Montreals Stonewall
Wie die Sex-Garage-Razzia eine ganze Generation mobilisierte
In Montreal mobilisierte sich nach Jahren der institutionellen Diskriminierung eine breite queere Bewegung als Reaktion auf den Polizeiüberfall auf die Sex Garage am 15. Juli 1990. Was wir aus den Folgen des Polizeiangriffs auf eine After-Hour-Party lernen können.
Von Denise Benson
Für mich stand immer schon fest, dass Tanzklubs und Partys viel mehr sein können als nur ein Ort zum Feiern. Marginalisierten Gruppen boten sie von jeher eine ideale Gelegenheit, um sich gegenseitig – und auch sich selbst – auf der Tanzfläche zu finden. Viele Queers können die Wurzeln unserer Lesben- und Schwulenbewegungen sogar in sozialen Räumen ausmachen. Am bekanntesten sind die Aufstände vor dem Stonewall Inn in New York im Juni 1969. Damals setzten sich Schwule, Lesben und Transsexuelle erstmals zur Wehr, weil sie von den ständigen Polizeirazzien an Schwulentreffpunkten genug hatten – und ihr Widerstand setzt sich bis heute fort. In Toronto lösten Polizeirazzien in vier Gay-Saunen am 5. Februar 1981 Massenproteste aus und aktivierten damit die gesamte Szene.
Und auch in Montreal mobilisierte sich nach der Sex-Garage-Razzia vom 15. Juli 1990 eine breit angelegte Queer-Bewegung, der Jahre der institutionellen Diskriminierung vorausgegangen waren. Die Polizisten setzten nicht nur der – nach der Sperrstunde angesetzten – Party ein Ende, sondern versperrten, mit Schlagstöcken bewaffnet, von draußen die Ausgänge. Sie drangsalierten Hunderte von Partybesucher*innen, die versuchten, das Gebäude zu verlassen, und dann hemmungslos auf der Straße verprügelt wurden. Der Polizeieinsatz bei der Sex-Garage-Veranstaltung hatte Zusammenstöße zwischen der Montrealer Polizei und der LGBTIQ*-Community zur Folge. Er politisierte außerdem eine ganze Generation von Künstler*innen, Aktivist*innen und Partyveranstalter*innen, die sich zusammentaten, um für den notwendigen Wandel zu kämpfen. Die Sex-Garage-Partys stehen außerdem in direkter Verbindung mit der sexuell und musikalisch diversen After-Hour-Szene der Stadt, die in den 1990er-Jahren explodierte, ebenso wie mit der alternativen Queer-Bewegung der 2000er-Jahre.
Party in der Garage
| © Linda Dawn Hammond
Im Laufe der Jahre habe ich während meiner Aufenthalte, meiner Arbeit und meiner Auftritte als DJ in Montreal viel über den Vorfall und seinen Einfluss auf die Queer-Bewegung in der Stadt erfahren. Selbst jetzt, viele Jahre danach, ist die Geschichte immer noch bemerkenswert, auch wenn sie außerhalb der Grenzen der Provinz weniger bekannt ist. Hier äußern sich namhafte Vertreter der Szene, die Sex-Garage-Partys organisiert oder daran teilgenommen haben oder später dadurch beeinflusst wurden, über die Nachwirkungen der Ereignisse und darüber, welche Bedeutung die daraus gelernten Lektionen gerade auch im heutigen politischen Klima haben.
