Interview mit dem Comic-Künstler Ruan Guangmin
„Die Leute werden durch meine Comics in eine Welt blicken, die es nicht mehr gibt“
Er zeichnete den ersten taiwanischen Comic, der zu einer Fernsehserie gemacht wurde: Ruan Guangmin gilt als einer der bekanntesten Graphic-Novel-Künstler Taiwans. Hier spricht er über die Geschichte hinter dem Comic „Donghuachun Friseursalon“, seine Sympathie für die Schicksale der kleinen Leute und seine Rolle als Chronist des Vergänglichen.
Herr Ruan, vor Kurzem ist Ihr Comic „Donghuachun Friseursalon“ auf Deutsch erschienen. In ihm dient ein altmodischer Friseursalon als Kulisse für eine Geschichte um ein Geschwisterpaar und einen aus der Haft entlassenen Mörder. Gibt es diesen Friseursalon wirklich?
Ja. Als ich noch im Werbe-Design arbeitete, musste ich jeden Tag mit dem Bus von Keelung nach Xindian zur Arbeit fahren. Es war eine lange Strecke und ich kam immer an einer bestimmten Gasse vorbei. Auf beiden Seiten waren Friseursalons und kleine Läden. Und es gab da diesen einen Laden, der „Donghuachun Friseursalon“ hieß. In Taiwan ist es üblich, dass sich Friseursalons hübsche Namen geben. Aber „Donghuachun“ ist ein ziemlich merkwürdiger Name. Es war mir zu peinlich, den Inhaber nach dem Grund für diesen Namen zu fragen. Und da ich im Bus viel Zeit hatte, fing ich einfach an, mir eine Geschichte für diesen merkwürdigen Namen auszudenken. Ich stellte mir vor, der Name „Donghuachun“ steht für drei Menschen. Und dann erschuf ich die Geschichten für diese drei Menschen.
Wie klingt „Donghuachun“ für Sie? Vulgär?
Eher außergewöhnlich. So vulgär sind die drei Schriftzeichen gar nicht. Aber in dieser Kombination muten sie merkwürdig an. „Chuntian Friseursalon“ wäre zum Beispiel sprachlich viel runder. Diese Namensgebung würde ich sofort verstehen. Aber der Name „Donghuachun“ verdutzte mich.
Haben Sie den Grund für den Namen jemals erfahren?
Nachdem mein Comic erschienen war, bin ich noch mal zu dem Laden gefahren. Ich wollte dem Inhaber ein Exemplar meines Comics schenken und ihn endlich nach dem Grund für den Namen fragen. Aber die Tür war verschlossen und es schien, als wäre der Inhaber in Ruhestand gegangen. Ich habe gehört, dass er schon über 80 Jahre alt war.
Sie wurden 1973 in der Stadt Douliu im Westen Taiwans geboren, abseits der Hauptstadt Taipei. Hat Ihr Interesse für das Leben der kleinen Leute biografische Gründe?
Ich beobachte gerne die Menschen in meinem gesellschaftlichen Umfeld. Ich finde, wenn es mir gelingt, das Leben dieser Menschen aufs Papier zu bringen, dann ist das das Authentischste, das es gibt. Viele Fernsehserien beschäftigen sich mit dem Leben der oberen Schichten. Aber mit dem Leben der kleinen Leute wird sich viel weniger beschäftigt. Außerdem ist es für mich natürlich auch leichter, das Leben solcher Menschen zu zeichnen. Ich gehe ja selbst zum Mittagessen in Garküchen am Straßenrand. Und ich gehe auch selbst in solche Friseursalons. Diese Menschen bewohnen also mein Umfeld und ich kann sie wunderbar beobachten. So kann ich sie zu Figuren meiner Comics machen. Wollte ich über die oberen Schichten schreiben, müsste ich fantasieren oder Dinge erfinden.
Was haben die kleinen Leute, das Menschen aus den oberen Schichten nicht haben?
Sie sind authentischer. Wenn man sich mit ihnen unterhält, gibt es weniger Distanz. Wenn Sie sich mit einem Beamten unterhalten, wird er ja im Normalfall nichts von sich preisgeben. Wahrscheinlich will er nicht mal mit Ihnen reden. Die kleinen Leute hingegen erzählen aus ihrem Leben und teilen ihre Geschichten. Ein Beispiel: Ich bin mal mit einem Mann ins Gespräch gekommen, der am Straßenrand frittiertes Huhn verkaufte. Ich fragte ihn, als was er früher gearbeitet habe. Er sagte, er habe in der Immobilienbranche gearbeitet und viel Geld verdient. Dann habe er aber sein gesamtes Vermögen an der Börse verloren und sei deswegen dazu übergegangen, frittiertes Huhn zu verkaufen. Früher verdiente er im Handumdrehen mehrere Millionen Taiwan-Dollar. Jetzt verdiente er nur noch wenige Taiwan-Dollar. Trotzdem mochte es der Mann, frittiertes Huhn zu verkaufen. Er sagte, er sei jetzt nicht mehr so nervös. An der Börse wusste er nie, wann die Werte steigen und wann sie fallen. Solche Menschen sind für mich toll. Sie haben Freude daran, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen.
Die Geschichte „Donghuachun Friseursalon“ spielt in Keelung, einer verhältnismäßig kleinen Hafenstadt im Nordosten Taiwans. Einen Friseurladen, der so altmodisch ist, findet man in Taipei wahrscheinlich kaum noch. Ist der Comic auch eine Geschichte über Sehnsucht nach vergangenen, vermeintlich besseren Zeiten?
