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Kinder-und Jugendtheater Dortmund
Ein Leben in der Fantasie

Theaterausschnitt: Das Tagebuch der Anne Frank
Theaterausschnitt: Das Tagebuch der Anne Frank, KJT Dortmund | © Birgit Hupfeld

Andreas Gruhn inszeniert ein Theaterstück über eine jüdische Künstlerin und den Holocaust in Dortmund. Die Produktion des Stücks „Ohne Titel #194418“ der israelischen Autorinnen Elinor Milchan und Sharon Burstein Bichachi wird vom Goethe-Institut Israel unterstützt. Zum internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar haben wir den Theaterkritiker Stefan Keim gebeten, mit Andreas Gruhn darüber zu sprechen.

Von Stefan Keim

Eine junge Frau wird von einer Platzanweiserin auf die Bühne geführt. Black. Ein Scheinwerfer leuchtet ins Publikum, auf eine alte Dame. Es ist dieselbe Person, nur 70 Jahre später. Nelly bekommt einen Kunstpreis für ihr Lebenswerk. Sie geht auf die Bühne und beginnt ihre Dankesrede, immer wieder unterbrochen von seltsamen Soundeffekten. So beginnt das Theaterstück „Ohne Titel #194418“. Im nächsten Jahr soll es am Kinder- und Jugendtheater Dortmund aufgeführt werden. Die Autorinnen Elinor Milchan und Sharon Burstein Bichachi erzählen in Vor- und Rückblenden ein jüdisches Leben zwischen Naziterror und Exil, mit verschiedenen Liebschaften, Kämpfen und Erfolgen. Andreas Gruhn, der Leiter des Kinder- und Jugendtheaters, inszeniert. Stefan Keim hat mit ihm gesprochen.

Das Stück ist noch nicht auf Deutsch übersetzt, die Autorinnen sind bei uns bisher unbekannt. Wie bist du überhaupt darauf gekommen?

Gruhn: Das Ballett unseres Theaters war auf Gastspielreise in Israel. Und unser geschäftsführender Direktor Tobias Ehinger hat die Autorinnen auf einem Empfang kennengelernt. Sie haben ihm ein Exposé geschickt, er hat es an mich weitergeleitet und fand es einen sehr interessanten Stoff. Die Grundfrage ist ja: Wie viel Leben war nicht mehr möglich durch den Holocaust? Dann kam das Stück, und ich finde es gut und wichtig. Das war alles weit vor dem 7. Oktober. Jetzt ist es notwendiger denn je, dieses Stück zu machen.

Wird dann die Uraufführung in Deutschland stattfinden?

Gruhn; Es dauert ja noch ein bisschen bis zur Premiere. Ich weiß nicht, ob die beiden es vorher in Israel realisieren können. Auf jeden Fall wird es die deutschsprachige Erstaufführung.

Das Thema zerstörter Leben durch den Holocaust ist ja schon oft behandelt und erzählt worden. Was ist speziell an diesem Stück?

Gruhn: Die Geschichte wird vom Ende her erzählt, von einer Preisverleihung, die am Ende eines erfüllten Lebens steht. Im Stück geht es ja nicht nur um den Holocaust, sondern um Liebe und Kunst, wie man sich in der Gesellschaft positioniert. Es geht um eine Frau und die Frage, ob sie es schwerer hat als ein Mann. Es sind ganz viele Themen, die da verhandelt werden. Wir erleben viele Konflikte, die in einem Leben stattfinden und die einen Menschen wachsen lassen. Und erst am Ende begreift man, dass dieses Leben gar nicht stattgefunden hat. Das ist schockierend und berührend.

Hat die Hauptfigur, diese avantgardistische Künstlerin Nelly, die mit Brot oder Holzkohle ihre Werke schafft, ein reales Vorbild?

Gruhn: Nein, sie ist erfunden. Elinor Milchan hat mir erzählt, dass die Inspiration ein unbetiteltes Bild einer Künstlerin war, die im Konzentrationslager gestorben ist. Dann hat sie andere Bilder gesehen, in denen Anne Frank als 40jährige Frau porträtiert war. So kam sie auf die Idee. Ich habe ja selbst mal das „Tagebuch der Anne Frank“ inszeniert. Und bei diesen Texten denkt man ständig daran, was da an Leben verlorengegangen ist
.
Warum passt das Stück eigentlich so gut ins Jugendtheater?

