Theaterkritik
Oratorium über den ersten Schrei
Über „Oratorium“, das neue experimentelle Werk von Anna Dankova, das in die irrationalen und sinnlichen Räume der Sprache eindringt.
Von Snezhanka Mihaylova
Über Oratorium kann man nur im Prozess des Zuhörens schreiben. Und das Schreiben selbst ist Zuhören. Das Zuhören vollzieht sich als Reflexion über den Verlust. Während ich schreibe, höre ich mir unser Gespräch mit Anna Dankova an, und was ich höre, ist das Einweben des Denkprozesses in den Text, das Untergewebe der Sprache, die Pausen, die Bemühungen im Prozess der Sinngebung. Das Oratorium selbst erforderte ein Schreiben, das zuhört, eine Art Technik, die die Authentizität der Sprache durchlässt. Ich will damit sagen, dass bei dieser Aufführung die Forschungsarbeit mit im Spiel ist. Was ist die Rolle des unsichtbaren und durch Bilder nicht übertragbaren Feldes, wenn es darum geht, das Innere und die Fragen nach den Ursprüngen der Sprache zu enthüllen? In den Möglichkeitsfeldern des Theaters geht es um das Erlebnis und das Paradoxon, dass sich die kritischen Kerne der Bühne um das in Bildern und Worten nicht zu Darstellende drehen. Die Quellen oder Felder der Möglichkeitsbedingungen auf der Bühne sind auch die treibende Kraft in Anna Dankovas Theater. Daraus ergeben sich die Interpretationsmöglichkeiten dieser Kunst als eine Praxis, ein Prozess, eine Forschungsarbeit, die der Aufführung vorausgeht und sie transzendiert. Und vor uns – als Zuschauer dieses Prozesses – steht die Frage nach dem automatischen Wiederauftauchen von Sinn und dem Ertönen der Stimme als Einbruch in theatrale Konzepte und als neuer Baustein von etwas, das es zu erforschen gilt.
Das Oratorium beginnt mit der Intention, die Ursprünge der Sprache zu erkunden: „Im Allgemeinen habe ich den Wunsch, die Ursprünge von allem auf rein kindliche Weise zu erforschen… Warum gibt es die Augen… Welchem Willen entspringt das Leben… Hätten wir andere Sinne, um zu sehen, wären wir nicht das, was wir jetzt sind… Die Wahrheit liegt im Unbewussten… Ich bin daran interessiert, zu unserer persönlichen Urkraft zu gelangen“.[1] Und die Sprache gehört zur Sensibilität, die ihren Ursprung im ersten Schrei hat.
Das Oratorium beginnt mit dem ersten Schrei. “Welchem Bedürfnis entspringt unsere Stimme und was wollten wir, als wir noch keine Stimme hatten… Was war ihr Wille, bevor sie sich rational als Sprache ausprägte…” Die Absicht zu Beginn ist es, genau diese Gebiete durch Regressionstechniken zu erkunden. “Wie wird die Stimme körperlich erlebt, bevor man überhaupt gesprochen hat… Wie ich im Mutterleib höre… wie sich der Stimmapparat bildet…” Das Oratorium beginnt mit einer Erkundung der Geburt der Stimme, aber es ist ein Oratorium der Geburt selbst unter Schmerzen. “Der erste Schrei ist der Hintergrund, der unsere Kultur programmiert. Der erste Schrei programmiert das, was wir kulturell sind. Ich vermute, dass er körperlich so schwer ist, dass er vergessen werden muss… Wo es ein Trauma gibt, muss es vergessen werden, damit das Leben weitergehen kann.” Der erste Schrei markiert das biologische Leben und spiegelt das Trauma der Geburt wider. Der erste Moment, in dem man sich aus der Natur hinausbegibt. Der erste Moment, in dem der Mensch die natürliche Atmung verletzt. “Wenn man in die Welt hinausgeht, (…) ist das erste, was man tut, den natürlichen Rhythmus zu stören… Die Natur ist rhythmisch, sie fließt in gleichen Zyklen – Sonne, Mond, Ebbe und Flut… Auch die normale Atmung ist ein Ein- und Ausatmen. Aber Weinen funktioniert nicht so… Weinen stört das gleichmäßige Ein- und Ausatmen und die Harmonie im Allgemeinen… Vielleicht hat man angefangen, das Sprechen durch Weinen zu proben… Wenn wir sprechen, weinen wir in gewisser Weise, rhythmisch… Deshalb beginnt die Vorstellung mit Weinen…” Das