Die Vorgeschichte
Die Sex-Garage-Razzia war bei Weitem nicht das erste Mal, dass Montrealer Polizeibeamte bei einer abendlichen Gay-Party als ungeladene Gäste erschienen. „Das Verhältnis zwischen Polizei und Homosexuellen war hier schon immer äußerst schwierig“, sagt Theaterautor und Publizist Puelo Deir, der auch das erste Pride-Festival der Stadt, Divers/Cité, mit ins Leben gerufen hat. „Wenn es überhaupt einen Kontakt gab, dann nur in der Form, dass die Polizisten in eine Bar kamen, um diese entweder für den Rest der Nacht zu schließen oder um sich vor Ort umzusehen, wobei meist der Vorwurf erhoben wurde, dass die Bar nichts anderes als ein Bordell sei.“„Ende der 1970er-Jahre führte die Polizei eine Razzia in der Gay-Bar Truxx im Westend durch. Man warf die Männer ins Gefängnis, setzte ihre Namen in die Zeitung und legte ihnen Sexualstraftaten zur Last. Ich bin davon überzeugt, dass dies alles vor dem Hintergrund der Versuche des Bürgermeisters Jean Drapeau zu sehen ist, in der Innenstadt aufzuräumen. Drapeau hatte absolut keine Toleranz gegenüber Homosexuellen.“
Puelo Deir, der seine Jugend sowohl in Montreal als auch in Toronto und Ottawa verbrachte, machte Montreal in den 1980er-Jahren zu seiner Heimat, weil er sich von ihrer französischen und lateinamerikanischen Kultur angezogen fühlte, ebenso wie von dem bekannterweise weniger konservativen Nachtleben der Stadt. Das gemischte Publikum auf den Loft-Partys sagte ihm mehr zu als die getrennten Gruppierungen im Gay Village.
„Das Village war vom westlichen ans östliche Ende der Stadt abgewandert, wo es sich auch heute noch befindet“, erklärt Deir. „Die Bars waren mehr oder weniger getrennt; es gab solche, in denen nur Männer zugelassen waren, ein Großteil davon ließ noch nicht einmal Dragqueens hinein. Auf den Loft- und Warehouse-Partys hingegen – den illegalen After-Hour-Partys, die nach Beginn der Sperrstunde stattfanden – konnten französisch- und englischsprachige Männer, Frauen, Transsexuelle und Transvestiten außerhalb der vorgegebenen Strukturen des Gay Village zusammenkommen.“
Schwules Clubbing in der Garage | Foto (Ausschnitt) © Linda Dawn Hammond Viele berichten, dass die ausschweifendsten Loft-Partys vom Filmemacher und Künstler Nicolas Jenkins alias Sterile Cowboys & Co. veranstaltet wurden. Der in Peru geborene und hauptsächlich in Kanada aufgewachsene Jenkins verließ Toronto nach seinem Studium am Ontario College of Art & Design und zog nach New York. Dort arbeitete er in dem einflussreichen Nachtklub Area, zunächst als Hilfskellner und später als Filmvorführer. Dabei entdeckte er seine Liebe zur Underground-House-Musik, die in Klubs wie der Paradise Garage aufgelegt wurde.
1987 zog Jenkins nach Montreal. Bald darauf begann er damit, in Abständen von etwa zwei Monaten Partys zu veranstalten. Er verteilte Flyer in ausgewählten Schwulenbars, heterosexuellen Klubs, Punktreffs und an sonstigen Orten. Es dauerte nicht lange und die Partys zogen Hunderte von Besuchern an.
„Der Drang, jedes Mal etwas Neues auszuprobieren, war auf den Einfluss des Area zurückzuführen“, erklärt Jenkins. „Es gab immer ein Thema, unter das ich die Flyer und Vorführungen stellte, und dazu lief House-Musik. Die Musikszene in Montreal war zu dem Zeitpunkt auf einem Tiefpunkt. In den Schwulenklubs wurde unglaublich kommerzielle Musik gespielt; House lief nur in einigen schwarzen Klubs, die allerdings nicht besonders schwulenfreundlich waren. Die Schwulenszene war außerdem extrem streng nach Gruppen getrennt und homophob in dem Sinne, dass man gegenüber Dragqueens und eher femininen Homosexuellen äußerst ablehnend eingestellt war. Frauen erhielten zu den Männerclubs – wenn überhaupt – nur einmal im Monat Zutritt.“
„Ich kam aus New York, wo die besten Klubs äußerst durchmischt waren – alle Altersgruppen, alle gesellschaftlichen Klassen: Reiche, Arme, Leute aus der Hip-Hop-Szene und aus der New-Wave-Szene“, sagt er. „Und genau das war für mich das perfekte Rezept für ein großartiges Event. Das wollte ich mit meinen Partys etablieren“.
