Anna Szabó T.

Und jetzt ist sie nicht mehr

Am Heimweg schaue ich noch bei meiner Tante vorbei. Besser gesagt besuche ich ihr leeres Nest. Sie ist vor 2 Monaten gestorben, in der größten Hitze, im Krankenhaus, in der Nacht, allein. Sie bedeutete Budapest für mich: immer fröhlich, rothaarig, frei, sie, die in einer Wohnung nahe der Donau lebte, die den Kaffee im Wiener Meinl kaufte, die immer Obers im Kühlschrank hatte, in einem Siphon, die alle Werke von Gárdonyi besaß, ebenso wie einen Lampenfuß aus Marmor, ein Opernabonnement, einen Fußpfleger, ein kleines weißes Auto, Schokolade.

Ich biege bei der Buchinsel Atlantisz ein, hier habe ich studiert, von hier aus schaute ich aus dem Fenster eines Stockwerks auf die Donau hinunter, wie sie sich tagtäglich und im Minutentakt veränderte, im Nebel versank, Möwen, Treibholz, Licht. Anstelle der Buchhandlung steht jetzt Marks and Spencer, anstelle des Cafés Pilinszky wer weiß, was. Die Menschenmassen strömen über die Váci Straße, alles Ausländer, Schwarze, arabische Frauen mit Kopftüchern, eine Gruppe aufgeregter Japaner.

Mit über achtzig mochte meine Tante die Ausländer nicht mehr. Sie fürchtete sich vor ihnen, ging lieber nicht mehr in Thermalbäder, die Vielfalt an Körpern und Sprachen störte sie. Wozu kommen die her? Sie kannte und verstand sie nicht, verlor ihren Orientierungssinn, vermutete Gespenster in der Wohnung bei Nacht und Gefahren auf der Straße bei Tag. Nicht nur ihre Augen, auch ihre Neugier haben sich getrübt. Nachdem sie gestorben und die Wohnung leer gestanden war, fiel mir ein, dass ich ja, wenn es nach mir ginge, sogar Flüchtlinge vom Ostbahnhof für ein, zwei Nächte dorthin mitnehmen könnte. Wie hätte es sie gegraut, wenn sie im Fernsehen die strömende Menschenflut gesehen hätte. Sie hätte sie als gesichtslos empfunden, als ein vielköpfiges Ungeheuer. Aber jetzt, wo sie das Furchterregendste hinter sich hatte, hätte sie vielleicht selbst vor ihnen keine Angst mehr.

Ich schließe die Tür zur Wohnung mit demselben Schlüssel wie immer auf, es riecht genauso, wie damals, als ich zum ersten Mal mit acht hier war: lackierte Möbel, hundert Jahre alte Bücher, Körperpflegemittel, Seife, Lichthofgeruch, Tabak- und Auspuffrauch, der von der Straße hereinquillt. Alles ist unverändert: die Kristalllampe, der gewaltige Schreibtisch, der Thonet-Sessel, in dem sie immer zu sitzen pflegte, und in dem vor ihr auch ihre neunzigjährige Mutter jahrelang gesessen war, weil sie nicht mehr imstande war, auf die Straße zu gehen. Die vierziger Glühbirne leuchtet genauso, der Fußboden knarrt genauso, das Wasser rauscht in den Rohren, als ob ständig Gespenster herumspuken würden. Nichts ist unverändert: Sie ist nicht hier. Alles ist anders: Der Kühlschrank ist leer, die braunen Stiefel mit den klackernden Absätzen wird niemand mehr anziehen, die deutschen und französischen Vokabelhefte lösen sich auf, Staub bedeckt die mit Eselsohren versehenen Esoterikbücher, die Armlehnen der Fauteuils sind abgebrochen, die Lampe ist durchgebrannt, die Teppiche zerfleddert. Vor dem Sekretär steht ein Zimmerfahrrad. Hier hatte sie entschlossen in die Pedale getreten, mit pochendem Herzen, mit schmerzenden, verschraubten Knochen, mit dem Rücken zum Fenster, den Rücken zum gegenüberliegenden Bürohaus und den Sekretärinnen im Minirock, sie trat stets auf der Stelle, so wie auch ihr Leben schon seit Jahren stillgestanden hatte.

Sie hatte ihre Sicherheit, ihre Arbeit, ihr Geld, ihr Auto, ihren Fußpfleger, sie hatte Wien verloren, ihre Freundinnen, die toten und auch die lebendigen, die sie gänzlich mit ihrer Paranoia verschreckt hatte, ihre Entschlossenheit, ihre gute Laune, ihre Gesundheit und ihre Hoffnung; nur ihr Lachen hatte sie nicht verloren. Je verzweifelter ihre Lage war, umso mehr lachte sie. Selbst an ihrem Sterbebett war sie imstande zu lächeln.

