Stadtkonturen Dresden
Zwischen Prunk und Platte
Dresden ist barock, spießig, maulfaul? Die sächsische Landeshauptstadt kann auch anders – modern, alternativ, überraschend. Unsere Autorin Kaddi Cutz zeigt das Elbflorenz von einer anderen Seite und unterzieht damit so manches Klischee einer Generalüberholung.
Von Kaddi Cutz
Ein zauberhafter Kessel Buntes
Jedes Jahr im Juli legt sich für zehn Tage ein Zauber über den Hinterhof des Kulturzentrums Scheune im Szeneviertel Neustadt. Verwunschen, mitunter surreal und bonbonbunt wirkt der Jahrmarkt, voll wunderbarer Absonderlichkeiten, flauschiger Zuckerwatte und einer ganz eigenen Magie. Gaukler*innen, Tänzer*innen, Musiker*innen und Spaßmacher*innen flanieren um die vielen kleinen Buden herum, die für einen schmalen Taler allerlei Skurriles aber auch traurig oder schaurig Schönes und Ernsthaftes für kulturell versierte Perlentaucher*innen bereithalten. Unterhaltungskünstler*innen aus aller Welt geben sich die Klinke in die Hand, um elf Abende lang die Gäste mit besonderen und immer wechselnden Darbietungen und Attraktionen zu überraschen. Dresdner*innen, die das ihnen vorauseilende Klischee bestätigen, ausgemachte Spießer zu sein, finden hier ihren Endgegner. Am Ende jedes Schaubudenabends gibt es außerdem eine „Mitternachtsüberraschung“: Konzerte vom Privatbalkon, Puppentheater im Park und vieles mehr. Der Schaubudensommer ist eine schillernde Mischung aus Glitzer und Glamour, aus Zirkus und Theaterschminke, Staunen und Begreifen – ein Sommernachtstraum der besonderen Art, den man auf keinen Fall verschlafen sollte.
Prunkvolle Aussicht für alle
Einen der schönsten Blicke auf das Elbtal und die darin liegende Stadt Dresden bietet das Lingnerschloss. Der spätklassizistische Prachtbau bildet zusammen mit den Schlösserbrüdern Eckberg und Albrechtsberg das gemeinhin als „Die Elbschlösser“ bekannte Trio. Alle haben den Zweiten Weltkrieg ohne Einschläge überstanden, was an ein kleines Wunder grenzt, da ein Großteil der barocken Bausubstanz Dresdens den Bomben zum Opfer fiel. Während Eckberg und Albrechtsberg für die Öffentlichkeit weitestgehend geschlossen sind – Ersteres ist heute vor allem ein Hotel, das zweite eine begehrte Hochzeitslocation und Veranstaltungsstätte, etwa für die jährliche Buchmesse „Dresden (Er)Lesen“ – ereilte das Lingnerschloss ein anderes Schicksal. Benannt ist das einst für Prinz Albrecht von Preußen erbaute Schloss nach dem Mann, der es 1906 kaufte: Karl-August Lingner, seines Zeichens Unternehmer, Mäzen, Produzent und überzeugter Vermarkter des Mundwassers Odol. Zehn Jahre lang lebte er selbst im Schloss, bevor er 1916 ausgerechnet an einem Mundhöhlenkarzinom verstarb. Das Schloss vererbte er der Stadt Dresden, verbunden mit der ausdrücklichen Auflage, das Anwesen allen Bürger*innen zugänglich zu machen und nicht bloß der gutbetuchten Oberschicht vorzubehalten. Das gastronomische Angebot sollte sich durch für alle bezahlbare Preise hervortun. Bis heute können daher Gäste des Biergartens und des Restaurants bei gutem Wetter einen kilometerweiten Blick über die Weinberge hinweg bis nach Tschechien genießen – und zum Beispiel ein wechselndes alkoholisches Getränk zum Schnäppchenpreis von 0,75 Euro genießen. Seit 2002 setzt sich zudem der Förderverein Lingnerschloss e.V. für Sanierungsarbeiten und kulturelle Nutzung des Anwesens ein. Einige Räume sind inzwischen wieder offen für Ausstellungen, Filmvorführungen, Trauungen und kulturelle Veranstaltungen. Lingner auf seiner atemfrischen Wolke wird es freuen!
