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Digitale Identitäten: Plattformen, öffentliche Infrastrukturen und der digitale Bürger
Den digitalen Staat sehen, bürgerlich agieren

Den digitalen Staat sehen, bürgerlich agieren
Podiumsdiskussion zum Thema „Seeing like a Digital State, Advocating like a Citizen“ am Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan New Delhi. | © Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan

Technische Innovationen wie digitale Ausweise sind inzwischen Teil der Verwaltung vieler Länder. Sie sollen Prozesse effizienter und einfacher machen, doch ihre Risiken sollten nicht ignoriert werden. Sorgen um Überwachung und die Verschärfung des Machtgefälles zwischen Staat und Bürger*in zeigen, wie viel auf dem Spiel steht. Dasselbe gilt für staatliche Projekte zu technologiebasierter öffentlicher Infrastruktur und Online-Plattformen für behördliche Vorgänge.

In einer Zeit, da der Staat seine Aufgaben zunehmend in die digitale Welt verlagert, stellt sich schnell die Frage: Kommt die Digitalisierung den Bürger*innen tatsächlich zugute? Ist Effizienz ein ausreichendes Argument für mehr Digitalisierung? Welche Rolle spielt der private Sektor in diesem Bereich? Und sollten wir als Bürger*innen besorgt sein um unsere grundlegenden digitalen Rechte wie das auf Privatsphäre? In dieser Diskussion gehen fünf Expert*innen den Zusammenhängen zwischen Plattformisierung, öffentlicher Infrastruktur und digitaler Bürgerschaft nach.

Das Argument der Effizienz

Technologische Innovationen helfen dem Staat, die Effizienz seiner Verwaltung zu erhöhen. Doch was für den Staat funktioniert ist nicht notwendigerweise ein Gewinn für seine Bürger*innen.

Mansi Kedia: Digitalisierung erhöht die Effizienz. Man versteht es leicht, wenn man ein physisches Ladengeschäft mit einer E-Commerce-Plattform vergleicht. Die E-Commerce-Plattform kann leichter expandieren, indem sie Händler hinzufügt – weil sie digital ist. Genauso kann der Staat seine Aufgaben wie öffentliche Sicherheit und Dienstleistungen leichter aufskalieren indem er digitale Werkzeuge einsetzt.

Disha Verma: Es ist wichtig, sich zu fragen, was Effizienz in einem Sozialstaat bedeutet. Geht es nur darum, Sozialleistungen freizugeben, oder auch darum, dass sie dem Volk tatsächlich zugutekommen? Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Nehmen wir zum Beispiel staatliche Ausweise. Wenn verschiedene Ausweisarten miteinander verknüpft sind, ist es leichter für die Verwaltung, Gelder an Bürger*innen auszuzahlen. Wenn die Aadhaar- mit der MGNREGA-Karte verbunden ist, vereinfacht es den Vorgang, Sozialleistungen zu beziehen. Aber es gibt dabei viele grundlegende Probleme wie nicht übereinstimmende Datensätze. Zum Beispiel ändern viele Frauen nach der Heirat ihren Namen, was Diskrepanzen zwischen verschiedenen Ausweisen nach sich ziehen kann. Solche Fehler führen dazu, dass Individuen aus Datenbanken fallen, die es ihnen erlauben würden, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.

Rainer Rehak: Wenn wir über Effizienz sprechen, sollten wir auch fragen: Für wen wird die Sache effizienter – für den Staat oder seine Bürger*innen? Es ist toll für den Staat, eine Datenbank zu besitzen, um seine Aufgaben besser organisieren zu können, aber für die Bürger*innen könnte es nicht wünschenswert sein. Man kann sich den deutschen Personalausweis ansehen, der nicht mit einer einheitlichen Datenbank verknüpft ist, mit dem man sich aber trotzdem ausweisen kann.

Die Rolle von Privatunternehmen und Berater*innen

Regierungen nehmen im Zusammenhang mit technologischen Innovationen immer häufiger private Unternehmen und Berater*innen in Anspruch. Doch ihre Beziehung zu diesen bleibt meist undurchsichtig und spielt sich häufig in einer rechtlichen Grauzone ab.

