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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Twitter und der lange Huhn

Illustration: Ein Bildschirm auf dem ein weit geöffneter Mund zu sehen ist, Sprechblase mit mehreren Smileys
Twitter glänzte als einmaliges Auffangbecken für eine spezielle Art von Nonsense-Poesie | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Denkt er an Twitter von früher, wird Elias Hirschl traurig. War das doch mal die Plattform für absurden Blödsinn, für unverständliche Witze, für neue Wörter, die irgendwann im Alltag landen. Ein Nachruf – und ein Appell, auf anderen Plattformen unbedingt mit blöden Witzen weiterzumachen.

Von Elias Hirschl

Elon Musk hat vieles kaputt gemacht, aber worum es vermutlich am meisten schade ist, ist Twitter. Geht man heutzutage auf die Plattform, sieht man nur noch Hassrede und Werbungen für Kryptowährungs-Scams. Dabei war Twitter früher zumindest in Teilen eine wunderbare Ideenschmiede und ein Ort, wo künstlerischer Austausch und Internet-Literatur stattfand. Zwar gibt es jetzt ein paar neue Ersatzplattformen, wie Bluesky, Mastodon oder Threads, aber Twitter glänzte damals schon als einmaliges Auffangbecken für eine spezielle Art von Nonsense-Poesie, in dem es sich vortrefflich grinden ließ.

grind = englisch für schleifen, mahlen, aber vor allem für: Arbeit, im Sinne von Schufterei, Plackerei, täglicher Arbeitstrott. Der Begriff „grinden“ beschreibt im Twitter-Kontext den Akt, über Stunden oder Tage hinweg viele Posts zu einem spezifischen Thema zu schreiben.

Einfach nur random

Teil des Twitter-Spaßes war es, die App zu öffnen und irgendeinen Post von jemandem zu finden, der gerade mitten in einem Grind steckt. Man liest dann zum Beispiel diesen Post: „er verhaftet den langen Huhn.“ Nun hat man die Aufgabe, herauszufinden, was das soll. Bezieht sich der Post auf irgendetwas Bestimmtes? Gab es einen Auslöser dafür? Einen aktuellen Vorfall in der Politik oder einen Skandal in der Popkultur? Spezifisch für mich als Österreicher waren Twitter-Posts sehr oft ein Rätsel, weil meine Bubble zum Großteil aus deutschen Usern besteht. Ich musste dann erst herausfinden, ob ich irgendeine wichtige Entwicklung in der deutschen Politik verpasst hatte und ich deswegen nicht verstand, weshalb „er den langen Huhn verhaftet“ oder ab und an auch, wieso er „den long chicken isst“. Gab es ein Video, in dem ein deutscher Politiker irgendetwas über den „long chicken“ von Burger King gesagt hat? Gab es einen Vorfall in der Massentierhaltung? Gab es einen Volksfest-Skandal rund um Hühnerspieße? Oder ist es einfach nur ein Shitpost? Also ein random Post von einer Person, die einfach nur absurdistischen Blödsinn in den Äther hineindreschen wollte. In diesem speziellen Fall: Ja, es war einfach nur ein Shitpost. Das lange Huhn hat keine tiefere Bedeutung. Das lange Huhn hat keinen elaborierten Ursprung. Warum wollte das lange Huhn über die lange Straße gehen? Kein Grund. Der Long Chicken entsprang einfach eines Tages einem random Tweet des Accounts @schlabrowski. Der Original-Tweet vom 15.8.2021 lautete „bin grad im burger kong am nürnberger hbf und gegenüber von mir leckt eine frau ihm mann die finger“ [sic!]. Darunter kommentierte der Account @enunzo „burger kong“ zusammen mit einer Foto-Montage von King Kong wie er ein long-chicken-sandwich von Burger King verspeist. Dann kamen eine weitere Reihe an Drukos (Drunterkommentare), in denen User einfach nur „er isst den long chicken“ kommentierten.

Von Twitter in den Alltag

Am ehesten ähnelt so eine Situation einem Abend mit Freunden, wo man versucht, sich mit Witzen über ein Thema gegenseitig hochzuschaukeln. Nur, dass es hier plötzlich schriftliche Belege für alles gibt. Man kann die gesamte Entwicklung eines Witzes nachvollziehen, man kann sie untersuchen wie archäologische Proben, wie Bohrkerne im Polareis. Nur geht es halt statt um Erdzeitalter um Witze über lange Hühner. Man kann live dabei zuschauen, wie sich Sprache verändert. Manchmal finden Wörter oder Phrasen, die auf Twitter entstanden sind, auch ihren Weg in die Alltagssprache. Oft kommen diese Wörter aus marginalisierten Communitys und finden dann ihren Weg in den Mainstream.

Witze, die keiner versteht

Eine gewisse Kür besteht auch darin, das neue Meme mit schon vorhandenen Meme-Patterns, also gewissermaßen Witze-Schablonen, zu kombinieren. Man nimmt die bloße Struktur älterer Beiträge, und fügt das neue Thema ein, versucht also, einen neuen Dreh auf bereits etablierte Muster zu finden. Dabei kann man den Ausgangswitz auch immer weiter entfremden, schauen, wie sehr man ein Wort falsch schreiben kann, sodass man es gerade noch erkennt. Es ist auch möglich, die Struktur des Witzes immer stärker zu reduzieren, den Witz so unverständlich wie es nur geht zu machen, denn er muss ohnehin nicht erklärt werden. Jemand anderer kann den Witz wieder aufnehmen, muss gar nicht den ursprünglichen Kontext kennen, kann ihn sogar gänzlich ignorieren und etwas Neues erschaffen. Das hat in seiner radikalen Exklusivität etwas überraschend Inklusives. Du verstehst einen Witz nicht? Egal, der Urheber wahrscheinlich auch nicht. Du kannst trotzdem einsteigen, du kannst einfach etwas Neues daraus machen, was wieder niemand versteht. Und so geht es immer weiter. Eine endlose Treppe dummer Witze. Wieso schreiben zehn verschiedene Leute auf Bluesky, Mastodon oder Threads, dass sie sich – Zitat – „eingeschi$$ne“ haben? Keine Ahnung. Ist auch egal. Wichtig ist nur: Auch du kannst dabei sein. Auch du kannst dich einschei$$ne.
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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