Die Dresdner Platte
Dresden kann nur barock? Von wegen! In den 1960er-Jahren erlebten auch hier die Plattenbauten einen echten Boom. Sozialer Wohnungsbau in Stapelform wurde zum Inbegriff der Ostmoderne – quadratisch und praktisch war das in jedem Fall, sexy aber eher weniger. Nach dem Mauerfall jedoch ging die Nachfrage drastisch zurück und die Wohnanlagen, die einst als schick galten, entwickelten sich zunehmend zu sozialen Brennpunkten. Seitdem ist die „Platte“ für viele ein Synonym für sozialen Abstieg und Inbegriff eines denkbar hässlichen Wohnumfelds. Dabei geht es auch völlig anders, wie die Kräutersiedlung in Gorbitz zeigt. Ehemals ein Dorf mit Bauernhöfen, Fachwerk und Feldern, musste der Dresdner Stadtteil Gorbitz nach der Wende ein buchstäblich schweres Betonerbe antreten, hatte das SED-Politbüro doch seinerzeit eine mehrere Tausend Wohnungen umfassende Plattensiedlung mitten hineingebaut. Über viele Jahre hinweg bemühte sich die Dresdner Eisenbahner Wohnungsgenossenschaft (EWG) um eine Aufwertung des größten Neubaugebiets der Stadt. 2002 war es dann soweit: Die EWG begann mit dem Rückbau der Sechsgeschosser, zwei bis drei Etagen wurden abgetragen, Küchen und Bäder vergrößert und mit Fenstern ausgestattet, neue Balkone angebaut, alles modernisiert und mit neuem Anstrich und viel Grün versehen. Heute wohnt es sich zwischen dem Kamillen- und Thymianweg so schön und zeitgemäß, dass in Gorbitz bereits mit einem weiteren Umbauprojekt nachgelegt wurde.
Klassik statt Hopfenkult
Weil die Biermarke Radeberger einst die Semperoper ein bisschen zu prominent in einem Werbespot platzierte, sind Tourist*innen bis heute mitunter etwas überrascht, dass in dem von Gottfried Semper erschaffenen Prunkbau kulturelle statt hopfenhaltige Unterhaltung geboten wird. Die Semperoper ist natürlich keine Brauerei, sondern eine der berühmtesten Spielstätten der Welt und nicht nur zum alljährlichen Semperopernball ein Publikumsmagnet. Das Opernhaus auf dem Theaterplatz ist bereits das dritte Gebäude der Spielstätte – das erste Haus fiel 1869 einem Brand und der Wiederaufbau 1945 einem Luftangriff zum Opfer. 40 Jahre später wurde die Semperoper in ihrer heutigen Form eröffnet und präsentiert seitdem rund 250 Aufführungen pro Jahr. Das prunkvolle Innenleben kann übrigens auch außerhalb der Vorstellungen im Rahmen einer Führung bewundert werden. Dabei erfährt man dann auch, dass beim Wiederaufbau doch irgendwie Bier im Spiel war: Die künstliche Holzvertäfelung im Foyer verdankt ihren natürlich wirkenden Farbton einer Behandlung mit dem hopfenhaltigen Kaltgetränk.