Rahul Bhatia: Viele Berater*innen in Indien waren nach dem Jahr-2000-Problem (einem Programmierfehler im Bezug auf die Verarbeitung von Daten nach dem 31. Dezember 1999) auf der Suche einem neuen Projekt und sie wurden von der Regierung beauftragt, an einem landesweiten Ausweissystem zu arbeiten. Über die Jahre haben diese Berater*innen an der Entwicklung und Umsetzung dieses Projekts mitgewirkt, oft durch die Erstellung von Berichten, deren Glaubwürdigkeit man anzweifeln kann. Trotzdem gewannen ihre Ideen bei den Entscheidungsträgern an Zustimmung. Berater*innen wiederholen und bekräftigen Ideen, bis sie sich manifestieren. Wir haben es beim „Free Basics“-Programm von Facebook gesehen und beim indischen Aadhaar-System.

Disha Verna: Private Akteure sind ein zentraler Bestandteil von Regierungsprojekten zur digitalen öffentlichen Infrastruktur (Digital Public Infrastructure, DPI). Doch die gegenseitigen Beziehungen sind nicht gut geregelt. Neben ihrer Arbeit auf nationaler Ebene wenden sich diese privaten Akteure auch an Ministerien und Behörden auf Lokal-, Bezirks- und Staatenebene.

Rainer Rehak: Die Absprachen zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen sind nicht sehr transparent. Wenn man versucht, Informationen zu erhalten, zu den konkreten Inhalten bestimmter Verträge und zu ihren Zielen, verweigert die Regierung diese oft und bezeichnet sie als „Betriebsgeheimnisse“.

Mansi Kedia: Den privaten Sektor nicht einzubeziehen, beschränkt das Potential digitaler öffentlicher Infrastruktur. So hat die BHIM-App der Regierung zur Abwicklung von UPI-Zahlungen nur wenige Nutzer*innen gefunden, während private Apps wie PhonePe und Google Pay immer populärer werden. Eine stärkere Regulierung von öffentlich-privaten Partnerschaften ist dringen notwendig. Es muss ein faires, transparentes und nachvollziehbares Modell gefunden werden. Es gibt kein Wachstum ohne den privaten Sektor – die Regierung kann nicht alles alleine bewältigen.

Die Suche nach neuen Alternativen

Die existierenden Erscheinungsformen des digitalen Staates stellen seine Bürger*innen vor zahlreiche Probleme. Die Alternative zum heutigen Zustand ist nicht, keine technologischen Innovationen zur Anwendung zu bringen, sondern Wege zu finden, sie zum Nutzen der Bürger*innen einzusetzen.

Rainer Rehak: Ich will nicht sagen, dass wir überhaupt keine Informationen sammeln sollten. Die Alternative zum derzeitigen Ansatz ist nicht, sich vom technologischen Fortschritt abzukoppeln, sondern neue Wege zu finden. Man kann verschiedene Ausweise für spezifische Bereiche einsetzen, um sicherzustellen, dass die Daten nur zum gewünschten Zweck verwendet werden. Ein Gesundheitsausweis beispielsweise sollte nur in ebendiesem Bereich Verwendung finden, nicht für die Einkommenssteuer. Es ist technisch möglich, einen handlungsfähigen Staat zu haben, ohne jeder/m Bürger*in eine Erkennungsnummer zuzuweisen. Meine Idee ist nicht, technologische Entwicklungen außen vor zu lassen, sondern bessere Alternativen zu suchen.

Mansi Kedia: Verschiedene Ausweise zu haben, ist ein zweischneidiges Schwert. Mehrere Identitäten mit der Aadhaar-Karte zu verknüpfen hat Vorteile – zum Beispiel in Sachen Automatisierung. Man muss sich nicht ständig erneut verifizieren. Die Aadhaar-Karte stellt die erste Stufe der Verifizierung dar; weitere können durch andere, spezifische Ausweise erfolgen. Meiner Meinung nach sind Apps wie DigiLocker  sehr viel zuverlässiger als andere Finanzdaten-Aggregatoren.

Muhammad Radwan: Während des deutschen Pandemie-Lockdowns 2020 wurde in sehr kurzer Zeit eine dezentrale Corona-Warn-App entwickelt, die wichtige Datenschutzprinzipien beherzigt. Sie wurde später in ganz Europa eingesetzt und ist ein gutes Beispiel für eine kurzfristige technologische Innovation, die dennoch in Sachen Datenschutz keine Kompromisse macht.

Wie sich die Digitalisierung auf Bürger*innen auswirkt

Daten von Bürger*innen aufzuzeichnen, zu digitalisieren und zu analysieren kann die Verwaltung erleichtern, doch es hat Auswirkungen auf fundamentale demokratische Rechte wie das auf Privatsphäre und Informationsfreiheit.

