Queere Geschichte
Die letzten 100 queeren Jahre

Eine Illustration, die zwei Personen vor einem Kino zeigt
"Anders als die Andern" kam 1919 in die Kinos und behandelt queeres Leben. | Illustration © Rosa Kammermeier

Queerness als neue Idee – gern in futuristischem Design – zu inszenieren, wirkt erstmal ganz schmeichelhaft. Dieser Anschein erfrischender Neuigkeit leugnet aber die Geschichte queerer Menschen und prekarisiert sie und ihre Rechte. Es gibt uns. Und zwar schon immer. 

Deswegen heute: die vergangenen 100 queeren Jahre in Deutschland.

Das ewige Eldorado

Illustration von Lili Elbe © Illustration © Rosa Kammermeier Lili Elbe Illustration © Rosa Kammermeier
Während heute jede*r Berlinbesucher*in zumindest den Namen Berghain kennt (übrigens auch ein schwuler Fetischklub), war in den 1920er-Jahren das Eldorado in Berlin the place to be. Die Besucher*innen tanzen über die eindeutige Geschlechterordnung hinweg. Das Eldorado ist vor allen Dingen ein glitzerndes Eldorado sexueller Freiheit, was sich international schnell herumspricht: Tourist*innen sind besonders neugierig auf die Travestiekünstler*innen. Viele queere Personen kritisieren jedoch, dass das Eldorado und andere queere Bars die Künstler*innen einem heterosexuellen, neugierigen Blick präsentieren.

In der Schwerinstraße 13, nah am Nollendorfplatz, feiern vor allem Lesben im legendären Toppkeller: Claire Waldoff, die lesbische Sängerin mit Berliner Schnauze, tritt hier am liebsten im Anzug auf und singt ihre politischen Lieder. Marlene Dietrich, mit der sie eine Affäre hatte, sitzt vermutlich öfter im Publikum, genauso wie die Tänzerin Anita Berber. Jede Nacht stimmt eine Domina das „Lila Lied“ an, beim Refrain „Wir sind nun einmal anders als die andern“ stimmen alle in die Hymne ein.

Der Liedtext spielt auf Richard Oswalds Film Anders als die Andern an. 1919 kann er durch die gerade gelockerte Zensur nicht nur als erster schwuler Film die Schönheit der Homosexualität zeigen, sondern erzählt vor allem die Tragödie eines Mannes, der mit seiner Sexualität erpresst wird. Die Polizei sperrt die Hauptfigur ein, gesellschaftlich diffamiert begeht der Mann schließlich Selbstmord.

Nachdem sich der Held umgebracht hat, hält ein gewisser Dr. Magnus Hirschfeld eine revolutionäre und mitreißende Rede, in der er für die Rechte sexueller Minderheiten plädiert. Was Hirschfeld will und wer er ist, hat sich kein eifriger Drehbuchautor ausgedacht: Selbst schwul, erforscht Hirschfeld die Vielfalt der Sexualitäten und stößt die Schwulenbewegung in Deutschland entscheidend an. Als einer der modernsten Wissenschaftler seiner Zeit spielt er sich im Film selbst und fordert, dass § 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern verbietet, endlich gestrichen wird.

Anders als die Andern läuft nur ein paar Mal über die Leinwand. Kritiker*innen beschimpfen ihn als pervers. Der Staat verbietet den Film und vernichtet alle Kopien, sodass wir heute nur durch einen glücklichen Zufall die Fragmente eines großen Stücks Filmgeschichte anschauen können.

Queere Pionierinnen und der aufkeimende Faschismus

Illustration Verdrängung. Ein Mann steht nach hinten vor einem Stacheldrahtzaun, im Hintergrund sieht man viele Menschen mit Koffern.  © Illustration © Rosa Kammermeier Vertreibung und Ermordung queerer Menschen während des Nationalsozialismus Illustration © Rosa Kammermeier
Ein Jahrzehnt nach der berühmten Filmrede operiert Hirschfelds Institut Lili Elbe. Die Geschichte seiner Patientin, einer lesbischen Malerin aus Dänemark, die sich nach Dorchen Richter als eine der ersten Transpersonen einer geschlechtsangleichenden Operation unterzieht, kennen wir heute aus dem Film The Danish Girl. Hirschfeld ist trotzdem umstritten, weil Wissenschaftler*innen bisher nicht abschließend klären konnten, welche Rolle seine Forschung für die Eugenik wirklich spielte.

