Julia Dina Hesse
bangaloREsident@Infinite Souls Farm and Artists Retreat
Julia Dina Hesse studierte Germanistik, Philosophie, Kultur, Kommunikation und Management in Münster und Avignon. Im Anschluss arbeitete sie in der Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Oberhausen, bevor sie 2008 als Dramaturgin an das Schnawwl, Kinder- und Jugendtheater am Nationaltheater Mannheim, wechselte. Für Schnawwl und Junge Oper war sie bis Sommer 2012 für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit zuständig.
Zusammen mit Andrea Gronemeyer und Gerd Taube ist sie Herausgeberin des Buches ‚‚Kindertheater Jugendtheater. Perspektiven einer Theatersparte‘‘. Seit der Spielzeit 2012/13 ist sie Leiterin des Jungen Theaters Münster, wo unter ihrer Regie auch die Kleinkinderstücke oOPiCAsSOo und zuletzt SCHNURGERADE entstanden sind.
Seit November 2015 ist sie Mitglied im Vorstand der deutschen ‚ASSITEJ‘.
Abschlussbericht
Ist das Rot in Indien das gleiche Rot wie in Deutschland? Das war keine theoretische oder gar philosophisch gemeinte Frage: Für unser Kleinkinderstück oOPiCAsSOo brauchten wir die Primärfarben Gelb, Blau und Rot – nicht nur zum Malen, auch zum Mischen. Wenn jetzt das Rot in Indien ein anderes wäre und die Konsistenz der Farbe möglicherweise auch fester oder noch schlimmer, viel flüssiger als in Deutschland, wie würden wir die Bilder malen und Vorgänge spielen können?
Die Wochen der Planung und Vorbereitung auf unsere 10-tägige Tour mit dem am Jungen Theater Münster entstandenen Stück über das Malen und Lautmalen waren für mich sehr aufregend bis besorgt. Natürlich war da die Vorfreude auf all die neuen Orten und Menschen, die uns in Chennai, Trivandrum und Bangalore erwarteten. Aber eben auch – das ist leider eine Macke von mir – die ständige Sorge, dass etwas schief gehen könnte. Das Bühnenbild würde komplett neu in Chennai gebaut, nach Plänen und Fotos, die wir aus sämtlichen Perspektiven gemacht und ans Goethe Institut in Chennai geschickt hatten. Bühnenbildner Kristopher Kempf erhielt zeitweise fast täglich Mails und Nachrichten von mir: „Was ist, wenn die Plexiglas-Scheiben nicht in die Vorrichtungen passen“ oder schlimmer noch „Was ist, wenn sie dort keine so großen, matten Plexiglas-Scheiben haben?“
Das Schöne war, dass meine Sorgen mit jedem Tag, mit dem wir uns dem Abflug näherten, kleiner und meine Vorfreude größer wurde und schließlich im Frankfurter Flughafen ganz verpufften. Da waren wir: Linn und Manuel, die beiden Spieler von oOPiCAsSOo, Bühnen- und Kostümbildner Kristopher (mit einer riesigen, matten Plexiglas-Scheibe im Gepäck) und ich, bereit zum Abflug. Und was noch Schöner war: Alle meine Sorgen waren völlig überflüssig gewesen, denn das Rot in Indien ist wunderbar, ziemlich anders als das, was wir in Deutschland benutzen, aber absolut wunderbar. Denn für die kleinen und großen Zuschauer, egal ob im Museum Theater in Chennai, in der Schule in Chalakudy oder im Ranga Shankara Theater in Bangalore, spielte es gar keine Rolle. Viel wichtiger war es für sie, mit ihren Augen dem Pinsel ganz genau zu folgen, jede Bewegung, jede Wendung auf dem Blatt staunend zu bemerken, manches mit Lachen oder kleinen Rufen zu kommentieren. Oder gemeinsam mit dem Spielern zu entdecken, wie aus Malutensilien ein Esstisch wird oder aus ein paar Wassergläsern eine fröhliche Farbenparty. Und das alles erzählte sich ganz ohne Sprache, denn die Vorgänge und Bilder im Stück stehen für sich. Die wenigen Wörter, die auf Französisch, Spanisch und Arabisch gesagt oder gesungen werden, sind auch für unser deutsches Publikum unverständlich.
