Es dauerte über zwei Wochen, bis ich einigermaßen in Bangalore angekommen war. Vielleicht sogar ein paar Tage länger. Bis dahin war es nahezu unmöglich über eigene Projekte nachzudenken. Zu vielfältig waren die neuen Eindrücke, zu anders die Situation, zu unerwartet auch die geradezu ganz körperliche Anstrengung sich in der Stadt zurechtzufinden. Der Perspektivwechsel, das Loslassen und die Gewöhnung an unbekannte Intensitäten visueller, akustischer und olfaktorischer Dichte brauchten mehr Zeit als gedacht. Zudem war das herzliche Willkommens- und Orientierungsprogramm des Goethe-Instituts recht umfangreich, und wir hatten gut zu tun damit auf visionäre Initiativen, engagierte Leute und interessante Locations zu treffen, die in Bangalore vieles bewegen. Dieser Überblick war außerordentlich informativ, inspirativ und kontaktfreudig, der Terminplan machte es allerdings auch schwieriger einen eigenen Rhythmus zu finden und eigene Ideen zu entwickeln. Auch der rege Kulturaustausch auf mikrobakterieller Ebene beanspruchte einige zusätzliche Tage, sodass die Zeit für einen künstlerischen Output, nötige Projektentwicklung, Realisation und abschließende Ausstellung schnell enger wurde.
Ich begann durch die Stadt zu ziehen und verwackelte Fotos aus der Hüfte zu schießen. Hunderte. Mit einer gezielten Motivsuche war ich schlichtweg überfordert, angesichts der Unüberschaubarkeit an Nochniegesehenem. Mit Kamera im Anschlag steht man außerdem blitzschnell im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, ein unbeobachtetes Beobachten ist im Grunde unmöglich. Schon das pure Stehenbleiben und Verweilen sorgt für Aufsehen, denn alles scheint im ständigen Fluss. Der öffentliche Raum brummt, ist immer in Bewegung, jeder hat zu tun, ein totaler Rausch von Trade, Traffic und Transport. Touristen und Flaneure gibt es nicht. Ich war hier im Weg, gestresst und völlig überflüssig im Gewühl. Ich wusste aber schon, dass genau das der Ort sein würde für meine Arbeit. Hier mitten im Chickpet dampfte es aus allen Rohren lichterloh. Jeder Zentimeter war Loch und war Sog, auf engstem Raum und dicht an dicht.
Kunst würde hier mit Sicherheit verloren sein, würde schnell weggeschwemmt von der Reibung an der geballten Ladung Realität. Ich hatte absolut keine Idee. Perfekte Ausgangslage.
Draußen vor der Tür kam ich also nicht weiter. Zu viele Leute, zu viel Chaos, zu viele unscharfe Fotos, zu viel Trash. Ich wollte aufräumen und bei null anfangen. Distanz im stillen Kämmerlein. OMG, es musste was passieren!
1Shanthi Road ist ein toller Ort, eine atmosphärische Rückzugs Insel mitten in der Stadt. Trotzdem ist immer was los, das Haus ist offen, Künstler und Kunstinteressierte gehen ein und aus. Suresh, Ashok und Sundeep pflegen als eingespieltes Host-Team einen ausgesprochen freundlichen und gelassenen Umgang mit ihren Residenten, stehen mit Rat und Tat immer parat, und bieten auch bei alltäglichsten Problemen familiäre Hilfestellung.
Ich räumte mein gesamtes Studio um, verschob die komplette Inneneinrichtung, und machte Platz um den Boden zu säubern. Der Besen in der Shanthi Road war nicht mehr als ein dreckiges Reisigbündel, ein beeindruckend einfaches, aber viel zu kurzes Arbeitsgerät, das man auch auf der Straße oft im Einsatz sieht, und das jeder Reinigungskraft eine überaus ungesunde Körperhaltung abnötigt. "Warum wird dieses Werkzeug hierzulande nicht rückenschonender konstruiert?", fragte ich mich, und begann den archaischen Gegenstand etwas ernsthafter zu betrachten. Das Exemplar, das ich in den Händen hielt, zerfiel zudem schon von selbst in seine Einzelteile, machte also mehr Dreck als es beseitigte. Plötzlich lag das Atelier voller Zweige, die ich alle einzeln wieder mühsam zusammensuchen musste. Beim Reparieren und zusammenbinden passierte es dann: mikadohaft rutschte mir das Ganze aus den Händen und auf dem Boden lag, von einem Moment auf den anderen, eine fragil ausgestreckte Skulptur, eine fein geschichtete Form in multipler Balance, ein gefallener Stern in seinem eigenen Staub. Wow... Aber wie sollte ich das dem Hausmeister erklären?