Disha Verma: Die indische Regierung sammelt so viele Daten, wie sie kann. Es ist nicht nur die Aadhaar-Karte; wir haben viele Projekte, durch welche die Bevölkerung in verschiedene Kategorien eingeteilt wird: Pensionär*innen, Schulkinder, Patient*innen, Sozialhilfeempfänger*innen. Sie existieren nebeneinander, sind aber alle mit der Aadhaar-Karte verknüpft. Alle Identitäten – Gewohnheiten, Daten zur psychischen Gesundheit, Standortdaten – sind mit einer einzigen Aadhaar-Nummer verbunden und mit Biometriedaten, die, wie wir wissen, nicht sehr sicher gespeichert sind.

Ein Problem in Indien ist, dass die Regierung im Stillen agiert. Sie sorgt nicht für genügend Transparenz oder eine funktionierende Kommunikation mit den Bürger:inne, die ihr deshalb nicht vertrauen. Die App Aarogya Setu beispielsweise  hat Probleme wie mangelnde Informationen über ihre API und fehlende Klarheit darüber, wer Zugriff auf die Standortdaten indischer Bürger*innen hat.

Schon in einem analogen Staat besteht eine Kommunikationslücke zwischen Bürger*in und Verwaltung. Die technologische Ebene schafft eine weitere Barriere. In Indien versteht nicht jede/r diese Technologie oder besitzt ein Smartphone. Wenn die Menschen das Medium, das die Regierung zur Kommunikation nutzt, nicht verstehen, wie können sie ihr antworten?

Rahul Batia: Die offizielle Einführung der Aadhaar-Karte erfolgte 2009, aber ich habe ein früheres Ausweisprojekt gefunden, für das eine Machbarkeitsstudie angefertigt wurde. Sie wurde durch das indische Innenministerium in Auftrag gegeben, das damals L.K. Advani führte. Eins der Ziele des Projekts war es, „Auswärtige“ und „Eindringlinge“ zu identifizieren.

Rainer Rehak: Die wichtigste Regel des Gesellschaftsvertrags besagt, dass der Staat mehr Macht besitzt als das Individuum. Doch mit größerer Staatsmacht geht die Notwendigkeit größerer Rechenschaftspflicht und Transparenz einher. Einerseits verlangt die Regierung, dass die Bürger*innen ihren digitalen Systemen vertrauen. Andererseits schafft sie ein System, das ihren Bürger*innen misstraut (denn digitale Ausweise können potentiell zur Überwachung eingesetzt werden).

Mansi Kedia: Digitale Systeme können besser funktionieren als analoge. Doch dazu müssen in Bezug auf ihren Zweck und ihre Nutzung alle Interessen übereinstimmen. Ohne Schutzmaßnahmen gibt es Risiken wie Exklusion, Konzentration und Diskriminierung. Wir sollten uns stärker auf die Schaffung solcher Schutzmaßnahmen konzentrieren, um unerwünschte Resultate zu vermeiden.

Was können Bürger*innen tun?

Bürger*innen können Druck auf politische Entscheidungsträger*innen ausüben, Gesetze vorzulegen, die ihre digitalen Rechte schützen.

Muhammad Radwan: Wir können auf Schutzmaßnahmen und Absicherungen drängen, indem wir Druck auf die Regierung ausüben, in eine bestimmte Richtung zu arbeiten. Europäer*innen verstehen Medienkompetenz und sie haben von ihren Regierungen Maßnahmen eingefordert. Die USA liegen nicht weit dahinter, obwohl ihre Gesetze schwächer sind. Aber es gibt einen anschwellenden Trend, der zeigt, dass die Öffentlichkeit darauf aufmerksam wird, was vor sich geht.

Disha Varma: In Indien muss der Anspruch eindeutig sein, bevor die Menschen bereit sind, ihn einzufordern. Ein Arbeitsplatz und eine Pension beispielsweise sind klare Rechte, die die Menschen einfordern können, im Gegensatz zum Recht auf Privatsphäre, das viel weniger greifbar ist. Es ist wichtig, zu verstehen, weshalb die Menschen sich mit manchen Rechten mehr auseinandersetzen als mit anderen. Um sich den heutigen digitalen Herausforderungen zu stellen, sollte Indien: physische Kontaktmöglichkeiten erhalten, transparent zwischen Regierung und Bürgerschaft kommunizieren, nicht blindlings westliche Gesetze kopieren und ein Datenschutzgesetz verabschieden.
 