Die Panikattacke, als wir vor ein paar Jahren in das Krankenhaus eilten, die Kardiologie, wo sie zwischen den Untersuchungen inmitten röchelnder alter Frauen im jenseitigen Neonlicht gelegen war. Sie saß in nichts als einer Unterhose auf dem Bett, ihr Körper war hier und da noch frei von Falten, ich versuchte nicht hinzuschauen. Die Ärztin, die sie untersucht hatte, fragte, was die große Narbe auf ihrem Bauch sei. Ich kann mich nicht erinnern, sagte sie, und zuckte mit den Achseln, als ob es unwichtig wäre. Sie versuchte zu antworten, sich zu benehmen. Auch ich versuchte, mich so zu verhalten, als ob ich nicht sähe, wie armselig und ausgeliefert sie doch war. Über ihrem Herzen war auch eine große Narbe, die Spuren einer Herzoperation. In ihren Augen spiegelte sich Schrecken wider. Wir warteten. Unterhielten uns über Verschiedenes. Dann lehnte sie sich plötzlich an mein Ohr und flüsterte: Ich weiß schon, was das für eine Narbe ist. Mir wurde die Gebärmutter entfernt.

Sie hatte niemals Kinder. Ich habe nie erfahren, ob sie von Anfang an keine kriegen konnte, oder ob sie keine wollte. Erst jetzt, nach ihrem Tod, finde ich die Fotos: ein erschrockenes, dürres heranwachsendes Mädchen, das Kleid hängt ihr schlaff um den Körper – siebenundvierzig? (Was war mit ihr, was ist während des Krieges passiert? sie wohnten irgendwo in der Nähe des Ghettos); sie hatte beim Altern ihren älteren Mann eingeholt, eine schwerfällige Ehefrau, sechziger Jahre; frisch gebackene Witwe, wieder schön und jung, sie lächelt, siebziger Jahre. Der sich verändernde Körper. Die sich verändernde Kleidung. Und darunter die nackte Haut, das geheimnisvolle Fleisch; man weiß nicht, was sie fühlt, mit welchen Narben ihr Körper übersät ist, was sie unter ihrem Kleid trägt. Ich habe mich zwanzig Jahre lang mit ihr unterhalten, aber die Geheimnisse des Frau-Seins hat sie nie mit mir geteilt.

Als ich meinen ersten Sohn erwartete und schon im Krankenhaus lag, stürzte sie entzückt herein: „Meine Tochter kriegt gerade ein Kind!“ Sie wurde sofort ins Wartezimmer gelassen. Sie war doppelt so alt wie ich, also ja, eigentlich hätte ich ihre Tochter sein können. Ich hatte eine Gebärmutter, sie nicht. Ich habe ein Kind geboren, sie nicht. Es war ein gutes Gefühl, für einen Moment ihre Tochter sein zu können.

Der sterbende Körper. Der nackte Körper im hochgerutschten Nachthemd, in einem anderen Krankenhaus, in einem anderen Bett. Sie hatte eine Windel an, wie ein Säugling. Sie konnte nichts mehr sehen oder verstehen. Der Körper, der seine Würde verloren hatte. Im Krankenhaus gibt es keine Unterwäsche, nur nach Medikamenten riechende Nachthemden, und Leintücher, die genauso gut auch Leichentücher sein könnten. Gemeinsam mit der Intimität verschwindet auch die Würde. In dem Moment, wo sie dir unter das Kleid schauen können, wo sie dir die Unterwäsche wegnehmen, bist du verloren.

In ihrem Bad hing eine alte Bleistiftzeichnung, ein Akt. Eine schöne junge Frau, die ihren Blick verlegen zur Seite wendet und mit einem auf den Boden fallenden gewellten Stück Stoff verschämt ihre Lenden zu verdecken versucht. In meiner Kindheit habe ich dieses Bild oft gesehen, aber mir wird erst jetzt klar, dass das vermutlich sie selbst ist, dieser nackte Körper, der selbst in der Ausgeliefertheit seine Würde bewahren will. Genauso hat sie sich auch an ihrem Sterbebett, mit einer letzten bewusstlosen Bewegung, mit dem Leintuch zu bedecken versucht.

Solange sie lebte, habe ich ihre Sachen nie angerührt, lediglich ein, zwei Bücher habe ich manchmal aus dem Regal genommen. Jetzt stöbere ich in hunderten alten Dokumenten und gesammelten Zeitungen, ich suche etwas, möchte ihr Leben verstehen. Mir fallen die Handarbeitshefte aus der Kindheit ihrer Mutter in die Hände, mit unzähligen nachgezeichneten Schnittmustern und Stickmustern – Klausenburg, Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Budapest, dreißiger Jahre: das Geographieheft meiner Tante, voll mit zeitgenössischen Zeitungsausschnitten über die verschiedenen Länder. Bei Deutschland, so nebenbei, Hitler bei einer Militärübung. Wann sind sie nochmal aus Siebenbürgen nach Budapest gezogen? Waren sie auch Flüchtlinge, waren sie auch Einwanderer? Nein. Klausenburg gehörte damals zu Ungarn – sie mussten keine Grenze überschreiten. Sie waren trotzdem anders, Bürger aus Siebenbürgen und vom Land, da bin ich mir sicher. (Ich weiß es, weil auch ich von Klausenburg nach Budapest gekommen war, nunmehr über die rumänische Grenze, gute fünfzig Jahre später – nachdem ich lange Zeit von jenem Budapest geträumt hatte, das sie für mich verkörperte, sie, die gebürtige Klausenburgerin.) Als Vertriebene und Bedürftige suchten sie in einer fremden Großstadt das Glück. Ob sie wohl auch auf Bahnhöfen schlafen mussten? Oder waren sie zu Verwandten gekommen? Ich stöbere weiter, aus den gesammelten Zeitungen, den Fotos, die lauter unbekannte Gesichter zeigen, und aus den Postkarten zeichnet sich das gesamte zwanzigste Jahrhundert ab.

