Stadtkonturen Leipzig
Grüne Kunststadt mit Industriegeschichte
Was zeichnet Leipzig aus: die Handelstradition einer Messestadt, das Naturerlebnis im Grünen, die bunte Kunstszene? Unsere Autorin Tanja Grevismühl zeigt Leipzigs Klassiker und Orte, die man nicht unbedingt im Reiseführer findet.
Von Tanja Grevismühl
Auf den Spuren der alten Handelsstadt
Leipzig gehört zu den ältesten Messestandorten der Welt. Die vom internationalen Handel geprägte Geschichte spiegelt sich auch in den alten Gebäuden der Innenstadt wider, durch die sich kreuz und quer ein komplexes Passagensystems zieht. Dort, wo heute prunkvolle Fassaden und Ladenzeilen zu bestaunen sind, wie im Speck’s Hof oder Barthels Hof, brachten früher Händler*innen aus aller Welt von klobigen Karren aus ihre Waren an den Mann und die Frau. In der Mädler Passage befindet sich das Gasthaus Auerbachs Keller, dessen historische Weinstuben schon Goethe als Student des Öfteren besuchte und zum Schauplatz seines Dramas Faust werden ließ. Die eindrucksvolle und geschichtsträchtige Architektur der Passagen lädt auch bei schlechtem Wetter zu einer Erkundungstour ein.
Kunst zum Eintauchen
Hinter der rustikalen Backstein-Fassade des Kunstkraftwerks im Leipziger Westen liegt eine farbenprächtige Welt versteckt. Tritt man durch die Tür des kahlen Gemäuers, begibt man sich auf eine fantastische Reise, auf der Werke und Geschichten bekannter Künstler*innen durch aufwendige Licht- und Toninstallationen neu erzählt werden. Im wahrsten Sinne des Wortes wird Kunst zu einem Erlebnis für alle Sinne, wenn in der Van-Gogh-Ausstellung die Farbtupfen seiner Werke musikalisch untermalt über das Mauerwerk tanzen oder das Kaninchen von Alice im Wunderland hinter der nächsten Rohrleitung verschwindet. Die immer wieder neuen Installationen sind definitiv mehr als nur einen Besuch wert.
Leipzig und die Friedliche Revolution
Bis heute kann man sich in Leipzig auf die Spuren der Geschichte des geteilten Deutschlands begeben. Mit der friedlichen Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 spielte die Stadt eine Schlüsselrolle für die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland. 70.000 Demonstrant*innen stellten sich an diesem Tag gemeinsam und friedlich mit dem Ausruf „Wir sind das Volk“ den bewaffneten Sicherheitskräften des DDR-Regimes entgegen. Heimlich festgehalten in den verwackelten Filmaufnahmen des Fotografen Siegbert Schefke und des Journalisten Aram Radomski, flimmerten die bildgewaltigen Szenen dieser Nacht bald über die Fernsehbildschirme der ganzen Nation und offenbarten endgültig und für alle, dass die politische Führung Ostdeutschlands gescheitert war. In der Dauerausstellung des „Zeitgeschichtlichen Forums“ kann man die Geschehnisse dieses geschichtsträchtigen Tages noch einmal Revue passieren lassen. Außerdem lädt die Stadt jedes Jahr am 9. Oktober zum Lichtfest ein, das mit zahlreichen Lichtinstallationen an die Friedliche Revolution erinnert. In den Abendstunden versammeln sich die Leipziger*innen auf dem Augustusplatz, die Fenster des Panoramatowers leuchten in Form einer „89“ und tausende Teelichter vermitteln eine ganz besondere Stimmung.
Sinfonien für Ohren und Seele
Mitten im Zentrum liegt der Augustusplatz, an dem sich neben der Oper auch das Leipziger Gewandhaus befindet. Dessen musikalische Geschichte reicht zwar bis ins 15. Jahrhundert zurück – das Gebäude wurde jedoch erst als Nachfolger zweier früherer Bauten im Jahr 1981 an dieser Stelle eingeweiht. Von den Architekten Rudolf Skoda, Eberhard Göschel, Volker Sieg und Winfried Sziegoleit entworfen, war es das einzig reine Konzerthaus, das in der DDR geplant und errichtet wurde. Bis heute verwandelt in dessen imposantem Großen Saal mit seiner eindrucksvollen Akustik nicht nur das international bekannte Gewandhausorchester unter der Leitung des Dirigenten Andris Nelsons regelmäßig die Notensätze von Mozart und Beethoven in beeindruckende Klangwelten, auch externe Künstler*innen werden eingeladen. Das Gewandhaus selbst besticht mit seiner Extravaganz: Im Foyer hängt ein riesiges Deckengemälde von Sighard Gille mit dem passenden Titel Gesang vom Leben, dessen nahezu endlose Details vermutlich schon den ein oder anderen Gast verzaubert haben.