Die Expert*innen

Muhammad Radwan © Muhammad Radwan Muhammad Radwan, Tactical Tech
Muhammad ist seit 2019 Projektleiter für The Glass Room bei Tactical Tech. In dieser Funktion entwickelt er eine innovative Ausstellung, die Organisationen, Museen und Universitäten hilft, die Herausforderungen der digitalen Welt zu verstehen. Zuvor gründete Muhammad icecairo, einen der ersten Innovationsräume in Ägypten, der soziale Unternehmer in den Bereichen Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit unterstützt. Zudem war er als Berater für Geschäftsmodelle in Technologiezentren tätig und hat Trainings zu digitaler Sicherheit und verwandten Themen angeboten. Muhammad bringt eine große Leidenschaft für die Schnittstellen von digitaler Sicherheit, Datenschutz, Klimagerechtigkeit und Technologie mit. Er hat einen B.Sc. in Wirtschaftsingenieurwesen von der Texas A&M University.

Disha Verma © Disha Verma Disha Verma, Internet Freedom Foundation
Disha Verma ist Associate Policy Counsel bei der Internet Freedom Foundation. Disha Verma ist ausgebildete Juristin und arbeitete in der Gesundheitspolitik mit Fachkenntnissen in den Bereichen kommunale Gesundheit und Krankheitsbekämpfung, bevor sie in die Technologiepolitik wechselte. Bei der IFF befasst sie sich mit dem Einsatz von Technologien und der Digitalisierung im öffentlichen Sektor mit Schwerpunkt auf Wohlfahrtsverteilung und sozialer Sicherheit, digitaler öffentlicher Infrastruktur, KI in der Verwaltung, Überwachung, Polizeiarbeit und digitaler Transparenz.

Dr. Mansi Kedia © Dr. Mansi Kedia Dr. Mansi Kedia, Indian Council for Research on International Economic Relations
Mansi ist Senior Fellow bei ICRIER und verfügt über vierzehn Jahre Erfahrung in der öffentlichen Politik. Ihre Forschung konzentriert sich auf Fragen der digitalen Wirtschaft, einschließlich der Verwaltung des Internets, der Auswirkungen neuer Technologien, des Wettbewerbs und der digitalen öffentlichen Infrastruktur. Sie war Ko-Vorsitzende der T20-Taskforce für unsere gemeinsame digitale Zukunft: Affordable, Accessible and Inclusive Digital Public Infrastructure (2023), Mid-Career Fellow der ISOC (2022) und Mitglied des Direct Tax Committee (2017). Sie erwarb ihren B.Sc. in Wirtschaftswissenschaften an der St. Xavier's School in Kolkata, ihren MBA an der ISB in Hyderabad und ihren Doktortitel am IIFT in Neu-Delhi.

Rahul Bhatia © Tony Rinaldo Rahul Bhatia, Autor, The Identity Project
Rahul Bhatia ist ein preisgekrönter indischer Autor und Journalist mit Sitz in Mumbai. Sein erstes Buch ist der Bestseller The Identity Project (international als The New India veröffentlicht). Seine Arbeiten wurden im New Yorker, im Guardian Long Reads und in anderen Publikationen veröffentlicht. Er wurde 2024 mit dem True Story Award ausgezeichnet und war 2022-23 Stipendiat des Harvard Radcliffe Institute. Er ist Mentor für Schriftsteller und Journalisten im Rahmen des Kollektivs „South Asia Speaks“ und war Mitbegründer des Peepli Project, einer gemeinnützigen Journalismusorganisation. Rahul Bhatia war früher Art Director in der Werbebranche und machte seinen Abschluss in Kommunikationsdesign am Pratt Institute in New York.

Rainer Rehak © CC BY-SA European Climate Foundation Rainer Rehak, Weizenbaum-Institut
Rainer Rehak ist Forscher in der Gruppe „Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Teilhabe“ am Weizenbaum-Institut und assoziierter Forscher am WZB. Er promoviert an der TU Berlin zu IT-Sicherheit und Datenschutz und beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung. Seine Schwerpunkte liegen auf Datenschutz, IT-Sicherheit, staatlichem Hacking und der Ethik von KI-Systemen. Er ist als Sachverständiger für Parlamente und Gerichte tätig und Mitinitiator der Konferenz "Bits & Bäume" zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit.


Moderation

Aditi Agrawal © Aditi Agrawal Aditi Agrawal
Aditi Agrawal ist als Sonderkorrespondentin bei der Hindustan Times tätig, wo sie über Technologiepolitik, Datenschutz, freie Meinungsäußerung im Internet, Cybersicherheit und Überwachung berichtet. Sie ist außerdem Berichterstatterin für die indische Wahlkommission.

 

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