Zu schade zum Wegschmeißen

Foto: © Jakub PlíhalFoto: © Jakub Plíhal
„Hier im Fundus gefällt es jedem,“ sagt der Hauptrequisiteur des Prager Nationaltheaters Miloš Koutecký. Es gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Foto: © Jakub Plíhal

Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, spielen neben Schauspielern auch Requisiten... und das nicht immer nur als zweite Geige. Der Schädel aus der berühmten Hamlet-Szene ist eine ähnliche Ikone wie der existentielle Ausspruch des dänischen Prinzen. Alle Requisiten des Prager Nationaltheaters lagern im Fundus im Stadtteil Vinohrady, ganz gleich ob sie bereits Theaterveteranen sind oder erst auf ihre Premiere warten.

Durch ein Tor betrete ich einen Innenhof. Dort erwartet mich der Requisiteur und Maler Miloš Koutecký, er ist der Chef des Fundus. Die Zigarette drückt er nicht einmal aus, als wir in den mit Plakaten beklebten Aufzug steigen. Auf dem Flur begegnen wir einem geschminkten, kostümierten Mann. Endlich stehen wir vor der Tür zur Märchenwelt. Miloš Koutecký öffnet die Tür in sein Reich und heißt mich im angeblich größten Requisitenfundus Europas willkommen. „Radók hat das behaupetet und der war in jedem großen Theaterfundus.“

Es gibt hier schier unendlich viele Gegenstände, Koutecký sagt es seien Hunderttausende. Als Besucher ist man davon überwältigt. „Hier gefällt es jedem,“ sagt Koutecký – nicht zum letzten Mal. Es gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Auf einer Konsole liegt die Krone, die im Jahr 2002 die Schauspielerin Iva Janžurová vor herabfallenden Kulissenteilen rettete, in der Nähe stehen die Büsten früherer Herrscher.

Wenn eine Schulklasse den Fundus besucht, endet es meistens damit, dass die Jungen mit Pistolenrepliken aufeinander zielen. Das Waffenarsenal des Fundus besteht aber nicht nur aus Repliken, sondern auch aus echten Waffen. Eine solche ist das Schwert des letzten Prager Henkers aus dem 18. Jahrhundert, der damit verurteilten Verbrechern die Hände abhackte. „Wir haben hier original österreichische Gewehre, die den gesamten Ersten Weltkrieg mitgemacht haben. Die Soldaten sind mit ihnen durch Sibirien bis nach Wladiwostok am Pazifik gekommen. Über Amerika sind sie nach Hause zurückgekehrt, und danach landeten ihre Gewehre im Nationaltheater. Einmal habe ich sie für eine Probe verliehen, und zwei Tage später kam ein Gewehr in zwei Teile zerbrochen zurück. Den ganzen Krieg hatte es überstanden, und im Theater geht es sofort kaputt!“


Für die Patina reicht ein bißchen Dreck

Requisiten, die älter sind als das Nationaltheater selbst, aber auch solche, die ihr Alter lediglich vortäuschen, füllen den Fundus in Vinhorady. Angeschlossen an das Lager ist auch eine Malerwerkstatt, in der manchen Requisiten eine künstliche Patina verliehen wird. „Meistens sollen die Gegenstände abgewetzt und benutzt aussehen. Dafür reicht es oft, sie einfach etwas dreckig zu machen“, erklärt der Maler und Student der Kunstgeschichte Pavel Šafránek. „Um Bilder alt aussehen zu lassen, verwenden wir Kopien, die wir zuerst mit einem durchsichtigen Lack besprühen und dann den Dreck per Spray oder einem Lappen auftragen und verwischen. Eine dünne Schicht graues oder schwarzes Spray tut es manchmal auch.“

Einen Kenner würden so präparierte Requisiten nicht täuschen können. Aber das ist auch nicht ihre Aufgabe. Im Gegensatz zum Film, wo die Kamera häufig nah an die Gegenstände heranfährt, muss im Theater nicht so viel Wert auf die kleinen Details gelegt werden. Zudem sind es meist die Schauspieler, auf die sich die Bühnenscheinwerfer richten, so dass die größte Aufmerksamkeit des Theaterpublikums ihnen gilt.