SEX GARAGE: die PARTY & die Proteste
Sex Garage steht für eine einmalige Party, die in derselben Lagerhalle im Stadtteil Old Montreal veranstaltet wurde, in der sich auch Probenräume für lokale Bands befanden. Der abgelegene Standort bot ideale Voraussetzungen für die Stimmung, die Jenkins sich für diese heiße Julinacht im Jahr 1990 vorgestellt hatte.Die Razzia ging auf der Straße weiter | © Linda Dawn Hammond „Ich hatte einen Stripper-Schlangenmenschen engagiert, und dann, als die Stimmung sich aufheizte, kamen noch Go-go-Tänzer dazu. Bei allen Partys wurden Videos gezeigt – viele davon mit sexuellen Inhalten, vor allem Vintage-Pornos. Wir haben Nudisten-Pornos, heterosexuelle Pornos und viele Schwulenfilme gezeigt“, erinnert er sich. „Wir steckten gerade mitten in der AIDS-Krise und ich versuchte, Sex und Feiern wieder miteinander zu verbinden, indem ich mich bemühte, eine positive Einstellung in Bezug auf Sex und Polysexualität zu vermitteln – in dem Sinne, dass Sexualität in jeglicher Form zelebriert wurde. Ich verwendete ganz bewusst Unmengen an homosexuellem und lesbischem Material. Ich wollte deutlich machen, dass es sich um Queer-Partys handelte, um einen sicheren Raum für Queers, auch wenn prinzipiell jede*r willkommen war.“
Jenkins engagierte für die Veranstaltung DJs wie Peter Lightburn und Tony Desypris (beides Pioniere im House- und Garage-Underground von Montreal), die etwa 400 Besucher*innen auf die Party lockten. Die meisten Gäste befanden sich im Gebäude, als die Polizei gegen vier Uhr morgens eintraf, um eine Razzia durchzuführen. Der Veranstalter war zwar Besuche von der Polizei gewohnt („etwa die Hälfte meiner Partys wurden von der Polizei beendet“), ihr Eintreffen in jener Nacht sollte jedoch einen erschreckend anderen Verlauf nehmen.
„Ich fing an, nervös zu werden, weil viele Gäste später reinkamen als sonst und dann auch noch alle auf einmal“, sagt Jenkins. „Als die Polizei eintraf, behandelte man mich genauso wie bei anderen Partys bisher auch; sie sagten so etwas wie ‚Die Party ist vorbei. Machen Sie das Licht an, alle fliegen raus‘ und das war’s. Aus meiner Sicht war nichts anders als sonst, wie man draußen mit den Leuten umging hingegen schon. Ich habe alles vom Fenster aus beobachtet.“
Die Polizisten „brachten sich in Kampfstellung“ und versperrten Partygästen den Weg, die versuchten, das Gebäude zu verlassen. Einige Polizisten gingen mit Schlagstöcken bewaffnet auf die Menge zu und riefen homophobe Beleidigungen. Die Menge blieb stehen und antwortete mit politischen Sprechchören. Einige Polizisten entfernten ihre Dienstmarken und schlugen auf Partybesucher ein.
„Ich erfuhr zum ersten Mal von der Anwesenheit der Polizei [bei der Sex Garage], als mir jemand sagte, dass Beamte drinnen gewesen seien und die Veranstalter aufgefordert hätten, die Party zu beenden“, erläutert sie. „Die Beleuchtung war noch immer gedämpft und die Musik lief mit voller Lautstärke, so dass viele von uns dachten, es handele sich nur um ein Gerücht. Dann hörten wir, dass die Polizei vor dem Eingang sei, und Zeugen aus einem anderen Saal berichteten, sie hätten beobachtet, wie die Polizei einen Partygast, Bruce Buck, bei dessen Versuch, noch einmal zurückzukehren, um seine Jacke herauszuholen, angegriffen hätte. Die Polizisten hatten ihn aus dem Blickfeld zwischen das Gebäude und einige parkende Autos gezogen und brutal zusammengeschlagen.“
Hammond hielt die darauffolgenden Ereignisse detailliert fest, sowohl in Worten als auch in Bildern. Die Polizisten „brachten sich in Kampfstellung“ und versperrten Partygästen den Weg, die versuchten, das Gebäude zu verlassen. Einige Polizisten gingen mit Schlagstöcken bewaffnet auf die Menge zu und riefen homophobe Beleidigungen. Die Menge blieb stehen und antwortete mit politischen Sprechchören. Einige Polizisten entfernten ihre Dienstmarken und schlugen auf Partybesucher ein. Hammond blieb am Auslöser, wobei das Blitzlicht ihrer Kamera ihren Standort verriet. Obwohl sie von den Polizisten niedergeschlagen wurde, gelang es ihr, ihre Kamera und ihre Filmrollen einem Freund zuzustecken, der mit dem Fahrrad davon fuhr. Diese Aufnahmen dienten später als Beweis sowohl für die Brutalität der Polizei als auch für eine Community, die diese Brutalität nicht länger als gegeben hinnahm.
