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Joachim B. Schmidt
Kalmann

Kalmann von Joachim B. Schmidt
Kalmann von Joachim B. Schmidt | Cover © Bitter Lemon Press; Porträt von Joachim B. Schmidt von Eva Schram

Im erfreulich regen Genre des Nordic Noir nimmt dieser in Island angesiedelte Kriminalthriller einen besonderen Platz ein. Was wäre schließlich eine stimmungsvollere Kulisse für einen Krimi als menschenleere Eiswüsten, befleckt vom weinroten Blut eines Mordopfers? Diese karge Landschaft, bewohnt von rätselhaften Charakteren und Heimat zahlloser Mythen, liefert dem Wahlisländer schweizerischer Herkunft Joachim B. Schmidt den Hintergrund für seinen ersten großen Erfolg in der Gattung. Sein Buch Kalmann ist zugleich Kriminalroman und eine Charakterstudie des namensgebenden Protagonisten, eines sozial unbeholfenen Mannes, der unter der abweisenden Landbevölkerung versucht, einen Mordfall zu lösen.

Von Prathap Nair


Der Roman wurde auf Deutsch verfasst und durch Jamie Lee Searle ins Englische übertragen. Mit seiner scharfsichtigen Prosa gewann er 2024 den deutschen Glauser-Preis für die Darstellung seiner neurodivergenten Hauptfigur. Kalmann wird derzeit als Fernsehserie adaptiert und die Fortsetzung Kalmann und der schlafende Berg, befindet sich in Übersetzung. In diesem Interview erzählt Joachim B. Schmidt mehr über sein Buch.

Erzählen Sie uns von Ihrem Werdegang. Was hat Sie bewegt, nach Reykjavik umzusiedeln und einen deutschsprachigen Island-Krimi zu schreiben?

Ich verliebte mich in Island, als ich mit 15 Jahren zum ersten Mal dorthin reiste. Bei meiner Rückkehr in die Schweiz, wo ich aufgewachsen bin, war ich untröstlich. In den folgenden Jahren kehrte ich mehrmals nach Island zurück. Ich blieb jedes Mal länger, bis ich 2003 ein ganzes Jahr dort verbrachte und 2007 die Entscheidung fällte nach Island auszuwandern. Schon während meines ersten Jahres in Island verspürte ich einen großen Drang zu Schreiben. Nicht nur, weil ich viel Zeit hatte – ich lebte und arbeitete auf einer abgelegenen Farm – sondern auch, weil ich Geschichten erzählen wollte. Dort schrieb ich meinen ersten Roman, der aber nicht veröffentlicht wurde. Doch mir wurde klar, dass ich schreiben musste, weil Island mich derart inspirierte. Jetzt, nach 18 Jahren in Island, bin ich vollständig in die isländische Gesellschaft integriert. Ich besitze die isländische Staatsangehörigkeit, ich bin verheiratet und habe Kinder, aber ich schreibe meine Geschichten weiterhin in meiner  deutschen Muttersprache.  Das Isländische ist eine alte und daher sehr komplizierte Sprache. Ich würde nicht wagen, in ihr einen Roman zu verfassen.

Im Genre des Nordic Noir stellen Kriminalromane, die in Reykjavik spielen, eine eigene Sparte dar. Isländische Autor*innen wie Arnaldur Indridason und Ragnar Jónasson sind in englischer Übersetzung sehr erfolgreich. Wie sind Sie zu dem Genre gestoßen und wer sind Ihre Inspirationen?

Meine ersten drei Romane erhielten nicht viel Aufmerksamkeit. Deshalb wollte ich einen isländischen Krimi schreiben, nachdem ich gesehen hatte, wie Arnaldur, Ragnar und Yrsa Besteller landeten. Aber mir wurde schnell klar, dass mich der Kriminalfall selbst nicht so sehr interessierte wie die Menschen in der Geschichte – unter ihnen der „Dorftrottel“ namens Kalmann, der über den Tatort stolpert. Für mich ist er der wahre Held der Geschichte, kein Trottel, sondern unterschätzt. Er ist ein weiser und komplexer Charakter, der die harte und oft gewalttätige Welt Nordislands navigieren muss. Kalmann half mir, ein Buch zu schreiben, das mehr ist als nur ein Krimi: die Studie eines jungen Mannes mit kognitiven Beeinträchtigungen in der eng verwobenen Gesellschaft eines abgelegenen Fischerdorfes.

Sie waren Journalist, bevor Sie Romanautor wurden. Welchen Einfluss hatte Ihre journalistische Erfahrung auf Ihr Buch (vor allem in der Darstellung marginalisierter Einwanderergemeinschaften)?

Ich mag die Recherche und liebe es, Menschen kennenzulernen, die ich sonst nie getroffen hätte. Ich mag Romane, die tief in der Realität verwurzelt sind und ich habe eine Vorliebe für Außenseiter und ihre Geschichten. Kalmann gab mir Gelegenheit, meine Nase in die Häuser der Leute zu stecken und ihre Geschichten zu erzählen. Insofern ist es eine Fortführung meiner journalistischen Arbeit, als ich über Vulkanausbrüche und Bankencrashs schrieb.