Deshalb finden sich im Fundus auch viele Attrappen, wie etwa ein riesiges, wertvoll aussehendes Buch. In Wirklichkeit ist es jedoch ein golden angestrichenes Stück Holz, das mit glitzernden, aber wertlosen Steinen verziert ist und auf der Bühne die Rolle eines seltenen Kodexes spielen soll. Man kann darin weder lesen, das „Buch“ noch nicht einmal öffnen und darin blättern. „Im Theater wird nur so getan als ob“, sagt Miloš Koutecký.

Im Fundus verbringt er seine meiste Zeit – und das tut er gerne. Wenn man ihn dort nicht antrifft, ist er vielleicht im Theater. Auch dort gibt es einen kleineren Fundus für die Requisiten, die in der aktuellen Spielzeit benötigt werden. Für Koutecký ist dieser gleich nach dem Büro des Intendanten der wichtiste Ort im Theater. Nach den Vorstellungen treffen sich dort die Schauspieler und feiern ihre Aufführung.

Seine Vorliebe für alte Gegenstände ist bei Kouteckýs Beruf nicht überraschend. Darüber hinaus steht er aber auch modernen Errungenschaften skeptisch gegenüber. Ein Handy besitzt er gar nicht. Auf seinem Tisch steht ein Telefon dessen Hörer stark an den aus der Kinderserie Mach und Šebestová erinnert. Als es klingelt, bin ich überrascht, dass es tatsächlich funktioniert.


Beutezüge auf Flohmärkten und in Müllcontainern

Es gelänge nur selten der Klassik einen avantgardistischen Anstrich zu geben, meint Koutecký. Aber moderne Inszenierungen klassischer Stücke gibt es immer mehr, deshalb gingen auch immer weniger Menschen ins Theater, glaubt er. Auch die Zusammenkünfte im Requisitenraum seien nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie hätten ihre Geselligkeit eingebüßt und die Schauspieler verstünden ihr Handwerk immer häufiger als reine Arbeit. Nach Feierabend wollen sie einfach nur so schnell wie möglich nach Hause. Flohmärkte und Antiquariate sucht Koutecký auch nicht mehr so häufig auf. Weitere Dinge sollen für das Lager nicht mehr eingekauft werden. Das Geld fehlt. Falls ein Requisiteur doch einmal etwas kauft, muss er es aus eigener Tasche bezahlen. Erstattet wird der Betrag nur, wenn die Requisite tatsächlich für ein Stück verwendet wird.

Koutecký aber kann dem Zauber alter Dinge trotzdem nicht widerstehen – stolz präsentiert er seine neuesten Zugänge: Schatzkistchen vom Flohmarkt. „Für 200 Kronen [rund 7,50 Euro], da muss man zugreifen.“ Dann zeigt er mir ein Buch, das er aus dem Container erbeutet hat. Es stammt aus dem Jahr 1826, die Illustrationen sind handgemalt. „Und so was schmeißen die Leute weg!“ schüttelt Koutecký ungläubig den Kopf.

Man mag es kaum glauben, aber es gibt etwas, was man im Fundus in Vinohrady nicht findet: eine Puderdose. Die letzten Exemplare wurden dem Requisiteur nicht zurück gebracht, und angeblich bekäme man überall nur noch die neumodischen – aus Metall. Es sind oft verschlungene Pfade, über die Gegenstände ihren Weg an diesen geheimnisvollen Ort finden. Manchmal spenden Theaterfreunde Teile aus Nachlässen. Und vielleicht wird der Bestand so irgendwann auch noch einmal um irgendeine Puderdose ergänzt.

Alfred Radók (* 1914, † 1976) war ein tschechischer Film- und Theaterregisseur. Er ist Namensgeber des bedeutendsten tschechischen Theaterpreises, der von 1992 bis 2014 verliehen wurde.
Mach und Šebestová ist eine tschechische Zeichentrickfernsehserie, die im Vorabendkinderprogramm läuft. Hautpersonen sind die titelgebenden Drittklässler Mach und Šebestová, die zufällig an einen abgetrennten Telefonhörer mit Zauberkräften kommen. Die ersten Folgen der Serie wurden im Jahr 1982 ausgestrahlt.
Daniela Ešnerová
Übersetzung: Patrick Hamouz

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
März 2015

    Weitere Beiträge zum Thema

    Wem gehört dieses Land?
    Ein Bezug zum Heimat- oder Vaterland scheint plötzlich nicht mehr peinlich, sondern cool und in. Beide Worte müssen aber mit Inhalt gefüllt werden. „Alltagsexperten“ über ihr „Tschechentum“ im Theaterstück Fidlovačka oder Wer ist Wir?.

