© Nandin Reschke
Ich sitze am großen Tisch auf der Terrasse von 1 Shanthi Road, dem Art Space in Shantinagar, der für die nächsten 5 Wochen mein Zuhause ist. Das wird mein Lieblingsplatz, denke ich- ein Ort im Zwischendrin-offen für Begegnungen. Wie die Kaffeemaschine hier funktioniert habe ich schon verstanden, während sich sonst viele Fragen in mir stapeln.
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Bangalore ist laut und intensiv. Die Geräusche der Straße in meinem Kopf, fühle ich mich durchlässig und dünnhäutig. Ich bin unruhig, würde gern anfangen, mich auf mein Projekt zu konzentrieren. Erstmal Kaffee und ein Dosa, ein dünner, crepesartiger Pfannkuchen mit scharfen Saucen.
In der ersten Woche bin ich beeindruckt und erschöpft durch Bangalore´s Komplexität. Ich versuche anzukommen, räume mein Studio um, richte mich ein und lerne die anderen Künstler*innen in 1 Shanthi Road kennen. Ich erkunde die direkt Umgebung in Shantinagar und beobachte dabei vor allem die Verwendung von Stoffen und Textilien im Stadtraum. Egal, wo man ist, tauchen Textilien in jeder Art auf. Die Wäsche wird draußen am Haus aufgehängt und getrocknet, sodaß meterlange Saris mit leuchtenden Farben und Mustern die Fassaden bedecken. Stoffe werden verwendet, um gebaute Architekturen temporär nach außen zu erweitern, z.B. durch Baldachine und Dachkonstruktionen wie den Schattenspendern auf dem KR Flower Market. Während dieser ersten Stadterkundungen verstehe ich auch, dass der Verkehr diese Stadt streckenweise komplett lahm legt und ich Stunden brauchen werde, um mich mit Uber-Taxis, Autorikshaws oder der Metro durch die hindurch zu bewegen.
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Suresh, der Gründer von 1 Shanthi Road macht für uns neu angekommene Künstler*innen eine Präsentation über die Geschichte von Bangalore, erzählt von Kempe Gowda´s ursprünglicher Stadtplanung im 16.Jahrhundert, seinem Gemisch aus Parks, Gärten, einem Markt, einer Festung und den verschiedenen produzierenden Gemeinschaften, die im Zusammenspiel Stadt gestalten sollten.
Ich merke, dass die Stadt für mich eher ungreifbarer als greifbarer wird, je länger ich hier bin. Ursprünglich hatte ich vor, meine Arbeit in Bangalore direkt mit Webern, also Personen im Textilsektor, die an der direkten Produktion beteiligt sind, zu entwickeln. Ich wollte auf Handwebstühlen arbeiten und mit Webern kooperieren, die als zunehmende Minderheit diese lange Tradition bis heute fortführen. Eine Tradition, die bereits Mahatma Gandhi als eine Form des friedlichen Protestes verstand, indem die ärmere Bevölkerung durch die Herstellung eines eigenen Khadis und das Wissen um das Weben Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erlangen sollte. Es stellt sich schnell heraus, daß so eine Kooperation in der kurzen Zeit, in der ich hier bin, nicht realisierbar ist.
Danach entsteht ein Vakuum, eine Leere in mir, die sich zuerst schwer aushalten lässt. Eine Artist-in-Residence in einer anderen Kultur ist immer eine Herausforderung, nicht nur physisch durch unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten und das veränderte Klima, sondern auch emotional. Es bringt einen aus der Komfortzone heraus und wirft viele Fragen auf. Aber dieser Zustand der Verunsicherung ist ein perfekter Ausgangspunkt für eine neue Arbeit.
Ausgangspunkt meines sich dann entwickelnden Projekts sind meine alltäglichen Erfahrungen als Frau in Bangalore. Ich muss mir eingestehen, dass die Stadt mich komplett verunsichert: Wie bewege ich mich, wie sehe ich aus, welche Art von Gesten verwende ich? Wie werden diese Erfahrungen durch mein Geschlecht beeinflusst?
© Nandin Reschke
Ich fühle mich eingeengt und in meiner körperlichen Bewegung eingeschränkt. Ich fange an,Tanzkurse zu besuchen, um das zu kompensieren. Wenn ich um 21 Uhr im Dunkeln vom Tanzkurs nach Hause laufe, fühle ich mich unwohl. Männliche Freunde sagen mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich mache mir keine Sorgen, aber meine verkörperte Erfahrung kann nicht geleugnet werden. Ich schließe mich einer Freundin an, die jeden Morgen durch den Botanischen Garten von Lal Bagh joggt. Durch Gespräche mit ihr verstehe ich, dass jeder seine eigene Taktik entwickelt, um mit geschlechtsspezifischen Einschränkungen im täglichen Leben in dieser Stadt umzugehen.