Manche Landschaften und zu einem gewissen Grad auch die Charaktere und bizarren Ereignisse Ihres Buches erinnern an die jüngste Staffel der US-Fernsehserie True Detective. Ließen Sie sich während der Arbeit an Kalmann durch Bücher oder TV-Serien inspirieren?

Ich finde Inspiration bei guten Filmen und guten Büchern, oft unterbewusst. Ich würde lügen, wenn ich sagte, „Fargo“ oder „Forrest Gump“ hätten mich nicht zu Kalmann inspiriert. Und danke, dass Sie die Serie True Detective mit Kalmann in Verbindung bringen. Das macht mich sehr stolz, auch, weil eine isländische Produktionsfirma auf Basis des Buches ein Fernsehprojekt umsetzt.

Mit dem neuen Roman „Kalmann und der schlafende Berg“ scheinen Sie bereits auf dem besten Weg zu einer ganzen Kalmann-Reihe. Sind weitere Bücher in Vorbereitung?

Ja, die englische Übersetzung der Forstsetzung „Kalmann und der schlafende Berg“ wird im Sommer erscheinen und der Plan sieht vor, eine Trilogie daraus zu machen. Vor dem dritten Buch werde ich aber einen Nicht-Krimi-Roman dazwischenschieben, wie ich es auch bisher getan habe. Es ist nicht gut, die Dinge zu überstürzen (was das Schreiben weiterer Kalmann-Bücher angeht. Außerdem braucht Kalmann etwas Ruhe.)

Lesen Sie Bücher in englischer Sprache? Sind Sie mit indischer Literatur vertraut? Falls ja, verraten Sie uns Ihre Lieblinge?

Ich war den Großteil meines Lebens von isländischer Literatur besessen, mehr noch  jetzt, wo ich Isländisch lesen kann: Jón Kalmann Stefánsson, Hallgrímur Helgasón, Gunnar Gunnarsson, Steinunn Sigurðardóttir, Einar Kársson, Sjón... Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich mit indischer Literatur nicht vertraut bin. Ich dachte jedoch, ich hätte indische Literatur gelesen - nur um festzustellen, dass ich ignorant gewesen war. Ich erinnere mich an „Monsoon oder Der weiße Tiger“, das ich als Teenager gelesen habe. Das Buch handelt von einem armen Jungen aus Bombay, der auf den Straßen Chennais endet und dort den Beruf eines Schlangenbeschwörers erlernt. Es stammt von Klaus Kordon, einem deutschen Schriftsteller. Außerdem dachte ich lange Zeit, dass das wunderbare Buch „Schiffbruch mit Tiger“ von einem kanadischen Schriftsteller mit indischen Wurzeln geschrieben wurde. Oh, ich habe mich wieder geirrt. 
 
Jamie Lee Searle ©Sophie Kandaouroff Anmerkungen der Übersetzerin: Jamie Lee Searle zu ihrer Arbeit an Kalmann

Als Bitter Lemon Press die Rechte für die Fortsetzung von Kalmann erwarb, konnte ich es gar nicht abwarten, mehr Zeit mit diesem verschrobenen und liebenswerten Helden zu verbringen. Ich hatte noch nie so viel Spaß bei der Übersetzung eines Buches und „Kalmann und der schlafende Berg“ gab mir von Anfang an das Gefühl, mit seiner Erzählstimme bereits vertraut zu sein, was dem Arbeitsfluss sehr zugute kam. Ich habe mich bemüht, die (linguistische) Struktur von Kalmanns Denkprozess zu erhalten. Seine Neurodivergenz wird gefeiert und der Humor, der den Text durchzieht ist stets auf den Rest der Welt gerichtet. Er zeigt, dass Kalmanns Perspektive oft mehr Sinn ergibt, als die althergebrachte Weltsicht.

Joachims Liebe zu seiner Wahlheimat Island scheint in seiner Prosa auf und verleiht der Szenerie eine packende Lebendigkeit. Einer der Gründe, weshalb ich immer wieder zur Übersetzung zurückkehre, ist, dass ich dabei so viel lerne. Durch Kalmann habe ich die isländische Kultur kennengelernt (nicht zuletzt Hákarl, ein fermentiertes Haifisch-Gericht, das im Buch vorkommt).

Meine Motivation für Literaturübersetzungen war stets, neuen Leser:innen eine Vielfalt an Stimmen und Erfahrungen nahezubringen. Es ist eine große Verantwortung und ich fühle mich jedes Mal geehrt, wenn mir eine Schriftsteller:in wie Joachim sein/ihr Vertrauen ausspricht. Ich hoffe, er schreibt noch viele Kalmann-Romane, damit ich noch auf Jahre viele herrliche Stunden mit „dem Sheriff“ verbringen kann.
 

Über den autor

Joachim B. Schmidt Joachim B. Schmidt, geboren 1981, wanderte 2007 aus der Schweiz nach Island aus. Er hat zahlreiche Romane und Kurzgeschichten verfasst und arbeitet als Journalist und Kolumnist.

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