„In dieser Nacht trieb die Polizei es einer neuen Generation gegenüber auf die Spitze“, sagt Puelo Deir, der auch auf der Sex-Garage-Party war, diese jedoch bereits vor der Razzia verlassen hatte. „Dies war eine neue Generation von Partygängern, medienerfahren und ohne Angst vor einer Veröffentlichung ihrer Namen. Sie war angesichts von HIV und AIDS außerdem militanter eingestellt. Wir befanden uns zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt der Mobilisierung. Die Menge war zudem sehr gemischt – französisch- und englischsprachige Homosexuelle, Heterosexuelle und Transvestiten, Bisexuelle und Freunde der Szene. Die Partygäste waren eine absolut bunte Mischung aus politischen Aktivisten, Akademikern – und auch einer Handvoll kampfbereiter Rowdys.“
Die Menschen mobilisierten sich rasch. Gleich am nächsten Tag gab es eine große Demonstration vor der Polizeistation 25 in der Innenstadt, sowohl als „Love-in“ als auch „Kiss-in“ betitelt. Dieses Mal waren wichtige Medien wie La Presse, Montreal Gazette und CTV Montreal vor Ort, um das Geschehen zu verfolgen.
„Es waren mehr als 70 Polizisten in Schutzausrüstung vor Ort, einige von ihnen trugen Latexhandschuhe, um sich vor AIDS zu schützen“, berichtet Hammond, die erneut alles mit der Kamera festhielt. „Sie umstellten uns von allen Seiten.“ – „Ich wurde Zeuge davon, wie die Polizisten Demonstrant*innen am helllichten Tag verprügelten, direkt vor den anwesenden Reporter*innen“, fügt Jenkins hinzu, der ebenfalls dabei war. „Sie taten dies völlig unverblümt, was für mich das Ausmaß ihrer Homophobie deutlich machte. Sie glaubten, es sei völlig in Ordnung, so etwas öffentlich zu tun. Der Schuss ging jedoch nach hinten los. Das Vorgehen fand große Aufmerksamkeit in der Presse und diese fiel alles andere als positiv aus.“
„Ich denke, der brutale Polizeiangriff am Tag des 16. Juli und die darauffolgenden Verhaftungen haben die öffentliche Unterstützung gestärkt und die Initialzündung für den Widerstand gegeben“, stimmt Hammond zu, die anmerkt, dass sich bei den anschließenden Protesten Freund*innen, Familienangehörige und andere zusammen taten, um die homosexuelle Szene zu unterstützen. „Die Sex Garage brachte all diese Gruppierungen, die eigentlich nie ein Zusammengehörigkeitsgefühl gehabt hatten, auf noch nie dagewesene Weise zusammen“, sagt Deir. „Früher frequentierten sie noch nicht einmal die gleichen Lokale, und jetzt waren sie auf einmal damit konfrontiert, sich gemeinsam für etwas einzusetzen.“
Wir sind hier, wir sind Queer, gewöhnt Euch dran
Die Sex Garage schweißte eine Generation, die bereits mit Homophobie und Problemen im Zusammenhang mit HIV und AIDS zu kämpfen hatte, weiter zusammen. | © Linda Dawn Hammond „Das Timing war quasi perfekt“, sagt Jenkins. „In den größeren Städten gab es viele Aktivist*innen. Es gab ACT UP und Queer Nation und einige von uns waren schon dabei, ähnliche Gruppierungen in Montreal zu gründen. Leute wie David Shannon (damals Kolumnist für den Montreal Mirror), Paula Sypnowich, Blane Mosley und Douglas Buckley waren bereits aktiv und politisch engagiert. Ich glaube, die Sex Garage brachte einfach noch mehr Menschen dazu, mitzumachen.“Die damals ebenfalls in Montreal ansässige Filmemacherin Maureen Bradley dokumentierte die wachsende Aktivität der Szene in einer kurzen Reportage über die Sex Garage mit dem Titel Wir sind hier. Wir sind queer. Wir sind fantastisch (Originaltitel: „We're Here. We're Queer. We're Fabulous“).