Ein Jahr später schreibt Leontine Sagan Filmgeschichte: Eine Frau führt Regie, Frauen schreiben das Drehbuch, Frauen in allen Rollen: Mädchen in Uniform macht klar, dass Frauen nicht nur lesbisch sein können, sondern gemeinsam ohne Männer sexuell und künstlerisch erfolgreich. Obwohl die Protagonist*innen den Kopf in den Nacken werfen, um sich zu küssen, leugnet die Presse die lesbische Handlung und weibliche Sexualität – nicht nur eine homophobe, sondern auch eine frauenfeindliche Perspektive.
 
Während Hirschfeld und andere Aktivist*innen Unterschriften sammeln, um die diskriminierenden Gesetze abzuschaffen, baut sich im Hintergrund bereits das Grauen auf. SA-Chef Röhm, der früher sogar im Eldorado arbeitete, geht regelmäßig in den Klub, bevor die Nazis ab 1933 die Lokale der Szene schließen, queere Menschen unterdrücken, verfolgen, foltern, ins Konzentrationslager bringen, ermorden und zwangssterilisieren. Queere Menschen fallen den Nazis aber nicht nur zum Opfer, sondern kämpfen wie Frieda Belinfante, Maria Berner, Gertrude Sandmann, Klaus und Erika Mann, Willem Arondeus, Thérèse Pierre oder Josefine Baker gegen den Faschismus.

In den Konzentrationslagern müssen Schwule jetzt einen rosa Winkel auf der Häftlingskleidung tragen. Schwul zu sein, ein Kuss oder schwule „Absichten“ reichen aus, um verurteilt oder ins KZ gebracht zu werden. Queere Frauen und als Frauen gelesene Personen wurden oft mit dem schwarzen Winkel als „Asoziale“ gekennzeichnet oder angeschuldigt, sich prostituiert zu haben. In der Lagerhierarchie stehen sie ganz unten.

1945 siegen die Alliierten über die Nazis und befreien die Konzentrationslager. In diesem Jahr – gerne als Stunde Null bezeichnet – ändert sich scheinbar doch nicht alles: Etliche queere KZ-Häftlinge werden nach ihrer Befreiung wegen ihrer Sexualität wieder ins Gefängnis gesperrt. In den Augen der Mehrheitsgesellschaft waren sie zu Recht im Gefängnis oder im Konzentrationslager. Unter § 175 Verurteilte gelten nicht als Opfer des Nationalsozialismus, sondern als Kriminelle. In der Nachkriegszeit sterilisieren Ärzt*innen weiterhin queere Menschen, operieren sogar deren Gehirne und verleugnen deren Sexualität. Doch selbst in diesem Klima finden sich immer wieder Menschen, die für ihre Freiheit kämpfen.  
 

Von der Nachkriegszeit zum schwulen Film in der DDR

Illustration von Protesten, drei Menschen sind in Protestpose und mit Schildern abgebildet © Illustration © Rosa Kammermeier Stonewall Riots Illustration © Rosa Kammermeier
Die Naziversion des § 175 bleibt in Westdeutschland bis 1969 in Kraft. Die traurige und bis heute gern verschwiegene Bilanz: Unter Adenauer wurden mehr homosexuelle Männer verurteilt als in der gesamten Nazizeit – vielleicht wäre es auch hier an der Zeit, Plätze und Stiftungen umzubenennen und die eigene Geschichte aufzuarbeiten?

In Ostdeutschland gilt hingegen ab 1950 wieder die Version der Weimarer Republik: Konkrete sexuelle Handlungen sind strafbar. Sieben Jahre später entscheidet das Ostberliner Kammergericht sich dazu, den Paragraf nicht mehr anzuwenden. Ein Jahrzehnt später streicht die DDR ihn komplett.