© Ingo Gerken
Von diesem Moment an sah ich überall potenzielle Skulpturen, jeder Gegenstand war transformierbar, war auflösbar in Symmetrie. Und das bizarre Chaos um mich herum zerfiel quasi zu neuer Ordnung und Schönheit. Erst jetzt erkannte ich auch die höheren Ordnungsprinzipien der Straße und der Märkte. Was vor ein paar Tagen noch nach heillosem Durcheinander aussah, schillerte nun in höchster Brillianz. Ich experimentierte mit Obst, Gemüse, Eiern usw., versuchte von den perfektionistischen Präsentationsformen der Straßenhändler zu lernen, baute Pyramiden und Polyeder aus Frischem, preislich Erschwinglichem, Essbarem. KR Market und Chickpet war nun, inmitten der Überfülle, voller ausgetüftelter Abstraktionen und Minimalismen. Mehr und mehr kristallisierte sich so etwas wie eine Idee heraus.
Aber was war diesem Ort überhaupt noch hinzuzufügen, was wäre die richtige Geste? Als Europäer im indischen Kontext eine Arbeit im öffentlichen Raum abzuliefern, bringt grundsätzliche Fragen mit sich, erst recht, wenn man offiziell durch ein Kulturinstitut unterstützt wird. Wie ist diese abenteuerliche, aber vergleichsweise privilegiert durch finanzierte Situation einzuschätzen und zu behandeln? Wie kann man dieser Chance auf Augenhöhe begegnen in einer Realität, der man selbst nicht wirklich angehört, in der man als Gast herzlich aufgenommen wird, wo aber die politischen, religiösen und gesellschaftlichen Verhältnisse doch ein Rätsel bleiben, man zwar einiges darüber weiß, aber doch nichts wirklich durchdringt oder begreift? Sind ein paar Wochen Aufenthalt genug, um sich hier frei in Denk- und Handlungsweisen einzuloggen, um aus sicherer Distanz künstlerische Behauptungen aufzustellen? Gibt man etwas hinein, oder holt man etwas heraus? Beides? Weder noch? Es gab darauf natürlich keine konkreten Antworten, aber vieles ergab sich durch die Arbeit selbst. Im Prozess, in der Begegnung mit Menschen, die plötzlich da waren, die neugierig waren, die mitmachten und mitdachten, die mich auf Spuren setzten und durch die Stadt lotsten. Was dabei herauskam war etwas ziemlich Großes, leichtes und glänzendes. Etwas, das seine Umgebung in alle Richtungen spiegelt, reflektiert, annimmt und wieder in Teile zerlegt. Etwas, das herumgetragen wurde, das sich durch die Stadt bewegte, das sichtbar war und ortlos blieb. Es hatte seine Licht- und Schattenseiten, war spektakulär für die einen, belanglos für die anderen. Es war ein Fremdkörper, der nicht hierhergehörte, eine geometrische Figur, eine universelle Form. Etwas Grundsätzliches, Fremdartiges, Komplexes. Und es nahm Beziehung auf zu seinem Umfeld, wurde ein Teil davon. Ich nannte es „Platonischer Antikörper“ und warf es quasi als Skulptur in die Menge, in den wilden Fluss, auf dem es für eine Weile unsicher umherschwamm wie ein Papierboot.
Nach der Ausstellung zum Abschluss der
BangaloResidency sahen wir uns die großartige Biennale in Kochi an, und reisten noch ein bisschen weiter durch Kerala. Meine Fotos wurden jetzt schärfer, sobald wir die Peripherien erreichten, die Landschaften sahen und außerhalb der Metropolen einen anderen Eindruck von Indien bekamen. Hier war mehr zu erkennen, der Blick wurde klarer. Auf dem Weg nach Norden gen Goa dachte ich häufig an meine urbane Intervention zurück, und mir kamen jetzt neue Ideen für andere Aktionen, die ich vielleicht beim nächsten Mal realisieren könnte. Ich war mir sicher, dass noch einiges möglich sein würde. Aber als wir endlich den Strand von Kakolem
erreichten, öffnete ich eine Kokosnuss, sah hinaus auf den Indischen Ozean und notierte die letzten Worte dieser Reise:
© Ingo Gerken