Ich habe versucht ohne eine konkrete Vorstellung, sondern nur mit einem Interesse nach Bangalore zu kommen, um mich von dem, was ich dort beobachten kann, überraschen und entführen zu lassen und nicht einer bereits vordefinierten Idee hinterherzujagen.
© Marius Land
Mein Interesse galt der indischen Kulturtechnik „Jugaad“. Dem Finden von vorläufigen Alltags-Provisorien und Lösungen in Ermangelung an den eigentlich benötigten Ressourcen. Genau wie dieses Zusammenbasteln, immer mit dem geschieht, was eben gerade da ist, habe auch ich versucht, treibend und nicht suchend durch die Stadt zu gehen und anhand von Interviews und dem Beobachten mit der Kamera, herauszufinden, was Menschen darunter verstehen, sich in provisorischen Verhältnissen und Behelfen einzurichten. Was ein Leben in der Strömung bedeutet. Meine Frage war, ob dieser Zugang breiter angelegte Begriffe von Funktion und Wertigkeit von Objekten zulässt, die sich über die engen Kategorien kapitalistischer Verwertungszyklen hinwegsetzen und dadurch ein anderes ökologisches Denken ermöglichen.
© Marius Land
Persönlich wurde auch ich acht Wochen in ein Provisorium geworfen. Keine Küche, immer auf ein Taxi angewiesen, den Blick auf Google Maps geheftet, abends taub von den Hupen, gefiltertes Wasser, die Hitze, die Hitze, die Hitze, Reis und Curry zum Frühstück, Mittag- und Abendessen.
Je mehr Menschen ich befragte, immer bekam ich eine andere Antwort, was Jugaad bedeutet, sodass schnell klar war, dass meine Arbeit nicht darin bestehen soll, eine definite Aussage zu machen, sondern Kontingenzen aufzuzeigen. So entwickelte sich während der Residenz ein Text, in dem ich versuche verschiedene Geschichten und Beobachtungen zu verknüpfen. Denn dies hallt in mir am stärksten nach, dass es zu jeder Behauptung, zu jeder Feststellung, die man für sich gefunden zu haben scheint, auch immer das genauso wahre Gegenteil gibt. Dass ein ständiges Aushandeln stattfindet. Dass nicht politischen Institutionen und zentralisierten Systemen vertraut wird, sondern vielmehr mannigfaltige, informelle, verwobene Netzwerke aus Familie, Herkunft, Beruf, etc. das Alltägliche bestimmen. Dass Indien viel zu komplex und daher immer nur vereinfachte Projektionsfläche von Wünschen und Ängsten des Westens ist. Dass der Vergleich nicht funktioniert.
© Marius Land
Mein Host Daily Dump war ein Akteur im Aushandeln eines neuen ökologischen, dezentralisierten Denkens, welches auf Verantwortung, Flexibilität und Eigeninitiative beruht. Welches etablierte Begriffe wie „Abfall" und ‚Müll‘ versucht aufzubrechen und neu zu beschreiben, als elementaren Teil eines Wertkreislaufs. Ich wollte hier arbeiten, da mich die Frage, wie man durch Gestaltung und Kunst das Nachdenken, Sprechen und Handeln über ein Thema verändern kann, auch in meiner Arbeit interessiert. Poonam Bir Kasturi, die Gründerin, hatte leider aufgrund eines Umzugs und anschließenden Urlaubs nicht so viel Zeit, wie ich mir erhofft hatte, doch dies gab mir den Raum, mir eigene Strukturen zu erarbeiten, wie ich mit Menschen zusammen kommen kann. Dennoch erfuhr ich von Daily Dump viel Unterstützung und lernte durch die Mitarbeitenden viel über die lokalen Verwertungsstrukturen für Abfall. Man sollte sich also vorher genau mit dem Host abstimmen, was von der jeweiligen Seite erwartet wird und ob diese Erwartungen zusammenlaufen. So hatte ich keine Kochmöglichkeit und kein Internet in meiner Wohnung, was vor allem anfangs schwierig war und sich bestimmt mit besserer Absprache im Voraus hätte klären lassen. Gleichzeitig wurde mir durch das sehr offene Residenzformat sowie die Haltung meines Hosts eine maximale Freiheit ermöglicht, ohne Kompromisse an meinem Projekt zu arbeiten.
Durch das Goethe-Institut besuchten wir viele Veranstaltungen und lernten schnell ein großes Netzwerk an Menschen kennen. Während der Residenz gab es durch die Buddies immer einen Ansprechpartner und alles wurde versucht möglich zu machen.
In vielen Veranstaltungen, Aufführungen und Gesprächen, hatte ich immer mehr den starken Eindruck, dass dem künstlerischen Schaffen hier eine große Dringlichkeit innewohnt. Dass künstlerische Arbeit hier fast immer auch politische Arbeit ist und es wenig Platz für rein ästhetische, sondern für programmatische und integrativ performative Diskurse gibt. Diese Dringlichkeit und Direktheit hat mich beeindruckt. Ich hatte das Glück, viele intensive Bindungen knüpfen zu können, da Menschen mir, meinen Fragen und meinem Thema offen und interessiert entgegentraten. Dies war wichtig, um aus dem anfangs Chaotischen und Überschwellenden einen Alltag zu entwickeln, in dem sich für mich Zusammenhänge erahnen ließen.
© Marius Land
Als weißer, männlicher Europäer wurde mir immer wieder eine besondere Aufmerksamkeit zuteil, der Andere zu sein. Egal, wo man sich in der Stadt bewegt, steht man unter beobachtendem Interesse. Dieses Anderssein ständig vermittelt zu bekommen und nie einfach in der Masse verschwinden zu können, war eine intensive Erfahrung, die in mir nachhallt. Gleichzeitig musste auch ich erst einen Umgang mit meiner Rolle als Fotograf und damit als Beobachter finden, der nicht exotisiert und die Leute, mit denen ich arbeite, ausstellt. In mir bleibt die Frage, ob ich nach acht Wochen überhaupt Behauptungen machen kann und will, ohne mich selbst und die Institution des Goethe-Instituts mit einzubeziehen. Ohne die Privilegien der Residenz und des sicheren Rückflugtickets mitzureflektieren. Meine Arbeit ist der Versuch, ein Gespräch zu beginnen, welches hoffentlich anhält und in dem über einander gelernt werden kann.
© Marius Land
Bangalore war lange Zeit die Gartenstadt. Aber sowie sich heute Breitband-Leitungen überall wuchernd durch die Bäume der Stadt schlängeln, ist überall ein Gewirr aus neuer funktionaler und alter bröckelnder Architektur, viel zu viel Verkehr und eine überforderte Infrastruktur. Die Stadt ist beeindruckend in ihrer Profanität und Alltäglichkeit auf der einen, und ihrer krassen technologischen und humanitären Kontraste auf der anderen Seite. Sie ist zu groß, um erfasst zu werden und fühlte sich gleichzeitig nach den acht Wochen wie etwas gewohnt Vertrautes an. Meine Zeit hier war auf vielen Ebenen sehr intensiv und ich bin dankbar über die Möglichkeit im Rahmen der Residenz und mit so viel Unterstützung da gewesen sein zu können.
Erst am letzten Tag fiel mir wirklich auf, dass ich keine der Sehenswürdigkeiten besucht hatte. Aber dies scheint mir der beste Beweis, wirklich dort gewesen zu sein.