Deir, bekennender „Partyboy“, gehörte zu denen, die von Anfang an mit von der Partie waren. Er half, durch die Organisation einer Reihe von Veranstaltungen Gelder für Rechtsanwaltskosten in Verbindung mit der Sex Garage aufzubringen. Zusammen mit anderen gründete er außerdem zahlreiche politische Aktionsgruppen, um für die Rechte der LGBTIQ*-Community in Montreal zu kämpfen.
„Da gab es die Vereinigung Table de concertation des gaies et lesbiennes du Grand Montréal, die nach den Ereignissen um die Sex Garage ins Leben gerufen wurde, und die Gruppe Lesbians and Gays Against Violence“, berichtet Deir. „Und dann fand 1993 die historische Anhörung vor der Quebec Human Rights Commission zum Thema Gewalt gegen Schwule und Lesben statt. Das war auf die Sex Garage zurückzuführen und den Aktivist*innen zu verdanken, die mit ACT UP und Queer Nation angefangen hatten und sich von dort aus weiterentwickelt hatten. Die Sex Garage rückte die Rechte der Queers auf eine noch nie dagewesene Weise ins Licht der Öffentlichkeit.“
Außerdem wurde Deir durch all dies angeregt, gemeinsam mit der Mitinitiatorin Suzanne Girard 1993 das erste große Pride-Festival der Stadt Divers/Cité zu organisieren. Die Veranstaltung – aus einem ausgeprägten Widerstandsgeist, aus dem Gedenken an die Sex Garage und die HIV- und AIDS-Opfer und auch aus einem gemeinsamen Glauben an Inklusion heraus entstanden – wurde für mehr als zwei Jahrzehnte zum größten Pride-Festival Montreals.
„Die meisten von uns, die den Sex-Garage-Vorfall erlebt hatten, waren auch bei den Anfängen von Divers/Cité dabei“, sagt Deir, der die Veranstaltung bis 1998 mitorganisierte. „Auch wenn man darüber streiten oder diskutieren kann, ob die Sex Garage wirklich als Montreals Stonewall zu bezeichnen ist – für mich war es genau das. Es war wichtig, die Erinnerung an dieses bedeutende Ereignis in der Geschichte der Queer-Szene von Montreal wachzuhalten.“
Der soziale & musikalische Widerhall
Parallel zu den politischen Aktivitäten gab es da noch die Partys. Der Einfluss der gemischten Loft-Veranstaltungen zeigte sich auch in vielen Schwulenklubs, die nun ebenfalls dazu übergingen, ihre Türen für ein gemischteres Publikum zu öffnen. Nicolas Jenkins wurde sogar von einigen Klubs wie dem legendären K.O.X. im Gay Village engagiert, um ein breiteres Publikum anzuziehen.Außerdem veranstaltete er auch nach der Sex Garage in den 1990er-Jahren gemeinsam mit Mark Anthony weiterhin große Loft-Partys. Bevor er zu einem der erfolgreichsten House- und Circuit-DJs von Montreal wurde, besuchte Anthony bereits im Teenageralter die „sehr coolen, sehr bunt gemischten“ Partys von Jenkins und war „sprachlos“, als er in den Nachrichten von der Sex-Garage-Razzia erfuhr.
