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Menschenrechte
Die dunkle Seite der Quarantäne

Menschenrechte und Covid-19
Foto: © Unsplash

Die Menschenrechtsidee werde durch die Empörung der Erniedrigten und Beleidigten über die Verletzung ihrer Menschenwürde genährt, sagt der große deutsche Philosoph Jürgen Habermas. Everyone could agree, that human dignity was central, but not why or how [Jeder würde zustimmen, Menschenwürde sei von zentraler Bedeutung, nicht aber warum und wie…], so seine These. In Zeiten einer Krise, ob durch Krieg, Klima oder Krankheit ausgelöst, zahlen immer die Erniedrigten und Beleidigten den höchsten Preis.

Von Juliana Metodieva

Die zwei Monate Quarantäne wegen der unerwarteten Pandemie, die durch das Virus Covid-19 ausgelöst wurde, setzten die Beziehungen zwischen Staat und Menschen in einen komplizierten und widerspruchsvollen Kontext. Für einen erheblichen Teil der Erkrankten war der Ausgang letal. Dies war vor allem in Italien, Spanien, Frankreich, Großbritannien der Fall. In Bulgarien waren die Todeszahlen glücklicherweise nicht hoch. Doch unter humanitärem Gesichtspunkt waren die durch die Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemiekrise verursachten Schäden für die anfälligen Bevölkerungsgruppen beachtlich. Nach wie vor haben sie sich als ungenügend geschützt erwiesen. 

Zur Einschränkung der Infektionsausbreitung hat die Koalitionsregierung von GERB und den „Vereinigten Patrioten“ außerordentliche Maßnahmen eingeführt. Als Ganzes wurde die Notwendigkeit der Quarantänebedingungen und der Kontaktbeschränkungen von der Bevölkerung akzeptiert, doch, wie auch in anderen Ländern, empfand man das Missverhältnis zwischen den restriktiven Maßnahmen als störend. Mehr als 60 Tage erlebten die unterschiedlichen sozialen Gruppen in unterschiedlichem Maße ein persönliches und soziales Missbehagen. Daten darüber waren schwer über die Mainstream-Öffentlichkeit zu gewinnen. Die unzureichende Medienresonanz über die individuellen und familiären Schwierigkeiten landesweit erschwerte zusätzlich in psychologischer und wirtschaftlicher Hinsicht das Funktionieren der bulgarischen Gesellschaft. Eine Zensur wurde der „dunklen Seite“ der Quarantäne eigentlich nicht auferlegt, doch die elektronischen und die Printmedien beschränkten bewusst die Informationen und die Analyse der Situation zwischen den vier Wänden zu Hause sowie in den Anstalten für Menschen mit Behinderungen. Das Leben in den Gettos zur Zeit der Krise war völlig ausgeblendet.

In vier aufeinanderfolgenden Artikeln wollen wir Tatsachen und Interpretationen des Gesamtbildes der Menschenrechtsverletzungen aufzeigen sowie Nuancen und spezifische Kontexte der Probleme im Leben der ethnischen Minderheiten, der Seniorenheime und der Anstalten für Kinder mit mentalen Behinderungen, der Bildung darstellen.

Unnötige Verletzung der Menschenrechte

In der Begründung des Nationalen Krisenstabs zur Bekämpfung des Coronavirus, die dem bulgarischen Parlament vorgelegt wurde, heißt es, dass hauptsächlich die Reise- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt werde. Zur Bewältigung der Ansteckungsgefahr jedoch ließ die Regierung unnötige Verletzung der Menschenrechte zu. Sie überschritt die in der Menschenrechtskonvention (ECHR) vorgegebenen Grenzen, dass nämlich die Regierenden unter keinen Umständen Willkür ausüben dürfen! Ähnliche undemokratische Entwicklungen ereigneten sich selbstverständlich auch in anderen Ländern der Welt. Diese Entwicklungen lösten Kritik vonseiten der Jurist*innen und Menschenrechtler*innen überall in Europa aus. In Bulgarien äußerte sich dies in Form von Unterschriftsammlungen, Vorschlägen und offenen Briefen an die Regierung. In Zeiten großer Herausforderungen – Kriege, Terrorismuswellen, Naturkatastrophen, Epidemien – kommen gewiss autoritäre, antidemokratische Tendenzen in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verstärkt zur Geltung.

