In einer historischen Wassermühle
Kultur auf dem Land
Stirbt die deutsche Provinz aus, oder bleiben kleine Dörfer lebenswert? Wenn Bürger selbst aktiv werden, ist vieles möglich. Ein Beispiel aus Niedersachsen.
Heimat
Vor einigen Wochen, an einem Mittwochnachmittag im Oktober: In meiner alten Heimat erzähle ich von Taiwan. Etwa 50 Zuhörer sind gekommen. Die Nachbarn von gegenüber sitzen da, meine ehemalige Englischlehrerin, aber auch viele, die mich nicht mehr von früher kennen. Alfstedt heißt der Ort, ein Dorf mit 900 Einwohnern im Nordwesten Niedersachsens, zwischen Elbe und Weser, Hamburg und Bremen. Hier bin ich zur Grundschule gegangen, im Nachbarort steht mein Elternhaus. Vor mehr als 20 Jahren bin ich nach dem Abitur weggezogen, schließlich in Taipeh gelandet, aber ganz verlassen habe ich diese Gegend nie.
Es ist eine ländliche Region, mit viel Platz und vielen Bauernhöfen, und so geht es in meinem Vortrag um Taiwans Landwirtschaft. Dass alte Bauern oft keine Nachfolger finden und Betriebe wachsen müssen, um zu überleben, diese Probleme kennen sie hier in Alfstedt genauso wie in Yunlin oder Chiayi. Doch die Produkte sind natürlich andere. Wo vor allem Mais und Kartoffeln wachsen, sind Bilder von Taiwans Reis- oder Erdnussernte eine interessante Erfahrung.
Eintritt haben die Zuhörer keinen bezahlt, auch Kaffee und selbstgebackener Kuchen in der Pause werden gratis aufgetischt. Was ist das für ein Ort, der diese Veranstaltung möglich macht?
Ein historischer Ort
Wir sitzen zwischen Holzbalken, alten Ziegelmauern und Sprossenfenstern. Die Decke ist niedrig, die Wände ein bisschen schief. Dies ist das älteste Gebäude am Ort – eine vor mehr als 300 Jahren gebaute Wassermühle. Dass sie noch immer steht und mit solchen Veranstaltungen Publikum anzieht, liegt vor allem an dem Engagement von Anwohnern, die sich in einem Verein zusammengefunden haben. Er heißt „De Möhl“ („Die Mühle“ auf plattdeutsch), und er hat dieses Gebäude gerettet.
Diese Geschichte möchte ich jetzt erzählen. Dabei ist wichtig, dass der Alfstedter Mühlenverein kein einzigartiges Phänomen ist. In unserer Gegend gibt es in vielen Dörfern Heimatvereine, die historische Häuser restauriert und zu Veranstaltungsorten gemacht haben. So sind Kornspeicher, Moorhöfe und reetgedeckte Fachwerkhäuser zu kleinen Kulturzentren geworden. Und auch in der nächsten Kleinstadt, Bremervörde, sorgen Vereine und Initiativen für den größten Teil des Kulturprogramms. Woanders in Deutschland sieht es wahrscheinlich ähnlich aus. Gerade auf dem Land, das von der Abwanderung in die Städte betroffen ist, können die Menschen sich nicht darauf verlassen, dass alles von oben geregelt wird. Entweder nehmen sie die Sache selbst in die Hand, oder es passiert nichts. Und wenn nichts passiert, dann verkommen Gebäude, und Dörfer sterben aus.
Auch die Wassermühle in Alfstedt stand kurz vor dem Verfall. Die Türen verriegelt, das Dach notdürftig abgedichtet, so lag sie am Dorfrand im Dornröschenschlaf, seit Ende der 1960er Jahre der Betrieb eingestellt wurde. Der Mühlenteich war zugeschüttet, das Wasserrad schon lange abgebaut. Erst 2003 passierte etwas. „Jahrelang hieß es immer ‚Man müsste mal…‘“, erzählt mir Matthias Steffens. „Dann haben wir gesagt: Wenn wir etwas machen wollen, muss es jetzt sein.“ Dass ich von seinem Wohnzimmer einen Blick auf die Mühle direkt gegenüber habe, ist kein Zufall. Seit elf Generationen war die Mühle im Besitz seiner Familie, seit 1663, als in Taiwan der Feldherr Koxinga gerade die Holländer vertrieben hatte. Steffens Vater hatte als letzter gelernter Müller hier noch für die Bauern der Umgebung Getreide verarbeitet.