Auf zwei Rädern durchs alte Industrieviertel
Die Stadtteile Plagwitz und Lindenau im Leipziger Westen sind bekannt für ihre industrielle Geschichte. Die eindrucksvolle Industriearchitektur ist bis heute erhalten geblieben und wurde von der alternativen Künstler*innenszene zu neuem Leben erweckt. Gerade die alte Baumwollspinnerei, die Anfang des 20. Jahrhunderts die größte Europas war, ist ein Zeichen dieser Zeit. Heute wird dort zwar keine Baumwolle mehr gesponnen, wohl aber die ein oder andere kreative Idee in den Köpfen der Künstler*innen, die sich in zahlreichen Ateliers und Galerien darin niedergelassen haben. Unter dem Slogan „From Cotton to Culture“ widmen sie sich hier den unterschiedlichsten Kunstformen, gestalten aufwendige Skulpturen aus alten Stahlrohren, expressionistische Gemälde mit politischer Botschaft oder multimediale Rauminstallationen. Die vielen Ateliers in dem geschichtsträchtigen Gemäuer gelten als das Herzstück der Leipziger Kunstszene und haben mit namhaften Künstlern wie etwa Neo Rauch maßgeblich die „Neue Leipziger Schule geprägt“, jene Strömung in der Malerei, die in den 1990er-Jahren in Leipzig ihren Anfang nahm. Um das leicht verrückte Flair des gesamten Viertels am besten erleben zu können, sollte man die Gegend mit dem Fahrrad erkunden, vorbei an alten Gründerzeitbauten, historischen Fabrikgebäuden, bunten Graffitis und entlang am Ufer des Karl-Heine-Kanals.
Pferdegetrappel, Hutkrempen und Popcorn
Mit ihren über 250 Jahren gilt die Galopprennbahn Scheibenholz als Leipzigs älteste Sportstätte. Auch heute noch lockt der traditionelle Aufgalopp am ersten Mai – das erste Pferderennen der Saison – zahlreiche Zuschauer*innen auf die weiße Tribüne. Und wenn sich die Pferde zwischen den regelmäßigen Rennen einmal ausruhen dürfen, öffnet die Galopprennbahn auch für andere Veranstaltungen ihre Tore – zum Beispiel für den Biergarten oder die zahlreichen Flohmärkte. Ein Event, das man nicht verpassen sollte, ist das Sommerkino: Hier können an warmen Sommerabenden in bequemen Liegestühlen Filme auf großer Leinwand und unter freiem Himmel genossen werden.
Ein Monument der Völkerschlacht
Vor über 200 Jahren siegten die alliierten Heere von Russland, Preußen, Österreich und Schweden in einer gewaltigen Schlacht über die Truppen Napoleons – gleich vor den Toren der Stadt Leipzig. Zum 100-jährigen Gedenken an die größte und wichtigste Schlacht der Befreiungskriege wurde im Jahr 1913 eines der monumentalsten Denkmäler Europas errichtet: das Völkerschlachtdenkmal. Das von Kaiser Wilhelm dem II. eingeweihte Denkmal sollte an die gefallenen Soldaten und die Befreiung Deutschlands erinnern. Nicht zuletzt aufgrund der symbolischen Kraft seiner zahlreichen Kriegsreliefs und Figuren – darunter etwa die vier Kolossalfiguren in der Ruhmeshalle, welche die Tugenden Tapferkeit, Opferfreude, Zuversicht und Volkskraft widerspiegeln sollen – machten es sich aber auch spätere Regimes zu eigen. Als Zeichen der Unbezwingbarkeit des deutschen Volkes wurde es im Nationalsozialismus zum Schauplatz zahlreicher Kundgebungen und zu DDR-Zeiten zum Symbol der deutsch-sowjetischen Waffenbrüderschaft. Heute soll es als Mahnmal dienen und an die Bedeutung europäischen Friedens erinnern. Das 91 Meter hohe Bauwerk ist sowohl von außen zu erklimmen als auch von innen zu erkunden. Von der Krypta aus, deren Ecken von 16 steinernen Kriegern gesäumt werden, kann man bis hoch in die mächtige Kuppel schauen. Ein Geheimtipp sind die Konzerte des Denkmalchors – denn die Akustik in diesem riesigen Saal, vor allem von der über der Krypta gelegenen Galerie aus, ist einzigartig. Die Geschichte des Denkmals wird im angrenzenden Museum Forum 1813 für Besucher anschaulich nachvollziehbar gemacht.
