Rosinenpicker
Langer Atem
Julia leidet an Asthma. Und sie hat gerade ihren Job verloren. Zurück im Heimatdorf kämpft sie um einen Neuanfang. Der ist ohne Auseinandersetzung mit familiären Ansprüchen und örtlicher Tristesse nicht zu haben. Als Julia den „Städter“ kennenlernt, keimt zarte Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit.
Von Marit Borcherding
Immer mehr geben als nehmen – gleich im vierten Satz des Romans Wovon wir leben ermahnt sich die Protagonistin Julia, auf genau diese Weise das Lebenselixier Luft ihren Körper durchströmen zu lassen. Vollständige Atmung nennt sich diese von der Asthmatikerin unbedingt anzuwendende Technik. Gleichzeitig könnte diese Anweisung ein Motto sein, das über dem schmalen Roman steht – der ganz wesentlich die von Frauen geleistete Fürsorgearbeit in den Blick nimmt. Der auch insgesamt von Arbeit handelt – und was ein Verlust derselben bei den Menschen anrichtet.
Was richtet Arbeitslosigkeit an?
Dass eine Romanautorin als Referenz auf die Sozialpsychologin Marie Jahoda verweist, die zu den Autorinnen der als Klassiker der empirischen Soziologie geltenden Studie Die Arbeitslosen von Marienthal gehört, ist nur so lange verwunderlich, bis man weiß, dass Birgit Birnbacher selbst studierte Soziologin und Sozialwissenschaftlerin ist, mit Praxiserfahrung in der Gemeinwesen- und Quartiersarbeit. Ganz sicher hat sie sich im Zuge dessen auch mit dem beschäftigt, was die Marienthal-Studie im Untertitel benennt: „die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit“. Denn das und mehr wird auf poetische Weise in ihrem Roman verhandelt. Wovon wir leben stellt existenzielle Fragen und beantwortet sie mit empathischen, fein gezeichneten Geschichten: Was macht uns aus? Was verstehen wir unter einem gelungenen Leben, und haben wir die Mittel, etwas dazu beizutragen? Was ist tatsächlich wichtig, und wie können wir das erreichen? Ja: Wovon leben wir?Fürsorge als Falle
Julia Noch, die Ich-Erzählerin, war hingebungsvolle Krankenschwester, als ihr bei der Behandlung einer Patientin ein folgenschwerer Fehler unterläuft. Die Patientin kann gerettet werden, aber Julia verliert dennoch ihre Anstellung. Ohnehin demoralisiert, weil die Affäre mit einem verheirateten Arzt, der die Bedingungen des Zusammenseins vorgibt, ihr zu schaffen macht, und von ihrer chronischen Asthma-Erkrankung gebeutelt, weiß sich Julia keinen anderen Rat, als in ihr heimatliches Dorf zurückzugehen. Ihr Vater, ein Patriarch und Hypochonder, verschweigt ihr zunächst, dass die Mutter nicht mehr da ist. Sie, die immer klaglos, aufopferungsvoll und an der Grenze zur Zwanghaftigkeit für alle sorgte, hat sich nicht nur eine Erwerbsarbeit gesucht, sondern sich auch nach Italien abgesetzt. In das Land, wo die Zitronen blühen und das auch sonst mehr Verheißungen bereithält als das trostlose, von Arbeitslosigkeit gekennzeichnete innerösterreichische Dorf. Dort wird viel getrunken, viel geschwiegen und man suhlt sich in folgenloser Klage. Julia, die gekommen ist, um sich trösten und aufpäppeln zu lassen, sieht sich angesichts ihres passiv-aggressiven, selbstmitleidigen Vaters in einem Konflikt: „Wie ich mich hier sofort entscheiden muss: Kümmere ich mich um ihn, steige ich ein, oder fordere ich, dass er sich um mich kümmert, und ärgere mich jeden Tag, dass es zu wenig ist. Und wie diese beiden Zustände schwanken, wie unentschieden es ist … wer bedürftiger ist oder sein wird.“Es ist beeindruckend, wie Birgit Birnbacher es schafft, auf weniger als 190 Seiten nicht nur Eltern-Kind-Verstrickungen in überkommenen Beziehungsmustern in hoher Eindrücklichkeit zu skizzieren, sondern auch noch anhand vieler Personen und ja, auch Tieren gesellschaftliche Zustände darzulegen, die von zementiertem Unglück, geborstenen Träumen, Unzulänglichkeiten, aber auch Versuchen, sich aus scheinbar ausweglosen Situationen herauszuarbeiten, erzählen: Es geht dabei um Julias Bruder, dessen körperlich-geistige Beeinträchtigung hätte verhindert werden können, hätte der Vater nicht auf seiner Deutungshoheit der Situation beharrt, es geht um Julias Mutter, die in Italien lachen und segeln gelernt hat, aber am Ende doch wieder wie angewachsen hinter der Wohnzimmerscheibe steht, es geht um Julias Freundin Bea, die über den Beruf ausbrechen will, aber dann doch die Verzagtheit obsiegen lässt, es geht um eine qualvoll schreiende Ziege, der sich Julia mit Erfolg annimmt, um einen entsetzlich stinkenden Kuhkadaver, der auch durch Julias Tatkraft entsorgt wird, um ein Wirtshaus, das sich von einem Ort absoluter Freudlosigkeit zu einem zukunftsträchtigen Ort der Begegnung wandelt.
Ein Gegenmodell
Verantwortlich für diesen letztgenannten Umschwung ins Positive ist der „Städter“, der mit echtem Namen Oskar heißt und den Julia direkt bei ihrer Rückkehr ins Dorf kennenlernt. Er muss sich nach einer Herzattacke in einer Reha-Klinik erholen. Vor allem aber: Er hat für ein Jahr ein Grundeinkommen gewonnen. Das gibt ihm Freiheiten, die er zu nutzen weiß, und der Autorin die Möglichkeit, eine Idee von Lebensgestaltung zu skizzieren, die im Vergleich mit den sonstigen dörflichen Gegebenheiten geradezu utopische Züge trägt: „Diese Idee von Arbeit als Kooperation. Dieses Etwas-von-sich-aus-Tun, für sich. Dieses Etwas-miteinander-Tun, miteinander etwas zu tun haben. Und mit der Umwelt, die einen umgibt … An das glauben, was man vor sich hat. An etwas glauben, das es vielleicht nie gibt… ‚Von diesen Dingen leben wir doch‘, sagt er.“Hier schwenkt der Roman natürlich nicht in Richtung Happy End, dazu widerfährt Julia zu viel – auch noch zum Ende des Buches hin – sie ist zu sehr gebranntes Kind, zu skeptisch, zu kritisch. Aber sie stellt sich nun viele Fragen, wechselt in Gedanken die Perspektiven, spielt Möglichkeiten durch, allein und gemeinsam mit Oskar. So erweitert sie ihren Handlungsraum – und schafft sich selbst die Grundlage dafür, neben aller Determiniertheit auch Freiheit genießen zu können. Hoffentlich, so die empathischen Gedanken beim Lesen der letzten Seiten, bleibt ihr diese Perspektive erhalten.
Wien: Zsolnay, 2023. 192 S.
ISBN 978-3-552-07335-7
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