Wenn Deutsche einen Verein gründen
Um die Mühle nun zu retten und für die Gemeinschaft zu nutzen, gingen der Kaufmann Steffens und seine Mitstreiter einen typisch deutschen Schritt: Sie gründeten einen Verein. 40 Leute kamen zur Gründungsversammlung. Das deutsche Vereinswesen ist nicht umkompliziert, ziemlich streng geregelt, aber es funktioniert ganz gut. Wollen sich Menschen zu irgend einem Zweck in einem eingetragenen Verein (e.V.) zusammenschließen, müssen sie sich zunächst eine Satzung geben. In diesem „Grundgesetz“ legen sie fest, was der Zweck des Vereins ist, wie man Entscheidungen treffen und den Vorstand wählen will, und ob Mitgliedsbeiträge fällig werden. Diese Satzung müssen sie dem Amtsgericht vorlegen. Ist der Verein dort eingetragen, kann als juristische Person agieren, also auch Geld einnehmen und Geschäfte machen. Hat er einen gemeinnützigen Zweck, kann er von Steuern befreit werden.
Jedes Jahr prüfen die Mitglieder auf einer Versammlung, ob mit der Vereinskasse alles stimmt, und bestätigen den Vorstand oder wählen eine neue Leitung. So soll ein Verein nicht von einzelnen Personen abhängig sein und auch fortbestehen, wenn die Gründer irgendwann nicht mehr weitermachen.
Geglückter Umbau
Für die Alfstedter und ihren frisch gegründeten Verein war 2003 die Aufgabe klar: Die Mühle von außen und innen sanieren. Eine große und potenziell auch sehr teure Aufgabe. Da traf es sich gut, dass von Anfang an ein örtlicher Bauunternehmer dabei war, der mit seinen Erfahrungen helfen konnte. Um Kapital zu sammeln, verkaufte der Verein „Bausteine“ – zinslose Darlehen über 250 Euro, die innerhalb von drei oder vier Jahren zurückgezahlt werden sollten. Viele Anwohner kauften davon gleich mehrere und ermöglichten so die Finanzierung.
Wichtig war es für den Verein auch, an EU-Fördergeld zu kommen. Es gibt Töpfe, mit denen gezielt ländliche Räume gestärkt werden sollen. „Bedingung war aber, dass keine Privatperson das Gebäude besitzt, sondern die Gemeinde“, sagt Steffens. So verkaufte er für den symbolischen Preis von einem Euro die Mühle seiner Familie an das Dorf – und das verpachtete sie postwendend für 20 Jahre gratis dem Verein.
Der Umbau lief vor allem über Eigenleistungen. „Es gab viele Wochenenden, an denen viele Mitglieder geholfen haben“, erinnert sich Steffens. Am Ende kostete die Sanierung gerade mal 140.000 Euro, und nach nur anderthalb Jahren war die frisch renovierte Mühle Pfingsten 2004 erstmals für Jedermann zugänglich. „Es ist gut gelaufen“, sagt Steffens. „Wir hatten gedacht, wir hätten finanziell mehr zu kämpfen.“
Woher kommt das Geld?
Seitdem geht es darum, die Mühle mit Leben zu füllen, denn die Beiträge der mittlerweile 126 Mitglieder (36 Euro pro Jahr), zu denen auch ich gehöre, reichen für den Unterhalt des historischen Gebäudes kaum aus. Zu den laufenden Kosten gehören etwa Reparaturen, Heizung und Versicherungen, und in den ersten Jahren auch noch die Rückzahlung der Darlehen. „Außerdem müssen wir den Verein mit Aktivitäten am Leben erhalten“, sagt Steffens, „sonst schläft er ein“. Zwischen fünf und sieben Veranstaltungen finden pro Jahr in der Wassermühle statt: Musiker treten auf und Theatergruppen, es gibt das Herbst-Benefiz-Festessen und am Tag des offenen Denkmals Führungen – und ab und zu erzählt ein Reporter vom Leben in Taiwan. Statt eines Eintrittsgeldes baten wir meine 50 Zuhörer am Ende um eine freiwillige Spende für Vortrag, Kaffee und Butterkuchen. So kamen immerhin 350 Euro zusammen.