In dieser Hinsicht stellt die globale Krise, die durch die Pandemie des Covid-19 ausgelöst wurde, keine Ausnahme dar. Der Ausnahezustand schuf Voraussetzungen zur Einführung vorläufiger Maßnahmen sowie vorläufiger Einschränkungen von Menschenrechten wie Freiheit der Person, des Privatlebens, Bewegungsfreiheit. Neben der Schließung von Kindergärten, Schulen und Universitäten wurden auch öffentliche Konzerte verboten, Fußballfans wurden ihrer wöchentlichen Fußballspiele im Stadion beraubt. Um diese Einschränkungen zu legitimieren, sollten sie zweifellos in Einklang mit dem Ziel des Ausnahmezustands gebracht werden. Jede Maßnahme soll streng notwendig sein, d.h. sie wird unzulässig, wenn ihr konkretes Ziel auch mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreichbar wäre. Sie sollte auch proportional sein, d.h. bei der Nutzen-Schaden-Abwägung in Bezug auf Einhaltung der Menschenrechte und anderer sozialer Güter sollte der Nutzen größer sein als der Schaden, den die Maßnahme verursacht. In vielerlei Hinsicht war dies jedoch nicht der Fall, das Prinzip der Zielerreichung durch Einsatz minimaler Mittel wurde nicht eingehalten.

Den bulgarischen Bürgern wurde suggeriert, dass unter den Bedingungen des Ausnahmezustands ihre Rechte in einem höheren Maße eingeschränkt werden können, als dies bei normalen Bedingungen zulässig wäre. Doch in der ersten Woche der eingeführten außerordentlichen antiepidemiologischen Maßnahmen  wurde die Gefähr einiger der frappierenden Strategien offensichtlich, die ein Risiko für die Demokratie in Bulgarien und die Einhaltung der Menschenrechte darstellen.

An erster Stelle wurde das Recht auf Freizügigkeit betroffen, das durch Artikel 2 im Protokoll 4 der Konvention gewährleistet wird. Einige der Maßnahmen beeinträchtigten in diesem Zusammenhang das Recht auf Privatleben, z.B. durch Einschränkung der sozialen Kontakte. Die Regierung unternahm vernünftige Maßnahmen und erteilte sinnvolle Ratschläge, doch wegen problematischer Entscheidungen in den letzten Jahren hatten viele Bürger das Vertrauen in die Regierung verloren und weigerten sich die Maßnahmen zu berücksichtigen. Nicht aus Sturheit, sondern aus Misstrauen und aus Mangel an Bürgerreife. Nicht wenige reagierten scharf auf die Erwartung, dass sie sich „sozial infantil“ zu verhalten hatten und alles tun, was von ihnen verlangt wird. Einen starken Widerstand erfuhr in wissenschaftlichen Kreisen der Terminus „soziale Distanz“ als obligatorische Maßnahme zur Eindämmung des Coronavirus. In den letzten Tagen der Quarantäne wurde diese Bezeichnung durch „physische Distanz“ ersetzt, doch die Kritik an der unangemessenen Formulierung beeinträchtigte die Legitimität der Meinungen von Epidemiologen und Politikern.

Als größtes Problem erwies sich die Aufstellung von Durchfahrtskontrollpunkten an bestimmten Stellen. In den wachsenden Covid-19-Todeszahlen in Italien, Spanien und Belgien sahen die Regierenden einen Anlass für die Einführung repressiver Maßnahmen (wenn auch mit der Begründung des Bevölkerungsschutzes). Dies war zum Beispiel der Fall bei der Einführung einer Nachtsperre für das ganze Territorium der Region Stara Zagora. Es blieb unbegründet und unklar, worin sich das dringende Verlassen der Wohnung in der Nacht und am Tag unterscheiden.

Die Absperrung durch Kontrollpunkte der Wohnviertel „Karmen“ in Kazanlak, „Fakulteta“ in Sofia, „Shesti“ in Nova Zagora, „Nadezhda“ in Sliven und „Maksuda“ in Varna war sehr problematisch aus demokratischer Sicht. Es war nicht klar, wie die Sozialhilfe da ihre Leistungen erbringen kann, wie die am stärksten anfälligen Familien mit Nahrung, Arzneimitteln und dem Allernötigsten versorgt werden können und welchen Zugang zu medizinischer Behandlung die neu auftauchenden Kontaktpersonen oder Corona-Infizierten haben.