Was nach ein bisschen Freiheit klingt, sieht im Alltag ganz anders aus: Queere Menschen werden auch hier ausgeschlossen und unterdrückt, später bespitzelt und zersetzt. Als sie bei den Weltfestspielen mit einem Transparent auftreten wollen, verbietet das der Staat. Jetzt ziehen sie sich an religiös geschützte Orte wie das Theologische Seminar der Uni Leipzig zurück: diskutieren miteinander, verbünden sich, bilden Netzwerke.
So wie die Friedensbewegung sich in den kirchlichen Räumen organisiert, kämpfen queere Menschen (mangels Alternativen) von diesem relativen Safe-Space aus für Veränderungen. „Dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück“, ein Zitat Ingeborg Bachmanns, steht über einem internen Papier des homosexuellen Arbeitskreises von 1983. Als zu dessen Veranstaltungen jedes Jahr bis zu 3.000 Besucher*innen kommen, weiß der Arbeitskreis: In der Luft über Rummelsburg liegt in diesen Tagen Veränderung.

In der DDR wie in der BRD ist die Aufarbeitung der NS-Zeit ein Thema, jedoch eins, das man lieber ohne die Tausenden von queeren Opfern verhandelt. Ausgerechnet an der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück kristallisiert sich dieses Muster 1984 heraus: Eine Gruppe Lesben legt einen Gedenkkranz für ihre ermordeten Schwestern nieder. Einige Tage später kommen sie wieder: Plötzlich ist der Kranz verschwunden. Als sie das Gästebuch aufschlagen, sehen sie, dass ihr Eintrag fehlt; herausgerissen, als wäre da nie etwas gewesen.

Nachdem er sieben Jahre dafür gekämpft hat, darf Heiner Carow, der virtuose Liebeserzähler des DDR-Kinos, endlich die Kamera an schwulen Orten Berlins aufbauen. Auch die berühmte Transfrau und Museumsleiterin Charlotte von Mahlsdorf spielt im Film mit und zeigt in ihrer Rolle als Barfrau, wie divers die Gesellschaft ist. Coming out läuft bei der Premiere gleich zweimal hintereinander über die Leinwand. Das Publikum ist begeistert. Kein*er der Kinobesucher*innen ahnt, wie sich die Welt draußen verändert, während sie im dunklen Kinosaal sitzen. Es ist der 9. November 1989 in Berlin. Als sie das Kino verlassen, ist die Mauer gefallen.

Zwischenzeitlich In der Bundesrepublik Deutschland: Rosa von Praunheim, Popkultur und AIDS

Illustration Freddy Mercury © Illustration © Rosa Kammermeier Illustration Freddy Mercury Illustration © Rosa Kammermeier
Westdeutschland kann sich noch nicht ganz dazu durchringen, Homosexualität aus dem Strafgesetzbuch zu verbannen, aber liberalisiert § 175 entscheidend. Zwei Jahre später erscheint der bahnbrechende Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. Rosa von Praunheim erzählt mit trashigen Synchronisationen die Lebens- und Liebesgeschichten verschiedener homosexueller Männer. Anfangs eifern sie der biedermeierschen Bürgerlichkeit spießiger Ehepaare nach – ein Kommentar auf die angepasste Homophilenbewegung. Praunheim hält das für weniger aussichtsreich: „Die bürgerliche Ehe funktioniert durch Aufzucht von Kindern und Unterdrückung der Frau.“ Praunheim provoziert damit, dass er seine Protagonisten immer wieder das damals unaussprechliche Wort „schwul“ sagen lässt und fordert, dass die Schwulen selbst etwas ändern.

Genau das, was Praunheim fordert, passiert 1972 in Münster. Im Ausland gehen queere Menschen schon länger auf die Straßen. Die 1970er neigen sich bereits langsam ihrem Ende, als die Community in Deutschland zum ersten Mal den Christopher Street Day feiert. Sie stellt sich damit politisch in die Tradition der queeren Menschen, die sich in New York, angeführt von Schwarzen Transfrauen wie Marsha P. Johnson, bei einer Razzia gegen Polizeigewalt und Unterdrückung wehrten.