Für die beiden Spieler, unseren Bühnenbildner und mich war es in jeder Vorstellung aufs Neue beglückend und faszinierend zu erleben, dass die indischen Kinder ganz genauso viel Spaß am Erleben des Dargestellten, am Genuss des Augenblicks hatten, in dem sie sich mit ebenso viel Freude versenkten wie die Kleinkinder bei uns zuhause.
Am verblüffendsten war für mich, dass auch in Vorstellungen mit 250 Fünfjährigen kein Lärm entstand, obwohl die meisten Kinder von ihren Stühlen aufgestanden waren, um besser sehen zu können. Sie konzentrierten sich so auf das Geschehen vor ihnen auf der Bühne, dass sie sich für nichts anderes um sie herum interessierten. In Deutschland spielen wir unser Stück vor maximal 80 Zuschauern. Als ich im Vorfeld hörte, dass in Indien eine solche Platzbegrenzung unmöglich und unverständlich sei, war ich (mal wieder!) ziemlich besorgt, dass uns die Vorstellungen mit 100 – 250 Kindern komplett um die Ohren fliegen würden. Aber nichts in die Richtung ist passiert. In unserer Wahrnehmung sind die ErzieherInnen in Kindergärten und Schulen strenger als bei uns: die Kinder kamen in ihren Schuluniformen in Zweierreihen in die Theatersäle und waren dabei viel ruhiger, als wir es von zuhause gewöhnt sind. Aber kaum hatte die Vorstellung begonnen, lösten sich die Kinder, rieten mit, was wohl gerade gemalt wurde und diejenigen, die auf Matten am Boden vor der Spielfläche saßen rückten ein paar Zentimeter näher heran.
Diese ehrliche Begeisterung und Wertschätzung unserer Arbeit hat uns an jedem Ort, bei jeder Vorstellung neu beflügelt. Auch das Lob vieler ErzieherInnen und Eltern hat uns gefreut – wie in Deutschland zeigten sich die meisten überrascht, dass so kleine Kinder schon so lange gebannt einer Vorstellung folgen können. Dabei waren die Kinder im Schnitt mit ihren 4-8 Jahren deutlich älter, als unsere 2-4 Jährigen in Münster.
Dass Theater für Kleinkinder in Indien tatsächlich noch viel neuer und unbekannter ist als in Deutschland und Europa, erfuhren wir auch bei unserem zweitägigen Workshop im Anschluss an die letzte Vorstellung beim internationalen AHA-Festival des Ranga Shankara Theaters. Auf Einladung des Goethe Instituts Bangalore kamen hier Theaterschaffende und Mitarbeiter verschiedener Institute aus Südindien, Bangladesh, Sri Lanka und Afghanistan zusammen. Alle hatten oOPiCAsSOo im Festival gesehen und so war der Einstieg über die eigene Seherfahrung sehr spannend für mich – vor allem, weil die Art über das Stück zu sprechen von Beginn an extrem sachlich und niveauvoll war. Keine pauschalen „das war so süß“ – Kommentare wie es oft im Theater für die Allerkleinsten heißt. Jeder Teilnehmende hatte interessante Beobachtungen zur Spielweise, Ästhetik oder einzelnen Szenen gemacht, die respektvoll miteinander diskutiert wurden. Dabei wurde deutlich, dass die Suche nach neuen Ausdrucksmitteln und einer Ernsthaftigkeit in der Kunst für Kinder oberste Priorität hat. Den Kindern etwas zuzutrauen und sie mit neuen Formen jenseits der klassisch erzählten Geschichten in Berührung zu bringen war ein großes Anliegen. Bisherige Methoden wurden kritisch reflektiert, Wünsche für den professionellen künstlerischen Umgang mit den jungen Zuschauern, den eigenen Kollegen im Theater für junges Publikum, aber auch mit Eltern und Pädagogen wurden formuliert und festgehalten. Diese wurden dann auch in praktischen Übungen ausgelotet und in verschiedenen Überlegungen zur Vernetzung und Qualitätssicherung durch bestimmte Grundforderungen an Kinder- und Jugendtheater vertieft. Auch hier gab es großes Interesse und Offenheit, Impulse von bereits erfolgreich etablierten Strukturen und Netzwerken wie der ASSITEJ aufzugreifen. Am Ende des zweiten Tages waren sich alle einig, über den Workshop hinaus in Kontakt bleiben zu wollen und gemeinsam an verbesserten Bedingungen und Arbeitsweisen im Kinder- und Jugendtheater ihrer Regionen zu arbeiten. So sind wir bis jetzt im Kontakt und ich hoffe sehr, dass wir uns bei verschiedenen Festivals oder Workshops in Zukunft wieder begegnen, weil ich unbedingt erfahren möchte, was sich in den einzelnen Städten und Ländern tut. Und eine Idee für ein nächstes Projekt in Bangalore gibt es auch schon … Der zweite Abend endete mit einer originellen und rasant inszenierten Vorstellung des Stücks HOW COW, NOW COW von Andri Beyeler der Sandbox Production. Ich kannte das Stück bereits aus Deutschland und habe mit viel Spaß die Verpflanzung des Bauernhofes aus einem europäischen Dorf in das ländliche Umfeld der Millionenstadt Bangalore erlebt.