Es war offensichtlich, dass diese Durchfahrtskontrollpunkte eigentlich eine direkte Diskriminierung auf ethnischer Grundlage darstellten, die auch bei einem Ausnahmezustand streng verboten ist. Die Verwaltungsbehörden (vor allem die Regionalen Gesundheitsinspektionen) sollten die Situation individuell vor Ort einschätzen, da die Roma-Viertel von Ort zu Ort spezifische Unterschiede aufweisen. Wenn Einschränkungsmaßnahmen die Prüfung ihrer Legitimität, ihrer Notwendigkeit und Proportionalität nicht bestehen, sollten sie einer Neubewertung unterzogen werden. Die Roma-Viertel sind bekanntlich risikoreich, sowohl wegen der Rückkehr unqualifizierter Arbeiter aus Ländern mit hohen Todeszahlen (vor allem Spanien, Griechenland, Italien, Deutschland), als auch wegen der Bevölkerungsdichte und der mangelhaften Hygienebedingungen.

Als besonders kritisch erwiesen sich die Einschränkungen in Jambol. Die restriktiven Maßnahmen waren völlig unverhältnismäßig in Bezug auf das Prozentverhältnis der Roma Bevölkerung – über 5000. Da die Infektion sich als Cluster ausbreitet, gab es eine Zeitlang eine erhöhte Anzahl positiver Proben in bestimmten Familien, doch wegen Mangel an Ärzt*innen und Pflegepersonal konnten weitere Abteilungen für Corona-Infizierte nicht geöffnet werden. Dieses Defizit des Gesundheitssystems der Stadt war dem Bürgermeister und der Regionalen Gesundheitsorganisation bekannt, trotzdem erwiesen sich die Turbulenzen aus humanitärer Sicht zuweilen schwer erträglich.

Bedroht war auch die Meinungsfreiheit. Mit dem Gesetzesentwurf über die zu treffenden Maßnahmen bei einem Ausnahmezustand wurde die Verbreitung „unwahrer Informationen“ kriminalisiert. Leider wurde der Begriff „unwahre Informationen“ nicht eindeutig definiert. Er konnte unterschiedlich und zu weit ausgelegt werden, wodurch das Recht der Bürger auf Informationsmitteilung beeinträchtigt werden könnte bzw. das Recht, sich selbst informieren zu lassen. Symptomatisch war der Fall mit Prof. Asena Stoimenova, der Präsidentin der Gesellschaft bulgarischer Pharmazeuten. Durch die vom Generalstaatsanwalt Ivan Geshev verordnete Spekulationsüberprüfung der Apotheken wurde die Arbeit der Pharmazeuten blockiert. Stoimenova wurde als Angeklagte herangezogen (laut Mitteilung der Generalsaatanwaltschaft) wegen „Äußerungen, die bei den Bürgern unbegründete Befürchtungen unter den Bedingungen des eingeführten Ausnahmezustandes auslösen“, laut Artikel 326 Ziffer 2 des Strafgesetzbuches, wo eine Strafe von drei Jahren für Personen vorgesehen ist, die „über Rundfunk, Telefon oder auf andere Art und Weise unwahre Aufrufe oder irreführende Gesten für Hilfe, Unfall oder Befürchtung vermitteln“. Ihr wurde auch eine Geldstrafe von 20.000 Lewa auferlegt.

Generell war die Gesellschaft einer übermäßigen auf Disziplin ausgerichtete Herangehensweise ausgesetzt – einem angsteinflößenden Krisenmanagement, Strafverfolgung mit langen Freiheitsentzugsfristen, unverhältnismäßig hohe Geldstrafen (5.000 Lewa schon für den ersten Verstoß, bevor die Änderungen am 6. April eingeführt wurden). Symptomatisch war der Fall mit dem Wirtschaftswissenschaftler Vladimir Karolev, der wegen Nichteinhaltung der Quarantänemaßnahmen mit 50.000 Lewa bestraft wurde.

