László Márton
Ungarn im Jahre 1882
(Aus einem entstehenden Roman)Der andere Hydrakopf, der unser Land anfletscht, ist die galizische Flüchtlingskrise. Zehntausende, ja hunderttausende Juden strömen aus Russland in unser benachbartes Galizien, auch bekannt unter seinem früheren ungarischen Namen Gácsország oder Halics. Sie kommen in die Täler des Pruth und Sereth. Sie lungern herum in Stanislau, liegen auf der faulen Haut in Drohobytsch. Sie stehlen sich über den Uschok-Pass, schleichen den Verecke-Pass entlang und werden bald hier unter uns sein, wo wir doch so schon voll von Juden sind.
Der nüchternere, gemäßigtere Teil der öffentlichen Meinung verleiht jenem Wunsch Ausdruck, dass die Staatsgrenzen geschlossen werden sollen. Errichten wir einen Stacheldrahtzaun entlang der galizischen Grenze, von Jablonka bis Jassinja, mit haufenweise Wachtürmen und einer aus reichlich Mann bestehenden, strengen Grenzpolizei. Die wird der Völkerwanderung schon Einhalt gebieten.
Die Befürworter einer radikalen Lösung raten dazu, die Flüchtlinge noch auf galizischer Seite zu verhaften, in Sammellager zu bringen, sie dort ihr eigenes Grab schaufeln zu lassen und sie dann an Ort und Stelle zu erschießen, sodass sie gleich in ihr Grab hineinfallen.
Und natürlich sind da auch noch die rührseligen Menschenfreunde, die vor Rotz und Sabber triefenden Humanisten, die davon faseln, dass unsere unseligen Mitmenschen – nämlich die aus Russland flüchtenden Juden mit Hakennase und ihre Mischpoke – sich ohnehin nicht in Ungarn niederlassen wollten, sondern die Absicht hätten, nach Amerika auszuwandern. Also geben wir ihnen doch eine Scheibe Brot und ein Glas Wasser, und transportieren sie nach Fiume oder Triest, dort können sie dann getrost mit Gottes Botschaft auf ein Schiff steigen.
Aber sicher doch. Wie sich das solche Leute eben vorstellen. Der neue russische Zar schiebt uns seine Juden zu und wir sollen ihnen dann auf Staatskosten zu essen und zu trinken geben und sie bemuttern. Fehlt nur noch, dass sie in der ersten Klasse im Schlafwagen nach Triest oder Fiume fahren wollen. Als würden sie in die Flitterwochen fahren. Oder auf Lustreise!
Noch einmal ganz kurz, damit der Leser die Zusammenhänge versteht: Die Pogrome in Russland begannen letztes Jahr, 1881, nachdem die Aktivisten einer revolutionären Terrororganisation den alten Zaren ermordet hatten. Der Zar saß in seiner Kutsche, als jemand aus der Menge eine Bombe auf sie warf. Die Bombe detonierte, zwanzig Menschen waren sofort tot, mindestens fünfmal so viele wurden verletzt. Dem Zaren allerdings ist nichts geschehen, da die Kutsche kugelsicher und bombenfest gebaut wurde, nachdem bis zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Anschlagsversuche auf den Herrscher verübt worden waren.
So befahl der Zar, dem kein Haar gekrümmt worden war, die Weiterfahrt. Nur, dass das nicht möglich war, da die Pferde bei der Explosion umgekommen waren. Vergebens flehten die Mitglieder des Geleits den Herrscher an, in der Sicherheit verheißenden Kutsche zu verbleiben und zu warten, bis neue Pferde gebracht werden – der Zar war der Ansicht, die Gefahr wäre vorüber. Die Masse, das heißt alles, was noch Beine hatte, hatte sich zerstreut; um die Kutsche herum war nichts mehr geblieben als Blutlachen, abgerissene Körperteile, Leichen und jammernde Verwundete. Die Attentäter (wenn es denn mehrere waren), diese feigen Ratten, waren offensichtlich mit den übrigen weggerannt. Der Zar öffnete die Kutschentüre und stieg hinaus aufs Pflaster.