Ich ziehe die Schublade mit der Unterwäsche heraus. Ein Fächer aus Paris. Eine rote Perücke. Spitzentaschentücher. Ein vergilbter BH. Eine unförmige Unterhose aus Kunststoff, die den Bauch abschnürt. Fäden, Reißverschlüsse, Strumpfhosen in einem raschelnden Säckchen. Ich finde keine Unterwäsche mehr – ob sie alles weggeworfen hat? Sie wollte Ordnung hinterlassen, in den letzten Jahren hat sie ständig nur zusammengeräumt. Gürtel. Tücher, Stricknadeln. Ein altes vorgezeichnetes Kinder-Taschentuch, ich falte es auseinander: eine alte Frau vor einem offenen Schrank, ein leerer Teller, ein Hund. Und der Spruch: „Old mother Hubbard went to the cupboard/ to fetch the poor dog a bone,/ the dog was there/ the cupboard was bare/ and so the poor dog had none.“ Der Hund vor der alten Kredenz bin ich. Ich bin diejenige, die nach den Knochen schnappt. Danke für nichts: Der volle Kasten ist leer, weil ich die Geschichte der Gegenstände nicht kenne. Trotzdem erinnert mich dieses Taschentuch daran, was sie damals erzählt hatte: man soll nicht an Gegenständen hängen, und sie selbst hatte das in jenem Moment gelernt, als sie in ihrer Kindheit ihr Lieblingstaschentuch verloren hatte. (Genauso wie sie auch ihr Heimatland verloren hatte – trotzdem hatte sie ihr Taschentuch immer wieder erwähnt, Klausenburg nie.) Ob sie wohl deswegen später Taschentücher gesammelt hatte? Und hat sie deswegen alle ihre intimen Gegenstände weggeworfen, die ihre Geheimnisse verraten könnten? Wovor fürchtete sie sich, was machte sie glücklich? Ich weiß doch nichts über sie.

Als ich sie zum letzten Mal in dieser Wohnung gesehen habe, stand sie verzweifelt in der dunklen Küche, bereits ein wenig wirr vor Einsamkeit und Beklemmung. Unerwartet zog sie ihr Kleid auseinander und sagte fast schreiend: „Schau dir an, was aus mir geworden ist! So dürr bin ich! Ja, was soll ich denn tun?“ Erschrocken sah ich weg – was mich außer der runzeligen weißen Haut und der Nacktheit ihres Körpers mehr verschreckte, war ihre plötzliche Selbstoffenbarung. Etwas ist gerissen, aufgebrochen, wie die rohen Narben alter Wunden, wie der Brustkorb des Erlösers auf den Heiligenbildern. Die Intimität verwandelte sich in Prahlerei, im Halbdunkel führte ein rothaariges Skelett einen Totentanz auf. Diese Person kannte ich nicht, ich wusste nicht, wer sie war. Aber ich habe mein Schicksal, unser Schicksal, in ihr gesehen. Den drohenden Wahnsinn, die finale Stiege, das alles verzehrende schwarze Feuer, das bereit ist, aus der Kehle des Nichts herauszulodern. In jenem Moment, in dem sie sich am meisten zeigte, war sie mir am meisten fremd.

Ich habe sie geliebt und jetzt ist sie nicht mehr. Eine Handvoll Staub, das ist von ihr übrig geblieben. Er muss in den Wind gestreut werden, wie sie es sich wünschte. Ihre Kleider werden zusammengepackt, verteilt; ihr BH, ihre Unterhose, die Perücke, die ich nie an ihr gesehen habe, weggeworfen. Ihre Gegenstände zerstreuen sich, sie hören auf Bezug zu nehmen. Wir hören auf, Bezug zu nehmen.

Eine leere Wohnung in Budapest. Das unerklärliche Geröll eines Lebens. Sie ist stehengeblieben, und die Geschichte läuft indessen ohne sie, mit uns, weiter. Das Land war fünfundzwanzig Jahre lang offen, Europa war offen, so wie noch nie. Als es sich öffnete, reiste sie nicht mehr. Als es sich wieder schloss, lebte sie nicht mehr. Sie war für mich ein Zeitalter, das Freiheitsversprechen, der Traum von der Freiheit. Jetzt ist sie nicht mehr. Budapest wird auch ohne sie eine Stadt bleiben, aber nicht mehr dieselbe. Nichts ist mehr dasselbe, nie wieder.

Übersetzt von Zsuzsánna Gábor

unveröffentlicht (wird in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Alibi erscheinen, Originaltitel: Hűlt hely).

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