    Sex, Schwärmer und göttliche Botschaften
    Press Space! René Levínskýs Drama Dotkni se vesmíru a pokračuj (Drücke das Weltall und mach weiter) ist zugleich Horror, Moral und beißender Humor – aus dem Leben von Naturwissenschaftlern.

    Alptraum im Friedenslager
    Kommunistischer Terror inszeniert im Stil von B-Horrorfilmen: Das Theaterstück Das Schweigen der Biber erzählt die Geschichte des Mädchens auf dem 1-Kronen-Stück.

    Mit dem Dorftheater zurück zu den Wurzeln
    Theaterregisseur Vítězslav Větrovec erkundet die integrative Kraft des volkstümlichen Dorftheaters – nicht nur in einem mährischen Dörfchen, sondern auch in der Türkei und in Marokko.

    Zu schade zum Wegschmeißen
    Im Fundus des Prager Nationaltheaters stecken alte Requisiten voller Geschichten; neuere bekommen dort eine künstliche Patina. Miloš Koutecký ist der Chef des Fundus.

    Pantomime auf Absätzen
    Keine der fünf Frauen auf der Bühne spricht. Trotzdem versteht jeder, worum es geht. Die fünf jungen Künstlerinnen studieren in Prag Pantomime.

    Fabelhaftes Physiktheater
    Die Mitglieder des „Fabelhaften Physiktheaters“ sind wie Kinder, die mit ihrer Neugier die Umwelt auseinandernehmen und keine Frage unbeantwortet lassen.

    In Olomouc begann die Revolution im Theater
    Ivana Plíhalová war eine der Hauptfiguren der Samtenen Revolution in Olomouc (Olmütz). Die Schauspielerin des Mährischen Theaters kehrte 25 Jahre nach der Wende zurück in die Kommunalpolitik.

    „Ich mag das Ausgraben von Stücken“
    Das Deutsche Theater Berlin gilt als eines der progressivsten der Gegenwart. Aber ist es politisch und multikulturell genug? Ein Gespräch mit dem Schauspieler Daniel Hoevels.   

    Der Tod und das Mädchen
    Franz Schuberts Kompositionen finden auch fast 190 Jahre nach seinem Tod noch Widerhall. Ein Beispiel dafür ist ein internationales studentisches Projekt, das im Herbst 2013 in Litomyšl zu Gast war.   

    Das unsichtbare Theater
    Die Vorstellung „Reise um die Welt in absoluter Dunkelheit“ im Prager Theater am Geländer wird mit allen Sinnen wahrgenommen – mit Ausnahme des Augenlichts.

    Themen auf jádu

    Gemischtes Doppel | V4

    Vier Kolumnisten aus der Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn schreiben über die Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf. Mehr...

    Heute ist Morgen
    Oder ist es umgekehrt?! Und war nicht auch gestern schon mal Morgen? In was für einer Welt wollen wir gerne leben? Und wie lange wollen wir warten, bis sie Wirklichkeit wird? Mehr...

    Im Auge des Betrachters
    … liegt die Schönheit. Da liegt aber auch die Hässlichkeit – und alles dazwischen. Als Betrachter sind wir jedoch nur selten allein. Und als Betrachtete sowieso nicht. Mehr...

    Dazugehören
    Seit gesellschaftliche Akteure jeder Couleur ihre Forderung nach Integration einem Mantra gleich herunterbeten, gerät viel zu oft in Vergessenheit, dass Integration ein individueller Prozess ist, der auch von uns selbst etwas verlangt. Mehr...

    Themenarchiv
    Ältere jádu-Schwerpunkte findest du im Themenarchiv. Mehr...