Ungeschütztheit des Privatlebens

Der Ausnahmezustand wurde zu einer Herausforderung nicht nur für Wirtshaft und Politik weltweit sondern auch für die intimen Beziehungen der Menschen in der Familie. Die häusliche Gewalt gehört zu den am meisten erörterten und brennenden Themen in der bulgarischen Gesellschaft. Parallel zur COVID-19-Pandemie entwickelte sich in Bulgarien auch eine Pandemie von alltäglichen Fällen häuslicher Gewalt.

Vom 13. März, als der Ausnahmezustand eingeführt wurde, bis heute sind in Bulgarien acht Frauen an den Folgen häuslicher Gewalt gestorben, eine Frau ist in Lebensgefahr, und die Zahl der Anrufe in Krisenzentren wegen häuslicher Gewalt ist auf über 90 gestiegen. Fälle physischer und psychischer Gewalt gab es in verschiedenen sozialen Gruppen. Die Isolation von der Außenwelt, der viel zu lange Aufenthalt zu Hause mit der Familie, die Arbeitslosigkeit, die Angst vor der ungewissen Zukunft steigerten alle Formen der Gewaltanwendung. Infolge des Ausnahmezustands sind viele Menschen arbeitslos geworden und wurden in einen Zustand sozialer Gefährdung versetzt, und wo die Arbeitslosigkeit steigt, steigt normalerweise auch die häusliche Gewalt.

Am Anfang des dritten Monats veröffentlichten die Organisationen, die Hotlines für Opfer von Gewalt eröffnet haben, Daten über ein ernstzunehmendes Anwachsen der Anrufe. Die Hilfesuchenden melden viel schwerwiegendere Fälle als bisher. Nur innerhalb eines Monats sind die Telefonate von Kindern wegen häuslicher Gewalt um 370 Anrufe gestiegen. Seit der Einführung des Ausnahmezustands haben acht Frauen ihr Leben verloren infolge der Aggression ihrer Partner. Ein großer Teil der hilfesuchenden Opfer leben in äußerster Armut und haben nicht die Möglichkeit, für sich und ihre Kinder das Nötigste zu besorgen – Nahrung, Arznei- und Schutzmittel. Sie brauchen dringend humanitäre Unterstützung, um in den ersten Krisenmonaten und nach dem Ende des Ausnahmezustands zu überleben.

Das Recht auf Arbeit der Menschen wurde ebenfalls einem unrechtmäßig hohen Risiko ausgesetzt. Unakzeptabel war die Situation, dass die Berufstätigen eigentlich gezwungen waren, ihren bezahlten oder unbezahlten Urlaub in Anspruch zu nehmen, sowie der Mangel an jeglichen Mechanismen zur Unterstützung der Eltern, die gezwungen waren zu Hause zu bleiben, da Kindergärten und Schulen geschlossen wurden. Sehr bedenklich war der Hinweis vonseiten der Regierung, die Eltern dürften keine Krankschreibung in Anspruch nehmen, und falls sie nicht genügend Urlaubstage haben oder vom Arbeitgeber nicht freigestellt werden, sollten sich die Großeltern um die Kinder kümmern. Betroffen wurden auch Menschen mit niedrigem oder unregelmäßigem Einkommen, ohne Arbeitsverträge und chronisch kranke Menschen.

Unbegründet verhängte die Regierung ein allgemeines Verbot der Park- und Gartenbesuche. Sie nahm keine Rücksicht darauf, um welche Art der Parkanlage es geht und wo sie sich befindet, innerhalb oder außerhalb einer Siedlung. Die gleichen Verbote für Parkbesuche galten für Sofia, wo die meisten COVID-19-Infizierten festgestellt wurden, und für intensiv besuchte Parkanlagen einerseits, aber auch für Siedlungen, wo überhaupt keine Infizierten festgestellt worden waren – dies war eine unentschuldbare Nachlässigkeit, eine bürokratische Vorgehensweise und eine Rückversicherung in Bezug auf die Verhaltensregelung.