Seit 2007 gibt es eine weitere Einnahmequelle, die vielen Menschen schöne Erinnerungen beschert: Hochzeiten in der historischen Mühle. Das Standesamt hatte erkannt, dass viele Menschen, die vielleicht nicht mehr kirchlich heiraten, sich für ihre Trauung ein besonderes Ambiente wünschen. An 20 Wochenenden jährlich wird die Alfstedter Wassernühle nun zur Außenstelle der Behörde, mehr als 150 Paare haben sich hier schon das Jawort gegeben und anschließend mit ihren Gästen in der schönen Umgebung angestoßen. Jedes Mal fließen dafür 85 Euro in die Vereinskasse. Allerdings liegen keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, ob Mühlen-Ehen besonders beständig sind.
Außerdem unterstützen einige Sponsoren den Verein mit Spenden – darunter ehemalige Alfstedter, die ihrem Heimatort verbunden bleiben und sich an die alte Mühle erinnern, sagt Steffens. „Die wissen noch, wie sie hier an der Mühle geangelt oder ihren Opa beim Mehlabholen begleitet hatten.“
Kulturangebote machen einen Ort lebenswert
Auch in einem kleinen Dorf wie Alfstedt ist nicht nur „De Möhl“ aktiv. Wie in der Gegend noch immer üblich gibt es Schützen-, Sport- und Gesangsvereine, außerdem einen Heimatverein, der von plattdeutschem Theater bis zu Yogakursen ein ziemliches Spektrum abdeckt. Gemeinsam erstellen die Vereine einen jährlichen Veranstaltungskalender – ein „Ausdruck von lebendiger Dorfgemeinschaft“, findet Hans-Hinrich Kahrs. Der Gymnasiallehrer stammt, wie Steffens, aus Alfstedt und ist von Anfang an im Vorstand des Mühlenvereins. „Ohne diese Kulturangebote wäre der Ort weniger lebenswert.“
In einigen Dörfern weiter nördlich gebe es höchstens noch einen Schützenverein, sagt Steffens, dazu viele leerstehende Häuser. „Die siechen vor sich hin.“ Für Kahrs ist das kulturelle Angebot vor Ort ein wichtiger Faktor im Kampf gegen die Landflucht. Man könne sich selbst beteiligen, statt nur zu konsumieren. „Wenn junge Leute sagen ‚Da will ich gerne wohnen‘, dann bauen sie das Haus für ihre Familie auch vor Ort statt zum Beispiel in Bremervörde.“ Dass Privatleben, Einkaufen und Arbeit immer mehr im Netz stattfinden, habe die Kluft verringert, sagt Steffens: „Das Internet hat das Leben auf dem Dorf vorangebracht und vereinfacht.“
Wer übernimmt in Zukunft Verantwortung?
Ganz ungetrübt sieht die Zukunft aber auch für den Mühlenverein nicht aus. Das Problem heißt, wie in vielen anderen Vereinen auch, Nachwuchssorgen. Häufig hört man auf Sitzungen vom langjährigen Vorstand, er hänge nur deswegen noch ein Jahr dran, weil keine Nachfolger in Sicht sind. Als sie den Verein gründete, war die Führungsriege von „de Möhl“ Ende 40 – mittlerweile sind sie über 60. Es sei nicht leicht, neue Leute zu finden, die Verantwortung übernehmen wollen, sagt Steffens. Deshalb dürften auch die Angebote nicht rückwärtsgewandt sein, sondern müssten „nach vorne gucken“. Dazu gehöre die technische Ausstattung, etwa ein neuer Videoprojektor, ebenso wie vor einigen Jahren ein Theaterprojekt mit Jugendlichen.
Lehrer Kahrs beobachtet einen Wertewandel: Seine Generation sei „damit aufgewachsen, sich gegenseitig zu helfen, ohne etwas dafür zu verlangen.“ Das habe sich geändert. Weil ein Ehrenamt mit viel Aufwand verbunden sei, gelte es nicht mehr als attraktiv, jeder kümmere sich eher um sich selbst – ein „grundsätzliches Problem von Gemeinschaft“, zwischen dem Vertrauen in den Sozialstaat auf der einen und veränderten, zunehmend unsichereren Arbeitsbedingungen auf der anderen Seite.
Wie wird es nun weiter gehen mit der Mühle? „Die nächste Generation muss entscheiden, wofür das Gebäude genutzt wird“, sagt Steffens. „Zumindest steht es da, und wir haben es für eine Generation gerettet.“