Des Katers Königreich
In Dresdens Kult-Buchladen Bücher’s Best ist der heimliche Chef eine Katze. Ladenkater Myamoto Musashi hat das rege Treiben stets im Blick und gibt auch ein hervorragendes Kuscheltier für entscheidungsgeplagte Leseratten ab – wenn er denn Lust dazu hat. Das Geschäft von Jörg Stübing, genannt „Stü“, eigentlich studierter Philosoph und nur durch Zufall im Buchhandel gelandet, ist ein echtes Kleinod: Hier finden sich Menschen, die sich im Alltag vermutlich nie über den Weg laufen würden, in angeregten Fachsimpeleien und spontanen Rezitationssessions wieder. Maulfaule Dresdner*innen trifft man hier eher nicht, auch wenn einem die liebevoll durchdachte und vielseitige Auswahl schon mal die Sprache verschlagen kann: Kein Buch steht hier ohne Grund. Empfehlungen treffen fast immer ins Schwarze. Kleinstverlagen und regionalen Autor*innen ist ein ganzes Regal gewidmet. Nicht selten tauchen diese auch persönlich auf, um vor dem Auftritt bei der Lesebühne oder beim Poetry Slam noch etwas Zeit mit einem Plausch oder Katerkraulen zu überbrücken. Nach Feierabend lädt Stü außerdem selbst regelmäßig zu Ausstellungen, Konzerten und Lesungen in seinem Laden an der Louisenstraße ein, im Sommer auch unter freiem Himmel im Garten.
Soulfood für Cineast*innen
Wer auf der Suche nach besonderen Filmschätzen ist, kommt am Programmkino Ost nicht vorbei. Das Filmtheater im Stadtteil Blasewitz ist die Adresse für europäischen Autorenfilm, Dokumentationen und außergewöhnliche Leinwandjuwelen. Die Betreiber*innen Jana Engelmann und Sven Weser zeigen nur das, was sie selber so richtig gut finden – und das schon seit über zwei Jahrzehnten. Das hat sich rumgesprochen: pro Jahr kommen bis zu 180.000 Filmfans aus der ganzen Region ins PK Ost, wo restaurierter Stuck auf modernste Kinotechnik trifft, um sich voll und ganz dem Filmgenuss hinzugeben.
Alt wie ein Baum
Wer in Dresden historische Dorfkerne entdecken will, der halte sich an folgende Faustformel: Wo „Alt-“ davorsteht, da ist auch Altes drin. Ob Alt-Trachau, Altpieschen oder Altkötzschenbroda (okay, streng genommen nicht mehr ganz Dresden, aber wir wollen bei diesem Idyll nicht kleinlich sein) – in diesen malerischen Orten mit ihren Vierseitenhöfen, Bauern- und Handwerkshäusern fühlt man sich wie auf einem Zeitmaschinen-Trip. In Altkaditz etwa steht auf dem Kirchhof der Emmauskirche „die Tausendjährige“. Tatsächlich wird die gewaltige Linde vor dem 300 Jahre alten Pfarrhaus der evangelisch-lutherischen Laurentius-Gemeinde von Expert*innen auf stolze 850 Jahre geschätzt – mindestens. Damit ist sie der älteste Baum Dresdens. Rund 20 Meter ist sie hoch, etwa die Hälfte misst der Umfang ihres kurios geformten Stammes. Bei einem Dorfbrand 1818 wurde die Linde schwer beschädigt, der Stamm teilte sich in zwei Hälften und wuchs dann abnorm wieder zusammen. Das Innere ist hohl und wird von Stützen gehalten, über die Jahrzehnte hat sich jedoch von innen heraus neue Rinde gebildet. Seit 1985 ist die Kaditzer Linde Naturdenkmal.
In der Mitte liegt die Kraft
Rückwärtsgewandt, dem Alten verhaftet, nicht offen für Neues – diese Attribute fallen nicht selten im Zusammenhang mit Dresden. Das Kraftwerk Mitte straft diese Zuschreibungen jedoch Lügen. Das gewaltige, 40.000 Quadratmeter umfassende Industriedenkmal aus dem 19. Jahrhundert hat sich zu einem einzigartigen, pulsierenden Hotspot für Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft gemausert. Das ehemalige Heizkraftwerk in der Wilsdruffer Vorstadt wurde 1944 stillgelegt und wird seit Ende 2016 nur noch kulturell befeuert. Die Staatsoperette Dresden hat hier ebenso eine neue Heimat gefunden wie das tjg. theater junge generation. Direkt nebenan kann in der Eventlocation Kraftwerk Mitte gefeiert werden, im Zentralkino gibt es feine Filme, weiterbilden kann man sich im Energiemuseum und der Musikhochschule. Auch architektonisch ist das Kraftwerk Mitte ein echtes Highlight. Mehrere Gebäude aus dem Industriezeitalter, zum Teil eingetragene Kulturdenkmale, mischen sich hier mit neuen Bauwerken. Für den Umbau zum kulturellen Zentrum gab es daher 2017 auch den Sächsischen Staatspreis für Baukultur.