Zuhause im Szeneviertel
Für ein Feierabendbier in ausgelassener Stimmung wartet Leipzig mit der Kneipenmeile KarLi in der Südvorstadt auf, deren Name von der Karl-Liebknecht-Straße abgeleitet ist. Hier finden sich viele kleine Cafés, Restaurants und Irish Pubs – und dazwischen, gerade zur warmen Jahreszeit, ein Konglomerat aus dicht gestellten Stühlen und Tischen, über die sich hier und da ein paar bunte Lichterketten spannen. Kaum zu übersehen ist die Löffelfamilie, die kultige Leuchtreklame eines ehemaligen VEB (Volkseigenen Betriebs) für Feinkost-Konserven, deren neonfarbenes Licht vor allem nachts ein nostalgischer Hingucker ist.
Segeln im alten Braunkohleabbaugebiet
Nach dem Ende der Braunkohle-Ära wurde die Region im Süden Leipzigs neu gestaltet: Im alten Abbaugebiet ist eine abwechslungsreiche Seenlandschaft entstanden, deren Attraktionen zu Land und zu Wasser zum Verweilen einladen. Darunter der Segelhafen am Cospudener See, die Wassersportanlage am Kulkwitzer See oder der Kanupark mit Raftingbahn am Markkleeberger See. Auf Geo-Pfaden rund um den Störmthaler und Markkleeberger See kann die Erdgeschichte erkundet werden, mit Inlinern ist der gut asphaltierte Rundweg um den Cospudener See zu empfehlen. Und für die nötige Entspannung sorgt ein Sonnenbad am Badestrand des Cospudener Sees mit einer kühlen Erfrischung von der Strandbar.
Meinen Kaffee lob’ ich mir
Nicht ohne Grund werden die Sachsen gerne mit einem Augenzwinkern als „Kaffeesachsen“ bezeichnet. Denn neben Tee und Schokolade war es vor allem jenes bis heute so angesagte Heißgetränk, das schon vor über 300 Jahren die Herzen der Sachsen höherschlagen ließ. Seither ist Leipzig für seine zahlreichen Kaffeehäuser bekannt, wie das im Wiener Stil gehaltene Kaffeehaus „Riquet“ oder „Zum Arabischen Coffe Baum“, Deutschlands ältestes Kaffeehaus, das außerdem auch ein Museum über die Geschichte des Kaffees beherbergt. Auch Goethe, Bach und Schumann sollen hier schon häufig zu Besuch gewesen sein. Neben den traditionsreichen Klassikern im Zentrum der Altstadt haben sich inzwischen aber auch viele kleine, charmante Cafés in anderen Ecken der Stadt niedergelassen. Wer zum Beispiel noch nie in einem grünen Zirkuswagen eine Limonade bestellt und sich dann bei strahlendem Sonnenschein ans Flussufer gesetzt hat, der sollte dem ZierlichManierlich einen Besuch abstatten: Das kleine Café auf Rädern hat am Richard-Wagner-Hain sein Quartier aufgeschlagen und bietet von Frühling bis Herbst eine Vielzahl an Leckereien an – zu genießen in bequemen Liegestühlen mit Flussblick.
Stadtkonturen
Schrebergärten in Berlin oder Nacktbaden in München: Wir erkunden mit Euch deutsche Städte – auch gegen den Strich. Wir skizzieren klassische Orte, Gruppen und Events, die nicht aus dem Stadtbild wegzudenken sind – und ziehen neue Konturen, indem wir das ein oder andere Klischee ins Wanken bringen.