In diesem Augenblick sprang ein regungslos daliegender Mann, der tot zu sein schien, plötzlich auf und warf eine weitere Bombe in Richtung der Kutsche. Die Explosion riss dem Zaren beide Beine ab. Eineinhalb Stunden später war er tot.
Die Zeitungen veröffentlichten einen ausführlichen Bericht über den Anschlag. Meist wurde auch beigefügt, dass sowohl die Täter als auch die Anstifter Juden seien. Es konnten nur Juden gewesen sein. Ein christlicher Russe wäre zu so einer niederen und feigen Tat gegen seinen Herrscher überhaupt nicht fähig.
Später stellte sich heraus, dass die Mitglieder der Gruppierung, die den Anschlag organisiert und ausgeführt hatte, allesamt Russen und Christen waren. Ein Jude hätte überhaupt kein Mitglied dieser Gruppierung sein können, da sie die drei Millionen in Russland lebenden Juden für kapitalistische Ausbeuter hielt und dementsprechend hasste. Diese Tatsache hingegen war keineswegs ein entlastender, sondern im Gegenteil, ein belastender Beweis, was die Juden angeht. Sieh an, diese niederträchtigen Ratten, die schleusen sich sogar in die Reihen der Narodniki ein! Die finanzieren und lenken sogar die Volksrevolutionäre! Sie tarnen sich, verstecken sich im Dunkeln und leugnen hartnäckig ihre Schuld. Obwohl ihnen zu diesem Zeitpunkt nur mehr ein reumütiges Geständnis helfen würde. Oder eigentlich nicht einmal mehr das.
Zwei Tage, nachdem die Zeitungen über den Anschlag gegen den Zaren berichtet hatten, flammten Pogrome in den von Juden besiedelten Dörfern und Städten Russlands auf. Aufflammen im wahrsten Sinne des Wortes, denn mit Pogromen geht immer auch Brandstiftung einher.
Ein Pogrom beginnt damit, dass die Juden anfangen in alle Richtungen zu laufen, wie aufgescheuchte Ameisen.
Der Jude packt seine Siebensachen und hastet mit seinen Kindern zum Bahnhof, wo er doch wissen könnte, dass die am Bahnhof versammelten Juden als allererstes zu Tode geprügelt werden.
Der Jude rennt aus der Stadt hinaus auf die Felder, wo er doch wissen könnte, dass man ihn auf den Feldern aus drei Werst Distanz entdecken, einholen und ihm die Knochen zertrümmern wird.
Der Jude versteckt sich auf dem Dachboden, wo er doch wissen könnte, dass man ihn vom Dachboden hinunterschmeißen wird.
Der Jude versteckt sich im Keller, wo er doch wissen könnte, dass man durchs Kellerfenster Petroleum gießen und anschließend einen brennenden Lappen hineinwerfen wird.
Der Jude versteckt sich in der Wohnung seiner jüdischen Nachbarn, die sich wiederum woanders verstecken, wo er doch wissen könnte, dass ihm seine Gedärme genauso aus der Bauchhöhle gerissen werden wie man das mit seinen Nachbarn täte, würde man sie in der Wohnung vorfinden.
Der Jude versteckt sich in der Wohnung seiner christlichen Nachbarn, die vor Ort geblieben sind, wo er doch wissen könnte, dass der Hausmeister die rasende Meute ohnehin auf seine Spur bringen wird.
Der Jude versteckt sich im Dunkeln und fürchtet sich vorm Dunkeln, denn im Dunkeln sieht man nichts.
Der Jude wagt sich ins Licht hervor und erschaudert vor dem Licht, denn im Licht sieht man alles.
Der Jude meidet andere Juden, wo er doch wissen könnte, dass er alleine keine Chance hat, sich zu verteidigen.