Die Probleme der psychischen Gesundheit unter den Bedingungen langwieriger Isolation der Bürger fanden keinen Platz in den öffentlichen Medien, doch die Sozialnetze wimmelten von Informationen darüber. Das Verbot der Parkbesuche, einschließlich für Eltern mit Babys und Kleinkindern (obwohl bei der Unklarheit der Normativbasis und laut Äußerungen des Gesundheitsministers Parkbesuche für Hundebesitzer erlaubt waren) verblüffte große Bevölkerungsgruppen. Depressionen, suizidale Stimmungen, Alkoholismus waren Indizien für die persönlichkeitszerstörende Wirkung der Isolation, die nur im engen Kreis von Experten*innen und Ärzt*innen diskutiert wurden.

Kinder und Senioren – unter den am härtesten betroffenen Bevölkerungsgruppen

In Anbetracht der Menschenrechte war die Krisensituation in den Seniorenheimen für Menschen mit Behinderungen noch stärker ausgeprägt. Sie verwandelten sich in ein Epizentrum, in dem sich die Einwohner leicht gegenseitig ansteckten und starben. Dieses Problem ist weltweit nicht zu unterschätzen, doch die ständigen Defizite des Lebensstandards und der Fürsorge in solchen Heimen in Bulgarien führte zu erschreckenden Ergebnissen. Angesteckt wurden Menschen im Seniorenheim der Stadt Kula (Todesfälle wurden bis zum letzten Tag der Ausnahmesituation gemeldet), ein weiterer Covid-19-Herd entstand im Kinderheim der Stadt Vidin, positive Tests gab es im Heim für medizinisch-soziale Betreuung von Kindern „Glaube, Hoffnung, Liebe“, Infektionen gab es auch im Seniorenheim in Blagoevgrad, wo außerdem auch ein Brand entstand, infiziert wurden Personalmitglieder im Seniorenheim der Stadt Radomir, Tote gab es im Seniorenheim des Dorfes Oreshetz.

Dynamisch und voraussehbar war die Krise beim Online-Unterricht in den Grund- und Mittelschulen. Nicht für alle Kinder und Jugendliche war der Zugang zu Digitalgeräten und zum Internet gesichert. Schüler in verschiedenen Kleinstädten konnten sich während des Ausnahmezustandes den Lehrstoff mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnologien nicht aneignen oder bekamen teileweise nur gedruckte Lehrmaterialien. Enorme Schwierigkeiten bestehen bei der Gewährleistung von EDV-Kenntnissen für die Kinder besonders armer, sozial schwacher oder Roma-Familien. Bildungsministerium und Nichtregierungsorganisationen versuchten, dringend technische Mittel anzuschaffen. Diese Kinder und Jugendliche, die keinen Zugang zum Internet (Laptops, Tabletts) haben, brauchten umgehend Hilfe, damit ihr Recht auf gleichen Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung nicht verletzt wird. Dies veranlasste in professionellen Kreisen einzelner Bereiche eine Diskussion über Unterricht der verschiedenen Geschwindigkeiten.

Infolge dieser Entwicklung bestimmte das Bildungsministerium für das laufende Schuljahr den Sommer als Nachholzeit. Die Bildungsmanager*innen kündigten an, dass dabei alle Schüler*innen zu erfassen sind, die während des Ausnahmezustands am Fernunterricht mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnologien nicht teilgenommen haben. Nachholstunden sind auch für Kindergruppen vorgesehen, die nur teilweise anhand von gedruckten Lehrmaterialien unterrichtet wurden. Außerdem sind zusätzliche Stunden notwendig, um die Kinder zu unterstützen, die Bulgarisch nicht beherrschen.

Die Interpretation der sozialen Krise infolge des COVID-19 kann in verschiedene Kontexte eingebettet werden. Leider waren und bleiben für die bulgarische Regierung und für die Mainstream-Medien die leitenden Kontexte die wirtschaftlichen. Dies ist begreiflich. Die „zerschlagene“ Wirtschaft einer problematischen Gesellschaft, die in der EU durch die niedrigsten Arbeitslöhne und durch die defizitäre Versorgung der Familien mit den allernötigsten Gütern – Arzneimittel, Nahrung, Kleidung – bekannt ist, machte diese Krise schwer erträglich hinsichtlich der Arbeitslosigkeit, des Bankrotts von Unternehmen und Firmen und der Schließung ganzer Berufsstrukturen. Aber den eigentlich hohen Preis zahlten vor allem die sozialen und ethnischen Minderheiten, die Frauen und die Kinder. Für die Bewältigung dieser humanitären Katastrophe ist enorme Anstrengung nötig. Unter sehr komplizierten Lebensbedingungen, bei hoher Arbeitslosigkeit, bei Mangel an Geld für Nahrung, Kleidung, Lehrbücher. Die sich häufenden Fakten und Faktoren der Gewaltanwendung in der Familie oder in den Anstalten für Menschen mit Behinderungen erscheinen immer komplizierter und schwerwiegender. Sie verlangen zielgerichtete und vervielfachte Bemühungen vonseiten des Staates. Zur Lösung dieser Probleme haben die bulgarischen Regierungsbehörden einen Weg voller alter und neuer Hindernisse zu überwinden.
 