Von hier ist es nur ein weiterer Schritt und ich bin mitten in meiner Arbeit: Ich beginne, Gespräche mit anderen Frauen über ihr Leben in Bangalore zu führen. Erlebten Sie Ähnliches? Ich frage, wie sich die unmittelbare Umgebung auf uns auswirkt. Ich frage, wie wir geschlechtsspezifische Räume navigieren, wo wir uns sicher fühlen können und wie Geschlechterrollen innerhalb von familiären Umgebungen unser Leben prägen.
Meine künstlerische Arbeitsweise basiert immer auf dem direkten Austausch mit Menschen. Im Mittelpunkt meiner Praxis steht die Erschaffung von Prozessen die Kommunikation ermöglichen.
Während der Gespräche erkunden wir Ähnlichkeiten und Unterschiede unserer Erfahrungen. In den Begegnungen erlebe ich, dass wir viel gemeinsam haben. Das Fragen und Zuhören erlaubt mir, mich selbst in dieser Situation besser zu verstehen. Ich bin beeindruckt von vielen unterschiedlichen Aneignungsstrategien der Stadt.
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Bangalore ist eine Stadt der Fremden: eine Metropole aus Menschen, Kulturen und Sprachen aus vielen verschiedenen Regionen. Für einige ist sie ein Ort der Befreiung, für andere bedeutet sie Einschränkung, Ausgrenzung und sogar Verlust an Rechten und Freiheit. Durch die vielen Gespräche verändern sich nicht nur meine Wahrnehmung der Stadt sondern auch mein Gefühl und Verhalten in der Stadt. Ich werde wieder selbstsicherer. Damit kommt auch die konkrete Idee der Umsetzung.
In meinen Arbeiten verwende ich Stoffe und Textilien als skulpturales Material, als Träger von Identitäten, von kollektiver Geschichte und individuellen Erfahrungen. Während meiner Zeit in Bangalore beschäftige ich mich mit verschiedenen lokalen Textiltraditionen, besuche Webereien, spreche mit den Produzent*innen und Verkäufer*innen von Stoffen und Textilien.
Ich fange an Saris zu sammeln, weil ich fasziniert bin von diesem 6 Meter langen komplett ungeschnittenen Stoff, welcher man auf hundert verschiedene Arten um den Körper gewickelt werden kann, um ein Kleidungsstück zu werden. Ich recherchiere die Designs der Saris genauer, um ihre Farben und Muster, vor allem auf der Bordüre zu verstehen. Besonders interessiert mich der Pallu, das Endstück des Saris, welcher keine Funktion mehr erfüllt, sondern über die Schulter geworfen und zur Dekoration gefaltet wird. Der Pallu besteht fast immer aus Linien und
geometrischen Formen, die einen Rahmen bilden.
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Diese Formen und Linien fordern mich schliesslich dazu auf, einzelne Aussagen der Gespräche als Text auf die Saris zu drucken, so als würde jeder Sari fragmentarisch eine Geschichte erzählen. Text und Textil: Beide Wörter haben den gleichen Ursprung – der aus dem Lateinischen kommt und "weben" bedeutet. Ein Text ist aus Wörtern gewebt, manchmal findet man einen Faden, der einem beim Lesen führt. Ich möchte, dass die Texte so sehr Teil des Saris werden, das sowohl Text als auch Textil gleichwertig zueinander finden.
Zusammen mit einer Designerin aus Bangalore, die Teil des Projektes ist, erstellen wir ein grafisches Layout für jeden einzelnen Sari. In einer lokalen Siebdruckerei werden alle, insgesamt 15 Saris im Siebdruckverfahren bedruckt, jeder von ihnen - entgegen den Möglichkeiten des reproduzierbaren Verfahrens - ein Einzelstück.
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Die bedruckten Saris hänge ich in einer raumgreifenden textilen Installation in der 1 Shanthi Road Galerie, einer temporären Präsentation, die geschlechtsspezifische Realitäten anerkennt, aber auch Themen und Anliegen verschiedener Sexualitäten, Geschlechteridentitäten und sexueller Gewalt gegen Frauen und Geschlechterminderheiten berührt.
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Die Arbeit konnte nur durch die Hilfe und die Begegnungen mit vielen Menschen, denen ich sehr dankbar bin, realisiert werden. Mein besonderer Dank gilt allen Frauen, die dieses Projekt ermöglicht haben, insbesondere Avnit, Shrunga, Devi, Arshi, Mona, Shilok, Anisha, Harshita, Sandhya, Anitha, Siri und Anna und allen anderen. Dank an Shrunga für die Hilfe beim grafischen Layout, an Ashok für die Bearbeitung der Texte, an Sandhya für die Übersetzung. Ein besonderer Dank geht an alle von 1 Shanthi Road, die diesen einzigartigen Ort zum Arbeiten, Kennenlernen und Wohlfühlen geschaffen haben. Und ein großer Dank natürlich dem ganzen Goethe-Institut - dem ganzen Team - für ihre Unterstützung bei allem, was in diesem Projekt gebraucht wurde.