„Obwohl ich heterosexuell bin, bewegte ich mich größtenteils in der Schwulenszene und nun sah ich die Szene aus einem völlig anderen Blickwinkel“, sagt Anthony. „Das war Homophobie, ganz eindeutig. Ich denke, die Sex Garage hat den Menschen bewusster gemacht, was sich da abspielte. Ihnen wurden – aus gesellschaftlicher Sicht – die Augen geöffnet.“
Gemeinsam produzierte das Duo After-Hour-Partys mit „gewagten Einladungen, einer fantastischen Atmosphäre und Dekoration und großartigen Tänzern“, um es mit den Worten des DJs auszudrücken. „Unsere Partys waren etwas trendiger und hatten mehr Besucher. Wir zogen Menschen an, die aus allen sozialen Schichten kamen; unsere Gäste waren farbig oder schwul oder coole Heteros oder sie gehörten zur Downtown-Szene“, berichtet er. „Und genau das war unsere Vision der Utopie von Montreal.“
Anthony berichtet auch, dass die Polizei keine einzige der Partys beendete, die er zusammen mit Jenkins veranstaltete. Es gab auch nie irgendwelche Probleme mit dem Playground, dem ersten legalen After-Hour-Klub von Montreal, der von Ende 1994 bis 1997 im Gay Village betrieben wurde. Anthony gehörte zum Stammpersonal des Playground und legte dort jeden Samstagabend auf.
„Im Playground zeigte sich Montreal wohl von seiner besten Seite“, meint der DJ. „Es war eine besondere Zeit. Die Musik war gut, die Drogen waren gut und es war außerdem phänomenal, Schwule und Heterosexuelle gemeinsam in einem After-Hour-Klub zu sehen. Für uns war das nichts Neues, denn wir kannten das von unseren Partys. Es dann aber ganz offiziell in einem kommerziellen Klub zu erleben – da wusste ich, dass wir in Montreal ein neues Level erreicht hatten.“
Obwohl der Klub nur wenige Jahre existierte, ebnete das Playground den Weg für Montreals nächsten großen legalen After-HourKClub, der 1998 unter dem Namen Stereo eröffnet wurde, ebenfalls im Village und mit Anthonys Unterstützung. Das Stereo zog bekanntermaßen viele Jahre lang ein sehr bunt gemischtes Publikum an, unter anderem an den von Anthony veranstalteten Ritual Nights. (Er ging später auf Welttournee und ist heute in erster Linie in der Musikproduktion tätig.)
Plastik Patrik ist eine weitere Ikone des Nachtlebens von Montreal; auch er wurde stark durch die Teilnahme an Jenkins’ Partys beeinflusst. Im Alter von 18 Jahren erfuhr er aus der Zeitung von der Sex-Garage-Razzia und den Protesten. Bald darauf fand er sich auf Jenkins’ Tanzfläche wieder.
„Die Partys von Nicolas hatten einen hohen Stimulationsfaktor – von der Musik über die Videos und die Mottos bis hin zu den Gästen. Als ich auf diese bunte Szene traf, gefiel mir insbesondere die Dualität von Dekadenz und Extravaganz auf der einen Seite und politischem Bewusstsein auf der anderen Seite“, schwärmt Patrik. „Mir wurde klar, dass diese Leute, die ich für so verdammt cool hielt, auch an den Protesten beteiligt waren und ich dachte ‚Wow – das geht beides. Man kann cool und gleichzeitig politisch sein, ein soziales Bewusstsein haben und sich für beides einsetzen‘. Das hat mir gewissermaßen das Rüstzeug für vieles gegeben, was danach noch kommen sollte.“
Als er Ende der 1990er-Jahre genug von der House-Musik hatte, machte er sich einen Namen als Alternative-DJ und war Frontmann von Glam-Punk-Bands wie One 976 und Patrik et les Brutes. Er trat mit seinen Platten, seinen Bands und seinem extrem androgynen Erscheinungsbild in der ganzen Stadt auf und heizte mit Vorliebe sowohl in Schwulenbars als auch in heruntergekommenen Punktreffs ein.