Gruhn: Ich fange mal von mir aus an: Mich beschäftigt das Thema Holocaust sehr, seit ich 14, 15 Jahre alt bin. Ich bin 1959 in Berlin geboren, in West-Berlin aufgewachsen. Da hatte ich immer die Mauer vor der Nase und Eltern, die bei Kriegsende zwar noch Kinder waren. Aber meine Großväter habe ich nicht gekannt. Der eine ist in der Ukraine als Soldat gefallen, der andere ist kurz nach dem Krieg an Krebs gestorben. Beide waren als Soldaten im Krieg, und ich hab mich gefragt, was die da gemacht haben. Dann war ich 1982 – damals habe ich Schriftsetzer gelernt – auf einem Bildungsurlaub in Auschwitz. Das hat mich tief berührt. Ich habe inzwischen viele ehemalige KZs gesehen, auch Buchenwald, das gerade mal eine Viertelstunde zu Fuß vom Goethe-Haus in Weimar entfernt ist. Die Eiche, unter der sich Goethe mit seiner Geliebten Frau von Stein getroffen hat, steht mitten auf dem KZ-Gelände. Das KZ Oranienburg ist zehn Minuten zu Fuß von der S-Bahn entfernt. Und unsere Großeltern haben uns immer erzählt, dass sie von nichts wussten. Das war ein Lager mit 60 000 Menschen, ein paar Minuten entfernt, und sie wussten von nichts? Sie wollten nichts wissen. Dieses Thema begleitet mich seit langem.

In meiner Schulzeit hatten wir Besuch von einem KZ-Überlebenden, der uns seine Erlebnisse erzählt hat. Wie er das Lied von den Moorsoldaten gesungen hat, ist mir unvergesslich. Heute gibt es kaum noch Überlebende.

Gruhn: Ja, ich habe auch den Eindruck, es wird vergessen, welche Katastrophen da passiert sind. Und jetzt haben wir in Deutschland viele Rechtsextreme, die unsäglichen Blödsinn von der Remigration erzählen. Die Menschen aussortieren wollen, weil sie eine bestimmte Herkunft haben. Ein unerträglicher Gedanke! Also das Thema begleitet mich schon lange. Eins der ersten Stücke, die ich selbst geschrieben habe, war eins über Adolf Eichmann mit dem Titel „Bald ruh ich wohl“. Das haben wir auch hier in Dortmund aufgeführt, in der Steinwache, dem alten Polizeigefängnis, das heute eine Mahn- und Gedenkstätte ist. Es ist einfach wichtig, dass wir die Geschichte nicht aus dem Auge verlieren. Wir Deutschen haben einen großen Anteil an dem, was gerade in Israel und Gaza passiert. Das war zwar nicht der Grund, dieses Stück auszusuchen. Aber damit werden wir uns bei den Aufführungen auseinandersetzen müssen. Denn unser Publikum setzt sich inzwischen so zusammen, dass wir in den Vorstellungen ein Viertel bis ein Drittel muslimische Menschen im Publikum haben. Das wird Diskussionen auslösen.

Denn ein Jugendtheaterstück wird vor sehr vielen Schulklassen gespielt. Man erreicht damit – im Gegensatz zum Abendspielplan, wofür man sich eigenständig entscheiden und Karten kaufen muss – alle Schichten der Bevölkerung. Ist das eine große Chance?

Gruhn: Ja. Es wird noch ein bisschen dauern. Wir planen die Premiere für das erste Halbjahr 2025. Ich hoffe, dass ich bis dahin die Lage etwas beruhigt hat und wir auch über friedliche Lösungen nachdenken können.

Wobei der Antisemitismus in Deutschland noch viele Jahre ein Thema bleiben wird – da machen wir uns keine Illusionen, oder?

Gruhn: Der Antisemitismus ist leider in der deutschen Gesellschaft tief verwurzelt. Ich finde toll an dem Stück, dass es ein Einzelschicksal betrachtet. Denn das ist es, was Theater leisten kann, wir sind keine Experten für politische Pamphlete. Wenn man mich fragt, was meine Haltung zum Gaza-Konflikt ist, kann ich nur antworten: Ich möchte, dass überhaupt niemand mehr stirbt, weder Israelis noch Palästinenser. Dass sie einen Weg finden, friedlich miteinander zu leben. Das ist im Moment fernab von jeder Realität. Ich wüsste auch keinen Weg, der dorthin weist. Aber dafür ist Theater auch nicht da. Sondern dafür, einzelne Schicksale zu betrachten, einzelne Menschen anzuschauen. Und dann entstehen Verbindungen. Sobald du nicht mehr über die Israelis, die Palästinenser, die Deutschen, die Russen, die Ukrainer und so weiter sprichst, sondern über Einzelne, kann Empathie entstehen. Das ist die große Kraft des Theaters.
 


Andreas Gruhn © Birgit Hupfeld Andreas Gruhn wurde 1959 in Berlin geboren. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Schriftsetzer. Anschließend studierte er an der Hochschule der Künste in Berlin Schauspiel und wurde danach in Ulm, Tübingen und bei den Luisenburg-Festspielen in Wunsiedel engagiert. Seit 1993 arbeitete er als Regisseur und Autor in Berlin, Zittau und Essen. Das Kinder- und Jugendtheater Dortmund leitet er seit 1999.
(Quelle: Theater Dortmund)
 

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