wir Kopien, die wir zuerst mit einem durchsichtigen Lack besprühen und dann den Dreck per Spray oder einem Lappen auftragen und verwischen. Eine dünne Schicht graues oder schwarzes Spray tut es manchmal auch.“
Einen Kenner würden so präparierte Requisiten nicht täuschen können. Aber das ist auch nicht ihre Aufgabe. Im Gegensatz zum Film, wo die Kamera häufig nah an die Gegenstände heranfährt, muss im Theater nicht so viel Wert auf die kleinen Details gelegt werden. Zudem sind es meist die Schauspieler, auf die sich die Bühnenscheinwerfer richten, so dass die größte Aufmerksamkeit des Theaterpublikums ihnen gilt.
Deshalb finden sich im Fundus auch viele Attrappen, wie etwa ein riesiges, wertvoll aussehendes Buch. In Wirklichkeit ist es jedoch ein golden angestrichenes Stück Holz, das mit glitzernden, aber wertlosen Steinen verziert ist und auf der Bühne die Rolle eines seltenen Kodexes spielen soll. Man kann darin weder lesen, das „Buch“ noch nicht einmal öffnen und darin blättern. „Im Theater wird nur so getan als ob“, sagt Miloš Koutecký.
Im Fundus verbringt er seine meiste Zeit – und das tut er gerne. Wenn man ihn dort nicht antrifft, ist er vielleicht im Theater. Auch dort gibt es einen kleineren Fundus für die Requisiten, die in der aktuellen Spielzeit benötigt werden. Für Koutecký ist dieser gleich nach dem Büro des Intendanten der wichtiste Ort im Theater. Nach den Vorstellungen treffen sich dort die Schauspieler und feiern ihre Aufführung.
Seine Vorliebe für alte Gegenstände ist bei Kouteckýs Beruf nicht überraschend. Darüber hinaus steht er aber auch modernen Errungenschaften skeptisch gegenüber. Ein Handy besitzt er gar nicht. Auf seinem Tisch steht ein Telefon dessen Hörer stark an den aus der Kinderserie Mach und Šebestová erinnert. Als es klingelt, bin ich überrascht, dass es tatsächlich funktioniert.
Beutezüge auf Flohmärkten und in Müllcontainern
Es gelänge nur selten der Klassik einen avantgardistischen Anstrich zu geben, meint Koutecký. Aber moderne Inszenierungen klassischer Stücke gibt es immer mehr, deshalb gingen auch immer weniger Menschen ins Theater, glaubt er. Auch die Zusammenkünfte im Requisitenraum seien nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie hätten ihre Geselligkeit eingebüßt und die Schauspieler verstünden ihr Handwerk immer häufiger als reine Arbeit. Nach Feierabend wollen sie einfach nur so schnell wie möglich nach Hause. Flohmärkte und Antiquariate sucht Koutecký auch nicht mehr so häufig auf. Weitere Dinge sollen für das Lager nicht mehr eingekauft werden. Das Geld fehlt. Falls ein Requisiteur doch einmal etwas kauft, muss er es aus eigener Tasche bezahlen. Erstattet wird der Betrag nur, wenn die Requisite tatsächlich für ein Stück verwendet wird.
Koutecký aber kann dem Zauber alter Dinge trotzdem nicht widerstehen – stolz präsentiert er seine neuesten Zugänge: Schatzkistchen vom Flohmarkt. „Für 200 Kronen [rund 7,50 Euro], da muss man zugreifen.“ Dann zeigt er mir ein Buch, das er aus dem Container erbeutet hat. Es stammt aus dem Jahr 1826, die Illustrationen sind handgemalt. „Und so was schmeißen die Leute weg!“ schüttelt Koutecký ungläubig den Kopf.
Man mag es kaum glauben, aber es gibt etwas, was man im Fundus in Vinohrady nicht findet: eine Puderdose. Die letzten Exemplare wurden dem Requisiteur nicht zurück gebracht, und angeblich bekäme man überall nur noch die neumodischen – aus Metall. Es sind oft verschlungene Pfade, über die Gegenstände ihren Weg an diesen geheimnisvollen Ort finden. Manchmal spenden Theaterfreunde Teile aus Nachlässen. Und vielleicht wird der Bestand so irgendwann auch noch einmal um irgendeine Puderdose ergänzt.