Regenschirm nicht vergessen
Niederschlag ist in Dresden noch lange kein Grund für Niedergeschlagenheit. Vor allem in der Kunsthofpassage, die sich durch mehrere aufwändig gestaltete Hinterhöfe der Dresdner Neustadt zieht, sorgt Regen regelmäßig für Segen: Im „Hof der Elemente“ erzeugen die Regenrinnen vor blauer Häuserfassadenkulisse ihre eigene Musik. Die Konstruktion ist ein Gemeinschaftswerk der Bildhauerin Annette Paul sowie der Designer Christoph Roßner und André Tempel. Fällt im Szeneviertel Regen, durchläuft das Niederschlagswasser ein ausgefuchstes Labyrinth aus Rohren, Trichtern, Trompeten, Wasserfällen und Plattformen, ehe es in einem Becken aufgefangen wird. Auf seinem Weg schafft es eine eigene, immer andersklingende Melodie. Wer dem Konzert entspannt lauschen möchte, sollte auf keinen Fall den Regenschirm vergessen. Ansonsten sitzt man aber auch in den benachbarten Höfen des Lichts, der Metamorphosen, der Tiere und der Fabelwesen mit all ihren verspielten und versteckten Details und außergewöhnlichen Geschäften nicht auf, aber im Trockenen.
Im Kern ist alles dabei
Es ist natürlich wenig innovativ, ein Stadtzentrum als Sehenswürdigkeit anzupreisen. Dresden jedoch kleckert nicht, sondern klotzt mit einer geballten Ansammlung von Must-have-seens, die fußläufig in wenigen Stunden erreicht werden können. So finden sich im historischen Stadtzentrum am Elbufer dicht an dicht der barocke Gebäudekomplex Zwinger, in dem Museen wie die Sempergalerie und die Meißner Porzellansammlung untergebracht sind, die Semperoper, einstige sächsische Hof- und Staastsoper aus dem 19. Jahrhundert, das Residenzschloss, damals Sitz der sächsischen Kurfürste und Könige, die historische Altstadt-Promenade an der Elbe „Brühlsche Terrasse“, das von dort abgehende Altstadtsträßchen Münzgasse und die berühmte barocke Frauenkirche am Neumarkt. Auch Kunstfreund*innen finden im gleichen Areal alles, was das Herz begehrt: Die Gemäldegalerie Alte Meister mit der Sixtinischen Madonna und anderen spektakulären Kunstwerken, die Staatlichen Kunstsammlungen und das 2019 nach einem bisher ungeklärten Kunstraub um einige Schätze ärmere Grüne Gewölbe, die Schatzkammer der sächsischen Kurfürsten und Könige. Über die Augustusbrücke gelangt man am Standbild des Goldenen Reiters vorbei in die Neustadt. Zwischenzeitlich, ab 1949, war die Brücke nach dem bulgarischen Kommunisten Georgij Dimitroff benannt. Böse Zungen behaupten allerdings, der als sexuell sehr aktiv geltende August der Starke habe, wenn er beim Überqueren der Brücke eine schöne Frau entdeckte, seinem Kutscher mit den Worten „die-mit-druff“ andere Absichten suggeriert – und so Jahrhunderte zuvor selbst zur zwischenzeitlichen Umbenennung beigetragen. Die Brücke heißt seit 1990 wieder Augustusbrücke, und Dresden hält passend dazu seit mehreren Jahren den Titel Geburtenhauptstadt Deutschlands.
Stadtkonturen
Schrebergärten in Berlin oder Nacktbaden in München: Wir erkunden mit Euch deutsche Städte – auch gegen den Strich. Wir skizzieren klassische Orte, Gruppen und Events, die nicht aus dem Stadtbild wegzudenken sind – und ziehen neue Konturen, indem wir das ein oder andere Klischee ins Wanken bringen.