Inzwischen sind wir alle wieder zuhause. Nach unserem Workshop haben wir noch zwei Wochen Urlaub gemacht und sind von Bangalore wieder nach Trivandrum gereist. Entsprechend voll sind unsere Speicherkarten mit Fotos und unsere Köpfe mit Erinnerungen an Erlebnisse im Nachtzug, auf dem Felsen aus steinerner Elefantenhaut, am Strand, im Dschungel, mit Riksha-Fahrern und einem alten Mann in Kochin, der uns den besten Massala Chai servierte oder den Kellner, dessen Alter keine von uns zu schätzen vermochte, in dem winzigen Restaurant mit dem köstlichen Milchkaffee und den süßen Gebäckbällchen. Wir machen Witze über Linns Versuche, immer das leckerste und gesündeste Gericht auf der für uns unverständlichen Speisekarte zu bestellen und am Ende immer doch wieder das Dal zu nehmen. Wir vermissen die Gerüche und die milde Luft auch in der Nacht und das Meer, das so warm ist wie eine Badewanne. Wir vermissen all diese Dinge, die so anders sind als bei uns, von denen man überall im Reiseführer liest und im Fernsehen sieht, und die dann im eigenen Erleben doch plötzlich so unfassbar und einzigartig sind – jedes Mal wieder.
Kurz nach meiner Rückkehr habe ich für Kirtana Kumar, die künstlerische Leiterin des Artist Retreats Infinite Souls, wo wir unseren Workshop abgehalten haben einen kleinen Text geschrieben. Ich füge ihn hier noch bei.
Dear India,
since I got back home I miss your colorful wonders: The bluegreengreyyellow sunlight dropping through the clouds. The flittering songs of the horn orchestra in the street, the woohoo and zzripping and zaazaa in the forests. The crowds, the continuous too-much of everything, both richness and poverty. The contrast, the omnipresent contradictions melted in one giant creature, not this not that, yet bigger than I could describe or even understand. Equally blessed and haunted, always magical.
Since I got back I am sitting in my dry apartment in my clean street in my spotless city. So quiet, I get scared by the loudness of my own thoughts. So proper, I go to my closet and take a deep breath from the unwashed clothes I brought back from your flavored air.
I guess, that's about missing you a lot.
Fleeing from the indifferent cold rain outside, I take a shower, imagine it to be the monsoon and hope for the best.
Love, J
Vielen Dank an all unsere Gastgeber in Chennai, Trivandrum und Bangalore: Mrinaalini vom GI Chennai (sie hat alle Gläser, Flaschen, Tücher usw. für das Stück besorgt!!!) und die fantastische Unterbringung und Betreuung von Aysha Rau, der Managerin vom Little-Theatre Festival, Bobby vom GI in Trivandrum (er hat uns das beste vegetarische Restaurant in Trivandrum gezeigt, das hätten wir in keinen Reiseführer gefunden), die LehrerInnen der Carmel-Academy in Chalakudy (und den SchülerInnen der Deutschklasse, der wir den Ohrwurm von Peter aus Düsseldorf verdanken), Christoph Bertrams und Maureen Gonsalves vom GI Bangalore, die die ganze Planung im Vorfeld und die Organisation des Workshops übernommen haben), Kirtana Kumar, die mit dem Weiterleiten der DVD den Stein ins Rollen gebracht hat, dem Ranga Shankara Theater und Arundhati Nag für die wunderbare Zeit in ihrem herrlichen Theater.