Skateboarden für den Wandel in Indien
Eine neue Identität
Ulrike Reinhard hat das indische Dorf Janwaar ziemlich aufgewirbelt, und zwar in positivem Sinn. Der Skateboard-Park, den sie und ihre Helfer hier gebaut haben, gibt vor allem den Kindern und Jugendlichen des Ortes ein ganz neues Lebensgefühl.
Von Holger Schäfer
Tief in der indischen Provinz hat Ulrike Reinhard ihre Lebensaufgabe gefunden. In einem kleinen Dorf im Bundesstaat Madhya Pradesh. Bis vor wenigen Jahren war in Janwaar alles streng nach Kastenzugehörigkeit geregelt. Das Leben der Kinder war vorprogrammiert. Auch die Schule, sofern sie diese überhaupt besuchten, gab ihnen keine Perspektive.
Die Heidelbergerin Reinhard bereiste die Region um Panna schon länger. Sie wollte, dass sich hier etwas ändert, wollte etwas bewegen. Aber nicht durch ein oktroyiertes Konzept, sondern aus sich selbst heraus, auf spielerische Art und Weise.
Ulrike Reinhard im Skaterpark
| © Gabriel Engelke
Inspiriert vom Skatistan-Projekt in Afghanistan kam sie auf die Idee, eine Skateboard-Anlage zu errichten, die Anstoß für einen weitergehenden Wandel geben sollte. In Janwaar fand sie dafür ein Grundstück. Um den Bau finanzieren zu können, bat sie Künstler, Skateboards zu gestalten, und versteigerte sie auf Ebay. Eines der Bords stammte sogar vom chinesischen Kunstrebell Ai Weiwei. Nur ein halbes Jahr dauerte es, bis der Skatepark 2015 fertig war. Heute sind jeden Tag 30 bis 60 Kinder und Jugendliche auf der Anlage.
Schon unmittelbar nach der Eröffnung wurde klar: Hier geht es um mehr als Sport: Und zwar, weil sich Jungs und Mädels verschiedener Kasten hier zusammen austoben. Bis das akzeptiert wurde und der Skatepark von allen angenommen wurde, dauerte es eine Weile. Mittlerweile möchte die Anlage aber niemand mehr missen. „Sie hat dem Dorf eine Identität gegeben. Die Bewohner sind stolz darauf“, sagt Ulrike Reinhard.
Nur zwei Regeln
Was sich durch die Sportanlage alles änderte, ist enorm. Im Alltag der Kinder spielt die Kastenzugehörigkeit kaum noch eine Rolle. Und durch einen Trick, den sich Ulrike Reinhard ausgedacht hat, gehen die Kinder von Janwaar sogar häufiger und länger [Office 202] zur Schule. Denn: Nur wer am Unterricht teilnimmt, darf auch Skaten.
Ansonsten gibt es nur noch eine weitere Regel, und die heißt „Girls First“. Will heißen: Mädchen dürfen immer zuerst aufs Board oder in die Pipe.
Mehr als Skaten
Über das Skaten hinaus versucht Reinhard, mit „Learning Labs" und Workshops schlummernde Interessen bei den Kindern und Jugendlichen zu wecken, Talente zu entdecken und zu fördern. So gab es Theater-, Ingenieurs-, Kunst-, Foto- und Video-Projekte. Dafür lädt sie "Professionals" aus aller Welt nach Janwaar ein, die dann mit den Kindern und Jugendlichen leben und arbeiten.
Ein Skater in Janwaar
| © Gabriel Engelke
Einer von ihnen ist Eku Wand, Professor für Mediendesign aus Braunschweig. Er verbrachte 2018 zwei Wochen in Janwaar, vermittelte den Kindern den Umgang mit modernen Fotokameras, ließ sie damit spielen und ihren Alltag dokumentieren.
Er sagt, dass Reinhard "mit ihrer Vision und ihrem disruptiven Ansatz eine Kulturveränderung herbeigeführt hat. Und dass sie auch noch über so viele Jahre am Ball bleibt, ist sehr anspruchsvoll.“
Etwa zehn Volontäre machen jedes Jahr Station in Janwaar. „Die große Spannweite der Impulse, die sie setzen, ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass die Kinder ihren Talenten freien Lauf lassen können“, erklärt Reinhard. Einer der Jugendlichen etwa entdeckte nicht nur den Spaß am Sport, sondern auch seine Leidenschaft für Modellbau. Er fertigte unter anderem eine 3-D-Nachbildung des Skateparks aus Ton. Die Büffel seiner Familie hütet er noch immer, doch seit einiger Zeit "lacht das Kind auch", erzählt Reinhard.
Bis nach Europa und China
Ulrike Reinhard ist mit vollem Herzen dabei, das spürt man sofort. Früher hat die studierte Betriebswirtin als Beraterin und Autorin gearbeitet, jetzt verbringt sie den Großteil des Jahres mit den Kids von Janwaar.
Sie und ihre Helfer organisieren auch Exkursionen, zum Beispiel zu einem Literaturfestival ins 700 km entfernte Jaipur – für die Kinder bereits eine komplett andere Welt. Dort führten die Jugendlichen ein selbst geschriebenes Theaterstück auf.
Neuer Spaß in Janwaar
| © Pratik Chorge
Mit drei Jugendlichen aus dem Ort machte Reinhard eine Tour durch Europa, wo sie an mehreren Skateboard-Turnieren teilnahmen. Die 18-jährige Asha beispielsweise, die aus einer Adivasi-Familie kommt, reiste nach England, wohnte dort bei Freunden von Reinhard. Im Dorf erzählt sie nun von dem anderen Universum, das sie erleben durfte. Ulrike Reinhard machte dies möglich, indem sie Ashas Familie überzeugte. Ganze acht Monate dauert es.
Für Asha hat der Skatepark und alles, was damit einhergeht, viel verändert: „Ich habe keine Angst mehr vor Menschen. Normalerweise werden Mädchen im Dorf sehr jung verheiratet. Das wird mir nicht passieren. Dank des Skateboardens.“ (Originalzitat aus dem „Rural Changemaker“: „I’m not afraid of people any more. Girls in the village get married very early. Because of skateboarding I will not get married at an early stage“). Auf dem Skateboard ist Asha eine der Besten, gewann schon einen Wettbewerb an der Skateboarding Academy in Delhi und nahm kürzlich sogar an der Skateboard-Weltmeisterschaft in China teil.
Vorbild Janwaar
Der Erfolg des Skateparks sprach sich fast von allein herum. NGOs und Privatpersonen bauen in Anlehnung an das Janwaar-Konzept zurzeit weitere Skateparks in der indischen Provinz und lassen sich dabei von Ulrike Reinhard beraten. Zwei Anlagen – in Rajasthan und Andhra Pradesh, sind fertig, zwei weitere werden gerade gebaut.
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