Der Jude schart sich mit etlichen Seinesgleichen zusammen, wo er doch wissen könnte, dass man sie alle gemeinsam zermalmen wird, so wie Lokomotivräder eine auf die Schienen getriebene Schafherde.
Der Jude organisiert seine Selbstverteidigung mit Waffen, wo er doch wissen könnte, dass er dafür weder genug Zeit noch Mut noch Möglichkeiten hat, und dass er damit die rachsüchtige Volksmasse nur noch mehr aufstacheln wird.
Der Jude sammelt seine liebsten Gegenstände um sich, wo er doch wissen könnte, dass genau diese Gegenstände seine tödlichen Feinde sein werden. Er könnte doch wissen, dass man ihn mit seinem eigenen Tellertuch erdrosseln wird. Dass man ihm mit seinem eigenen Brotmesser die Kehle durchschneiden wird. Dass man ihm die Scherben seines eigenen Weinglases in den Rachen stopfen wird. Dass man ihm mit der Spitze seines eigenen Regenschirms die Augen ausstechen wird. Und dass man ihm den Kopf gegen die stahlbeschlagenen Akroterien seines eigenen Nachttisches hämmern wird.
Und dann trifft all das ein, was von Vornherein zu erwarten war. Außerdem trifft auch vieles ein, das die wenig belastungsfähige Vorstellungskraft nicht vorhergesehen hat.
Da liegen sie, die Toten. Die vollkommen Toten und die Halbtoten. Unversehrt scheinende Tote und verstümmelte Tote. Identifizierbare Tote und bis zur Unkenntlichkeit verunstaltete Tote. Zu Kohle verbrannte Tote und platt getrampelte Tote. Einsam herumliegende Tote und samt Familie herumliegende Tote. Gerade daliegende Tote und krumm daliegende Tote mit gebrochener Wirbelsäule und im rechten Winkel abstehenden Beinen. Ausgehöhlte Tote ohne innere Organe und längs entzweigespaltene Tote.
Aus dem Fenster geschleuderte Säuglinge, mit dem Kopf gegen die Wand geschmetterte Säuglinge, als Ball in die Luft geworfene und mit der Spitze des Messers aufgefangene Säuglinge, zerstückelte Säuglinge, zerfleischte Säuglinge und aus dem Mutterleib herausgeschnittene Föten. Eine junge Frau, der die Nase abgeschnitten wurde, nachdem man sie vergewaltigt hatte. Eine junge Frau, der die Brüste abgeschnitten wurden, nachdem man sie vergewaltigt hatte. Eine alte Dame, auf die man einen Eisenofen aus dem Obergeschoss geworfen hat. Ein alter Mann, aus dessen Schläfe rostige Nägel herausstehen.
Wo noch kein Pogrom stattgefunden hat, da fliehen die Juden, weil sie nicht warten wollen, bis einer ausbricht. Wo es schon Pogrome gab, da fliehen die Juden (das heißt, jene, die noch am Leben sind), weil sie nicht warten wollen, bis wieder einer ausbricht.
Ein Teil der ungarischen Politiker hat der Ansicht Ausdruck verliehen, die Flüchtlingskrise müsse in Russland gelöst werden. Der neue Zar, der Sohn des vorherigen, solle entweder die judenfeindlichen Ausschreitungen eindämmen oder den Flüchtlingsstrom, der die Sicherheit Ungarns nun schon ernsthaft gefährdet, aufhalten.
Wir können uns ja kaum um unsere eigenen Armen und Gefallenen kümmern. Wie könnten wir dann mehrere hunderttausend, vielleicht sogar mehrere Millionen bettelarme, wildfremde Flüchtlinge aufnehmen? Leert man ein Fläschchen Tinte in einen großen See, so verdirbt das das Wasser nicht, und es können alle davon trinken ohne Schaden davonzutragen. In der großen englischen oder amerikanischen Volksmasse löst sich der Jude auf, er verschwindet darin sozusagen. Dasselbe gilt auch für Frankreich. Leert man hingegen in die ungarische Suppe ein Fläschchen Tinte, dann verdirbt die Suppe sehr wohl, und kein Mensch kann mehr davon essen!