Weinen stellt eine akustische Szene der präsymbolischen Bezüge der Stimme zum Körperlichen dar, wie Ersticken, Verschlucken, Saugen, wobei die Achse der Sprache der Atem selbst ist. Das Oratorium entblößt die Sprache und stellt sie als Schleier dar. Die Geburt unter Schmerzen und der erste Schrei unter Schmerzen gebären die Kultur. Das ist der Fluch Gottes über den Menschen – unter Schmerzen geboren zu werden bedeutet auch, dass man aus dem Schmerz heraus sprechen wird. “…Und so ist der Mensch zur Kultur verdammt, denn das erste, was er tut, ist, den natürlichen Rhythmus zu verletzen. Und das Zweite, was er tut, ist, eine Sprache zu entwickeln, die das Trauma der Geburt rationalisiert… Sprache ist eine Abwehrreaktion… wenn man versucht, die Wahrheit zu finden … und wenn man sucht, und wenn man performt, und wenn man regrediert, und auch jetzt reden wir. Man kommt zu einer Art Unfähigkeit, etwas zu erleben, und man beginnt, Worte zu konstruieren, die einen mitnehmen, die einen trösten, beschützen, begleiten… Wir haben kein authentisches Leben, wir haben keine Kultur des Erleben-Könnens. Jede Kultur ist eine Post-Erlebnis, sie symbolisiert…“
Das Oratorium beginnt mit der Klangextraktion und der Erforschung von Klangassoziationen in einzelnen Silben und Klangfragmenten. Das klingt wie “Französisch“. “Wir haben Silben erforscht, die aus allen Kulturen stammen… Wir haben uns alle Mühe gegeben, dass diese Klänge zu nichts passen, aber was auch immer man macht, der Zuschauer und der Schauspieler selbst haben Klangassoziationen.“ Im Oratorium befinden wir uns in einer Probenmodalität der Klanglichkeit, die die Erfahrung daraus erzeugt, dass die Stimme nicht erlöschen würde, dass sie wieder “da“ wäre, auch wenn dieses “da“ ein leerer Raum wäre. Ersticken, Verschlucken, Saugen, dann wieder Atem holen. Wiederholung ist Stabilität. Das unbewusst erahnte Theatralische, die Mimesis nicht als Vorstellung, sondern als Probenprozess. Im Herzen der Performance haben wir ein Vakuum. “Wir spielen die Reproduktion… Kinder reproduzieren ihr Sprechen auf die gleiche Art und Weise… Jedes Baby reproduziert… Und es ist nicht nach dem Prinzip der Nachahmung, weil es seine Eltern gehört hat… Es scheint mir, dass Sprechen die Wiederholung desselben Musters ist… Wir reproduzieren unvermeidlich… Das ist die Beharrlichkeit des Lebens… In der Stimme der Sprache finde ich eine Reproduktion kultureller Muster… Es ist unmöglich, bestimmte Klänge nicht mit einer Kultur zu assoziieren… Mit der Intonation ist es dasselbe. Egal, mit welcher Intonation man arbeitet, wie abstrakt sie auch sein mag, es ist unmöglich, dass sie nicht zu irgendetwas passt… Und an einem bestimmten Punkt habe ich aufgehört, damit zu kämpfen… Und ich habe mir gesagt, okay, lass uns mal die sozialen Situationen anschauen… Soziale Situationen werden reproduziert, Intonationen sind unsere Reproduktionen…“ Die Intonation ist ein Träger der seelischen Vorgänge beim Sprechen, die die Sprache zu verbergen sucht. Rationalisierung und Sprache als Schleier. Wir gehen dorthin zurück, zurück zum ersten Schrei, er ist so erdrückend, dass man Worte finden muss, um ihn zu vertreiben. Da ist der Ursprung der Sprache, da ist die Verbindung von Sprache und Stimme. “Ob die erste Sprache in irgendwelchen Zeichen liegt, oder die erste Sprache zwischen Mutter und Kind ist… Ob sie in der Übertragung von Informationen oder in der emotionalen Rede ist… Wir können nur phantasieren…“
