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Rosinenpicker | Literatur
Die langsame Auflösung einer großen Liebe

Es sind drei Worte, die jeweils einen Anfang und ein Ende bedeuten: Ich liebe Dich. Ich verlasse Dich. Doch was liegt dazwischen? Im Fall der Ich-Erzählerin in Julia Schochs neuem Roman eine 30 Jahre währende Beziehung. Zunächst ein Rausch, ein Fest, dann Alltag, Kinder, Betrug, Wut.

Von Benedikt Arnold

Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts © dtv Die emotionale Kaskade einer Liebesbeziehung – darum geht es im zweiten Band der autofiktionalen Trilogie Biografie einer Frau von Julia Schoch. Eine namenlose Ich-Erzählerin verliebt sich in einen namenlosen Mann, beide stammen aus der ehemaligen DDR, beide studieren in einer Stadt im jüngst vereinten Deutschland. Es ist der vielbeschworene Zauber, der ihrer Liebes-Ouvertüre innewohnt, der aus ihrer Zweisamkeit einen eigenen Kosmos macht. Ein Zauber, der sie glauben lässt, sie seien Das Liebespaar des Jahreshunderts – zumindest in ihrer Vorstellung.

Denn im Roman ist es die Perspektive der Ich-Erzählerin, durch die der Leser auf die Geschichte blickt. In ausgewählten Momenten enthebt sie ihren Ex-Mann seiner Sprachlosigkeit, in denen sein wortkarger Pragmatismus zum Ausdruck kommt: „Sich dauernd zu trennen und wieder zu verlieben ist, als sähe man Hunderte Filmanfänge, aber keinen zu Ende.“

Wie konnte es so weit kommen?

Es ist indes kein gemeinsamer Blick auf ihre drei Jahrzehnte andauernde Beziehung, es ist keine erzählerische Paartherapie, die sich dem Leser darbietet. Vielmehr befragt sich die Erzählerin, wie es zu ihrem Autonomieverfall kam und sich bedingungslose Liebe in argwöhnisches Misstrauen wandelte. Wieso begann sie, stille Mutmaßungen über ihren Mann anzustellen, anstatt ihn damit direkt zu konfrontieren?

Julia Schochs Protagonistin reflektiert eine gewöhnliche Beziehung: von der Symbiose über die schleichende Entfremdung bis hin zur Dissoziation der Liebe. In immer neuen Anläufen nähert sich die Erzählerin dem Versuch einer Beschreibung dieser unmerklichen Auflösung: „Das Unglück ist nicht auf uns herabgestürzt, nicht über uns hineingebrochen, es ist langsam eingedrungen, beinahe sanft hat es sich eingeschlichen.“

Wie kam es dazu, dass die Liebe einem Gefühl zerfaserter Zuneigung und schließlich einem Zerstörungswillen gewichen ist? Die Protagonistin reflektiert die Momente, in denen sie Scheidewegen wahlweise blind, paralysiert oder unschlüssig gegenüberstand. „Rückblickend fallen mir Hunderte Momente ein, die geeignet gewesen wären, dich zu verlassen.“ Immer wieder konfrontiert sich die Erzählerin mit ihrem alten Ich, hört sich selbst zu, klagt ein, sucht in der Anhörung ihrer selbst nach dem richtigen Ton.

Es ist die Ungeduld des Herzens, die die Erzählerin in fortlaufender Überspanntheit Fragen an sich selbst stellen lässt, an ihn, an die Liebe. Schonungslos leuchtet sie dabei die dunkelsten Winkel ihrer drei Jahrzehnte andauernden Beziehung aus. Ist es die Geschichte eines Verlusts oder die Geschichte einer Befreiung? Der innere Monolog der Erzählung lässt keinen Perspektivwechsel zu, und gerade in diesem einseitigen Erzählprinzip der Selbstbefragung und der Infragestellung der eigenen Person liegt die Stärke des Romans.

Keine Nostalgie

Doch wie wird man einer solchen Geschichte Herr? „Man erinnert sich an den Anfang, und man erinnert sich an das Ende. An die Hauptsache, die Zeit dazwischen, erinnert man sich nicht.“ In feinfühligen Reflexionen über die Liebe, ihre Liebe, beschreibt die Erzählerin das Grau der Dauer und die Zwischentöne alltäglicher Belanglosigkeiten in lebendigen und wahrhaftigen Beobachtungen – und füllt damit die Klammer zwischen Lieben und Verlassen.

Vor dem Hintergrund der ostdeutschen Sozialisation des Liebespaars erfährt der Roman eine zusätzliche soziokulturelle Ebene. Im Angesicht des fortschreitenden gesellschaftlichen Wandels im vereinten Deutschland wird ihnen ihre verbindende DDR-Herkunft gewahr. Es ist gerade die Gegenüberstellung jener Phänomene jenseits eindimensionaler Nostalgie und Reminiszenz, die den Roman um eine tiefgründige Facette erweitert.

Wie bereits ihr Vorgängerband Das Vorkommnis (2022) zeichnet sich auch der neue Roman von Julia Schoch durch eine lakonische Eleganz in Stil und Sprache aus. Die aus Mecklenburg stammende Schriftstellerin und Übersetzerin übergibt die Autonomie des Erzählens ihrer Protagonistin, die sich ganz den Kontemplationen über die Liebe und ihren Zerfall hingibt. Mal ist es ein vorsichtiges Hineinhorchen, im nächsten Moment ein ungeduldiges Hinterfragen, und allzu oft ein Friedensgesuch an sie selbst.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts. Biografie einer Frau Band 2
München: dtv, 2023. 192 S.
ISBN: 978-3-423-28333-5
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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