Die sprechen nicht dieselbe Sprache wie wir. Sie tragen nicht dieselbe Kleidung wie wir. Sie essen nicht dieselben Speisen wie wir. Sie lieben nicht denselben Gott wie wir. Sie achten nicht dasselbe Gesetz und folgen nicht denselben Traditionen wie wir. Sie gehen nicht der Arbeit nach, die wir hochschätzen. Sie beten laut und betrügen stumm. Sie hinterlassen Müll, verrichten ihr kleines und großes Geschäft am Straßenrand. Sie schleppen Cholera und Pest ein. Sie sind voll von Läusen. Sie beklagen, bezichtigen und bestechen. Wir dürfen sie nicht hereinlassen, denn sobald die einmal ihren Fuß in unser Land gesetzt haben, werden wir sie nie wieder los.
Viele ungarische Politiker denken so, nicht nur in der Unabhängigkeitspartei, sondern auch in der unter dem Namen „Gemäßigte Opposition” bekannten Nationalen Partei, ja sogar in der regierenden Liberalen Partei gibt es Männer, denen diese Sichtweise nicht fernliegt. Und wenn es unter den Politikern und Journalisten nicht wenige gibt, die so denken, dann ist offensichtlich auch in der öffentlichen Meinung diese oder eine ähnliche Auffassung vertreten.
Man braucht gar nicht weit zu schauen, denn für die öffentliche Meinung von Tiszarét waren die soeben dargestellten Ansichten zutiefst charakteristisch. Die öffentliche Meinung von Tiszarét besteht aus fünf Personen, und zwar dem Pfarrer, dem evangelisch-reformierten Geistlichen, dem Dorfrichter, dem Notar und dem Lehrer. Aus methodologischen Gründen zähle ich Géza Döbröghy, der sich nur selten in seinem Dorf aufhält, aber natürlich große Wirkung auf die öffentliche Meinung hat, nicht zur öffentlichen Meinung dazu, sowie auch den Züszmann nicht, der zwar als gebildeter Mann gilt – ich habe mindestens zehn, zwölf Bücher in seinem Haus gezählt – und sogar zwei Zeitungen abonniert hat, die Egyetértés sowie die Taksonyvidék, von dem aber niemand denkt, nicht einmal Züszmann selbst, dass er Teil der öffentlichen Meinung von Tiszarét wäre.
Die öffentliche Meinung von Tiszarét ahnt selbst dann schon galizische Flüchtlingshorden voraus, wenn sie nacheinander vier, fünf Flöße auf der Theiss sieht, mit Flößern aus Maramuresch oder Bereg. Das Blut gefriert ihr in den Adern, also der öffentlichen Meinung, wenn sie die charakteristischen schwarzen Hüte der orthodoxen Juden aus der Gegend um Ungvár erblickt. Sie erschaudert, wenn sie ihr Deutsch hört, das nicht einmal die Deutsch Sprechenden verstehen, denn das ist ja überhaupt keine deutsche Sprache, sondern nichts als ein verzerrter, verdorbener Jargon.
Doch am Samstag vor Ostern war das Dorf von ebendiesen Hüten schwarz und vom Lärm ebendieses Jargons laut. In Tiszarét hielten die Juden an diesem Tag nämlich die Schächterwahl ab, nachdem der alte Schächter weggezogen war, und so kamen nun aus den Dörfern der Törkő-Region sowie aus der Gegend um Beregszász Anwärter in Festgewand, um sich für die Stelle zu bewerben. Ja, einzig und allein sie konnten die arme Eszter getötet haben, denn eine andere nüchterne Erklärung gibt es dafür nicht, dass Eszter an diesem Tag verschwunden und seither von niemandem mehr gesehen worden war. Der Erdboden konnte sie ja schlecht verschluckt haben!
Übersetzt von Sandra Rétháti
unveröffentlicht (Originaltitel: Magyarország 1882-ben. Egy készülő regényből).