Läden wie „Donghuachun“ sterben langsam aus. Sie haben keine Chance, die Konkurrenz zu großen Filialen zu überstehen. Aber ein Laden wie „Donghuachun“ ist ein warmer Ort. Manche Leute gehen dorthin, ohne sich die Haare schneiden zu lassen. Sie lesen Zeitung oder unterhalten sich mit der Friseurin. Für alte Leute ist so ein Friseursalon ein Treffpunkt. So ein Laden hat also viel mehr Funktionen als das pure Haareschneiden. So etwas mag ich. Da wird kein Druck auf dich ausgeübt. Da heißt es nicht nach dem Haareschneiden: „Danke schön und auf Wiedersehen!“ Im Gegenteil, du kannst nach dem Haareschneiden noch einen Moment sitzen bleiben und ein bisschen plaudern. Ich zeichne solche Orte, weil es sie bald nicht mehr geben wird, vielleicht schon in zehn oder zwanzig Jahren. Dann werden die Leute durch meine Comics in eine Welt blicken, die es nicht mehr gibt. Künstler sind manchmal so etwas wie eine Brücke, die Generationen verbindet. Man dokumentiert etwas, damit die Menschen, die nach einem kommen, etwas über die Vergangenheit lernen können.
Dokumentieren Sie aus einem politischen Impuls heraus? Sollte man retten, was droht, verloren zu gehen?
Ach, für so etwas interessiere ich mich weniger. Ich sitze nicht auf einem so hohen Ross. Mir geht es ums Dokumentieren von Dingen, die mich bewegen.
Sie sehen sich als Chronisten?
Ja, als Chronisten und Geschichtenerzähler. Ich weiß gar nicht, was zu tun ist, um den kleinen Leuten zu helfen, die in meinen Comics vorkommen. Ich kann nur hoffen, dass Leute, die Macht haben, meine Comics lesen und etwas unternehmen. Meine Aufgabe sehe ich darin, die Geschichten dieser Menschen zu erzählen. Um alles andere kümmere ich mich nicht. So heldenhaft bin ich nicht.
Wie sind Sie mit Comics in Kontakt gekommen?
Ich habe als kleiner Junge gerne gezeichnet. Mein Vater und meine Mutter haben mir das damals nicht verboten. Ich habe also immer gezeichnet, bis mir, als ich gerade mit dem Militärdienst fertig war, ein Schulfreund erzählte, dass ein bekannter Comic-Künstler einen Assistenten suche. Früher war es üblich, dass Comic-Künstler Assistenten haben. So einen Job muss man sich wie das Verhältnis zwischen Meister und Lehrling vorstellen. Ich habe dann angefangen, als Assistent zu arbeiten. So habe ich überhaupt erst richtig gelernt, wie man Comics zeichnet. Vorher habe ich ja einfach nur drauflos gezeichnet. Wie man ein Storyboard erstellt, wo man ein Dialogfeld platziert, wie man Spannung erzeugt – das habe ich dann alles Schritt für Schritt gelernt. Ich würde sagen, der Unterschied zwischen einem Amateur und jemandem, der vom Fach ist, ist der zwischen Vergnügen und Analyse. Wer vom Fach ist, seziert einen Comic und analysiert, was gelungen ist und was nicht. So lernt man dazu.
In Taiwan ist es nicht unüblich, dass Eltern die Hobbys ihrer Kinder einschränken, damit sie sich ausschließlich auf die Schule konzentrieren. Ihre Eltern waren da anders?
Sie waren Comics gegenüber sehr aufgeschlossen. Sie haben auch keinen Leistungsdruck auf mich ausgeübt, was Schulnoten angeht. Sie fanden es gut, dass ich eigene Interessen entwickle und damit glücklich bin. Aber in den meisten Familien ist das anders. Da bestehen die Eltern darauf, dass das Kind auf eine gute Uni kommt, und verbieten Comics, Computerspiele und andere Dinge, die ablenken könnten.
Was hat Sie bewogen, Ihre sichere Anstellung als Werbe-Designer hinter sich zu lassen und hauptberuflich als Comic-Künstler zu arbeiten?
Als Werbe-Designer musste ich oft Überstunden machen, manchmal bis ein oder zwei Uhr in der Nacht. Ich hatte mich aber eigentlich daran gewöhnt, tagsüber zu arbeiten und abends Comics zu zeichnen; das war mein bewährter Rhythmus. Irgendwann ging das dann wegen der Überstunden nicht mehr. Eines Abends fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich dachte: Moment mal, um diese Uhrzeit sollte ich eigentlich Comics zeichnen und nicht Überstunden machen. Am Tag darauf kündigte ich. Seitdem arbeite ich hauptberuflich als Comic-Künstler. Natürlich habe ich manchmal bereut, die Anstellung aufgegeben zu haben. Als Comic-Künstler hat man ja kein besonders geregeltes Einkommen. Aber wenn man die Arbeitswelt erst einmal verlassen hat, ist der Weg zurück schwer. Das hat auch damit zu tun, dass man als freischaffender Künstler mit vielen Entwicklungen nicht Schritt halten kann. Heute gibt es so viele Computerprogramme, die junge Menschen viel besser beherrschen als ich. Und wenn mich jemand einstellen wollte, würde er wahrscheinlich denken: Für das Geld, das ich für diesen Alten ausgeben muss, kann ich zwei Junge einstellen. Mir bleibt also gar nicht anderes übrig, als einfach weiter zu zeichnen.