Die Künstlerin Cosy Piero gibt in München legendäre Partys, bei denen nicht nur cis-Heteros und Homos, sondern alle Geschlechter und Sexualitäten zusammenkommen. München wird in den 80ern zu einem neuen Zentrum queeren Lebens. Als Aids ausbricht, stirbt in vielen schwulen Freundeskreisen einer nach dem anderen. Bekannte Politiker*innen wie Horst Seehofer, heute Innenminister, schlagen öffentlich vor, HIV-Positive in Heimen zu sammeln. Nicht nur in der Community läuft es vielen kalt den Rücken herunter. In Bayern wird ein besonders strenger Maßnahmenkatalog beschlossen. Darin enthalten: Zwangstest für Prostituierte und Fixer. Wer sich verbeamten lassen möchte, muss HIV-negativ sein. Gleichzeitig sind die 1980er-Jahre eine Blütezeit queerer Pop- und Subkultur. Selbst internationale Stars wie Freddy Mercury ziehen ins Münchner Glockenbachviertel.

Und heute? Zwischentöne im Konfettiregen 

Illustration Richterhammer vor zerrissenem Paragrafen, darunter zwei Hände, die sich Eheringe über den Finger ziehen. © Illustration: © Rosa Kammermeier Paragraf 175 und Ehe für alle. Illustration: © Rosa Kammermeier
Nach mehr als einhundert Jahren fällt 1994 Paragraf 175 endgültig. In den 1990ern erleben nicht nur viele queere und schrille Stile ihren Höhepunkt, sondern auch Wissenschaftler*innen arbeiten, beeinflusst von den US‑amerikanischen Gender Studies, stärker an queeren Themen und Theorien. Im neuen Jahrtausend setzt die Community die eingetragene Lebenspartnerschaft durch. Sechzehn Jahre später scharen sich die Abgeordneten um die Wahlurnen. Sie stimmen ab, ob sie die Ehe für alle öffnen wollen. Das Ergebnis: Glücksgefühle. Ein bisschen mehr Freiheit. Darauf – noch im Plenarsaal – eine Konfettikanone!

Wie ambivalent das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu queeren Menschen immer noch ist, lässt sich daran ablesen, welche Phänomene sie zeitgleich hervorbringt: Einerseits ist die Popkultur – von Mode, Apps bis hin zur Musik – ein einziges Zitat queerer Ästhetik. Andererseits müssen Schauspieler*innen um ihre Karriere fürchten, wenn sie sich outen. Auf der einen Seite strotzt stolz vorgetragene „Toleranz“, gern auch um sich vom Ausland abzugrenzen, auf der anderen Seite stimmt der Bundestag dieses Jahr gegen ein wirkliches Selbstbestimmungsrecht für Transmenschen. Es gibt queere Dating‑Shows, Partys und Netflixserien. Andererseits klagen 2020 intersexuelle Menschen immer noch, weil das „alle“ in „Ehe für alle“ dann doch nicht so wirklich alle meinte. Queere Logos prangen an jedem Laden, leider nicht groß genug, um sie über Forschungslücken zu legen, die in der queeren Geschichte dieses Landes klaffen.

Die Geschichte der queeren Community ist – mit Blick auf das vergangene Jahrhundert – sicherlich nicht die leichteste. Sie lässt nicht immer daran glauben, dass es gut wird oder besser, aber wir wissen: Es gibt uns. Es ist erstaunlich, wie Queers gegen alle Widrigkeiten für sich einstehen. Genauso erstaunlich ist es, dass eine Gesellschaft, die Jahrhunderte der Unterdrückung beerbt und queere Geschichte verdrängt, denkt, dass Liebe gleich Liebe wäre.

Es wäre schön, wenn die Dominanzgesellschaft versteht, dass ihr die LGBTQIA+-Community nichts schuldet: keine Dreier, keine Erklärungen, keine Eindeutigkeit und kein Coming‑Out, kein Schweigen, wenn sie schlechter bezahlt wird oder immer ein bisschen besser und innovativer sein muss, keine Diskussion darüber, ob man nicht zu viel auf einmal fordert, weil sich ja schon viel verbessert hat. Vielleicht sind wir die Zukunft und ein Stück Vergangenheit, über das einige immer noch gern schweigen. Aber wir sind sicherlich nicht neu.

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