Anm. d. Red. Wir danken den Autor*innen für ihre Artikel. Wir weisen darauf hin, dass die Einschränkungen individueller Freiheit, die Schließung von Bildungs-, Kultur- und Sporteinrichtungen und all die von den Autor*innen beschriebenen durch COVID- 19 bedingten Massnahmen nicht nur in Bulgarien, sondern auch in Deutschland und in vielen anderen Ländern verhängt worden sind. In allen Ländern streiten sich die Experten, ob diese Massnahmen angemessen und notwendig waren. Letztlich wird man das erst nach Beendigung der Coronakrise beurteilen können.
Das Goethe-Institut Bulgarien bezieht in dieser Frage keine Stellung, sondern bietet lediglich den Raum für eine faire und sachliche Debatte. Für den Inhalt der einzelnen Artikel sind die jeweils benannten Autoren verantwortlich.
 
Die Menschenrechtsvereinigung „Marginalia“ wurde im März 2014 gegründet, um die gleichnamige Website Marginalia zu veröffentlichen. Der Slogan der Online-Plattform lautet „Menschenrechte sind die Lösung“. Die Seite veröffentlicht täglich Neuigkeiten und einen Artikel sowohl von der Redaktion als auch von Gastautor*innen, Vertreter*innen von Minderheiten, Universitätsprofessor*innen und Journalist*innen. Das Informationsspektrum umfasst Analysen von Menschenrechtsverletzungen in Bulgarien und auf der ganzen Welt, aktuelle Interviews mit Leiter*innen religiöser Institutionen, hochrangigen Bildungsverwalter*innen und dem Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik sowie Aktivist*innen der maßgeblichsten Bürgerverbände. Der Inhalt der Website konzentriert sich auf die Probleme einiger der unsichtbarsten Teile des öffentlichen Lebens: das Leben schutzbedürftiger Minderheiten (Roma, Muslime, Juden, LGBTI, Menschen mit Behinderungen, Geflüchtete) und befasst sich auch mit der Problematik der kollektiven Erinnerung – dem Holocaust, dem Zweiten Weltkrieg, dem kommunistischen Regime und Staatssicherheit und dem „Wiederbelebungsprozess“. Chefredakteurin Juliana Metodieva ist Bulgariens Nominierung für den Journalistenwettbewerb „Für Diversität. Gegen Diskriminierung“ der Europäischen Kommission.

Die Vereinigung „Marginalia“ initiiert Schulungsseminare, moderiert Konferenzen und Workshops. Sie arbeitet mit Schulen in Großstädten, Medienexpert*innen, Psycholog*innen, Sportstars und Künstler*innen zusammen. Auch führte sie eine einzigartige Streetart-Aktion in der Innenstadt Sofias durch (Collagen aus Fotos und Chargen, die von Schüler*innen erstellt wurden und den nationalistischen Trend in öffentlichen Reden verspottet). 2018 veranstaltete sie zusammen mit der Gemeinde Sofia und dem Goethe-Institut die Konferenz „Sofia - eine Stadt ohne Extremismus und Hassreden“, für die sie mit dem Preis des Programms „Europa“ der Stadt Sofia ausgezeichnet wurde. Sie ist Trägerin des Shofar-Preises für die Bekämpfung von Hassreden und Antisemitismus und des Preises „Für aktive Bürgerschaft“ der Kommission zur Erschließung der Dokumente und zur Erklärung der Zugehörigkeit bulgarischer Bürger zur Staatssicherheit.

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