Ein Oratorium in Engelszungen gesprochen. Sie sollen eine Verbindung zum Unterbewusstsein herstellen. Bis zu einem gewissen Grad werden auch kulturelle Stereotypen verwendet und als Zensurmechanismen eingesetzt. Das Oratorium ist um ein leeres Feld herum organisiert. Dieses leere Feld verweist auf das Vorsprachliche, es lässt sich auf keine Sprache reduzieren. Es verweist auf die Empfindungen der körperlichen Erfahrung und verweist tatsächlich auf den Körper. Das, wofür die Sprache existiert, wird im Oratorium zu einer Abwesenheit ausgehöhlt. Wir können von einer Sinnabwesenheit sprechen, aber das wäre an sich keine genaue Bezeichnung. Die Sprachen, die gesprochen werden, sind in der Aufführung abwesend. “Man wird geboren und auf Funktionalität programmiert… Aber niemand lehrt uns, was das Leere ist… niemand lehrt uns, was das Leben jenseits der biologischen und sozialen Funktion ist… Und es ist, als ob wir lebten… Und es ist, als ob wir mitten im Sinn wären… Alles ist so konstruiert, dass man nicht über die Bedeutung jenseits des Programms in Worten nachdenkt… Durch dieses Werk habe ich den Drang, dass das Publikum antizipiert… dass es seinem Bauchgefühl vertraut und spürt… die erste Liebe. Denn die erste Liebe hat keine Worte. Man ist in einem Zwischenraum, und der Kampf ist um die gelebte Erfahrung… um dorthin zurückzukehren…” Die Sprache, wenn sie mit der gelebten Erfahrung verbunden ist, ist eine Erlösung. Diese Forschungsarbeit ist nicht auf irgendeine Wahrheit ausgerichtet, sondern ist vielmehr eine Suche in der Bemühung, authentisch zu leben und lieben zu lernen. Du bist mit dieser Leere konfrontiert und musst sie akzeptieren, du musst lernen zu lieben. “Die Forschungsarbeit besteht nicht in der Suche nach der Form… Die Szene bringt ihre eigene Form mit sich… wenn wir erkennen, dass die Sprache eine unvermeidliche Notwendigkeit ist, in der wir nichts anderes haben als den Herzschlag…“
Das Oratorium kann eine Komödie, ein Musical sein, das mit Ironie auf den Logozentrismus und die patriarchalischen Rückstände in kodierten sozialen Situationen verweist. Eine Kultur, die vor dem Versuch zurückschreckt, dem Gelebten einen Sinn zu geben, ist völlig inhaltsleer. Im Oratorium gibt es eine klare Aufforderung an den Zuschauer, zuzuhören, bevor er sich verteidigt. Lehnt er diese Aufforderung ab, bleibt er auf dem Gebiet eines sinnentleerten Diskurses voller Stereotypen isoliert. Dann ist das Lachen, das die Dunkelheit des Saals durchdringt, ohne Freude. Wahre Freude können wir erleben, wenn wir Vertrauen zueinander empfinden. Die Leere, in der wir unter Schmerzen geboren werden und in der unsere tiefsten Erfahrungen zutage treten, ist eigentlich warm und entgegenkommend, nicht verurteilend und abweisend. Vielleicht können wir in einer solchen Kultur sehen, wie sich die Wahrheit als Empathie einschleicht; unser gemeinsames Terrain, auf dem wir eine Sprache aufbauen können, die fähig ist, zuzuhören und das Leben zu akzeptieren.
[1] Die Zitate sind aus einem Arbeitsgespräch der Autorin mit Anna Dankova über ihre Aufführung.
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Snezhanka Mihaylova studierte Sprachphilosophie und Hermeneutik an der Universität Florenz, DasArts in Amsterdam und machte eine Spezialisierung an der Jan van Eyck Accademie in Maastricht. Ihre künstlerische Arbeit liegt am Schnittpunkt von Philosophie und Performance, Schreiben und Publizieren. Sie unterrichtet am Dutch Art Institute in den Niederlanden und an der Philosophischen Fakultät der Universität Sofia “St. Kliment Ohridski“.
"ORATORIUM"
Buch und Regie: Anna Dankova
Mit Vasilya Drebova, Galya Kostadinova, Alexander Gotchev, Georgi Naldzhiev
Sprachcollage: Yoana Robova
Kostüme: Pola Popova
Produzent: anyway
Koproduzent: Regionalzentrum für zeitgenössische Kunst “Toplocentrala“
Partner: Goethe-Institut Bulgarien, Neue bulgarische Universität
Die Produktion wurde mit der finanziellen Unterstützung des Ministeriums für Kultur realisiert
Premiere: April 2023, Regionalzentrum für zeitgenössische Kunst “Toplocentrala“
Die Veröffentlichung erfolgt mit Unterstützung des Goethe-Instituts Bulgarien.