Neben DJs wie Bobzilla, Frigid und Mini gehörte Patrik zu den Hauptantreibern der explosionsartigen Entwicklung der alternativen schwulen Kunst- und Musikszene von Montreal. Sie brachten Rock, Electroclash und Techno in Village-Klubs wie das Parking and Sky und auch in Plateau-Hotspots wie die Saphir Bar, wo er acht Jahre lang freitags der Hauptact war. „Damals drängten viele Leute gemeinsam in eine Richtung“, sagt Patrik. „Die Szene wuchs und dort schloss sich der Kreis zur Sex Garage und der Divers/Cité-Veranstaltung.“
SEX GARAGE: die Bühne
Mit zunehmender Größe, Reichweite und Finanzausstattung des Divers/Cité-Festivals kamen auch immer mehr Outdoor-Bühnen hinzu. Patrik war fast während der gesamten 2000er-Jahre für das Programm auf der Sex-Garage-Bühne verantwortlich. Wie bei der ursprünglichen Party zog die Bühne ein pansexuelles Publikum an und es wurde Underground-Musik gespielt.„Der Sound war etwas härter und aggressiver“, beschreibt Patrik. „Aber meist tanzbar und immer energiegeladen.“
Dank der Popularität der Sex-Garage-Bühne standen genügend Gelder zur Verfügung, um auswärtige Bands einzuladen wie Olympia, Washington's Gossip, die kalifornische Electroclash-Gruppe Gravy Train!!!! und die Post-Punk-Band The Organ aus Vancouver, neben Lokalgrößen wie Lederhosen Lucil, Frigid, The Cherry Persuasion, Duchess Says, Echo Kitty, We Are Wolves und Cherry Cola. Bevor sie einen Plattenvertrag bei Alien8 unterschrieb und mit Bands wie Le Tigre auf Tour ging, spielte die Electropunk-Band Lesbians on Ecstasy aus Montreal eine ihrer ersten Shows auf der Sex-Garage-Bühne.
„Es hat so viel Spaß gemacht!“, erinnert sich die Mitbegründerin und Leadsängerin der Band Lynne Trépanier. „Wir hatten bei unseren Auftritten damals noch unseren blauen iMac im Einsatz, das war echt total witzig. Plastik Patrik moderierte und es waren Unmengen von Leuten da. Kommerzielle Großveranstaltungen fühlen sich immer irgendwie merkwürdig an, daher war es [Sex Garage] die beste denkbare Bühne für unseren Auftritt beim Pride-Festival. Unsere Freundin Viviane hatte Buttons für uns gemacht, die wir in die Menge werfen konnten – mit der Aufschrift ‚I support Lesbian Divorce‘ (‚Ich bin für die lesbische Scheidung‘).“
Wenn sie selbst auch zu jung gewesen war, um Jenkins’ Partys zu besuchen, so hatte Trépanier doch von den ursprünglichen Sex-Garage-Partys gehört und kannte deren Bedeutung.
„Ich war mir darüber im Klaren, dass das ein wichtiger Moment war, und dass es um viel mehr ging als nur um einen Partyraum. An der Concordia-Universität habe ich dann auch ein Seminar zur HIV-/AIDS-Pandemie belegt und dort wurde viel über die Sex-Garage-Partys als Impulsgeber für die Schwulenbewegung in Montreal diskutiert“, berichtet sie. Später moderierte sie beim lokalen Radiosender CKUT drei Electro-Sendungen und wurde Mitorganisatorin einer neuen Generation von Loft-Partys.
Die Musik war zwar anders, die Ziele ähnelten aber denen, die Jenkins ein Jahrzehnt davor hatte. „Zusammen mit ein paar Freunden organisierte ich einige Partys, bei denen die Drum-and-Bass-Szene mehr oder weniger im Mittelpunkt stand; wir waren ein bunter Haufen aus Homo- und Heterosexuellen. Sehr PLUR [Peace Love Unity Respect]. Sehr in Partylaune“, fügt Trépanier hinzu. „Ich denke mal, die Loft-Partys boten die Möglichkeit, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem alle willkommen sind. Sich aus dem Blickfeld herauszuziehen war damals sehr einfach.“
Das Gelernte ANWENDEN
Heute ist es wieder wichtig, sich an die Lektionen zu erinnern, die man aus Vorfällen wie der Sex-Garage-Razzia gelernt hat – vor allem angesichts der stetigen und brutalen Beschneidung der Menschenrechte durch die Trump-Regierung, unter anderem auch gegen die LGBTIQ*-Szene.Polizei ante portas | © Linda Dawn Hammond „Ich glaube nicht, dass die Sex Garage außerhalb von Montreal sonderlich bekannt ist“, sagt Jenkins. 1994 kehrte er wieder nach New York zurück und macht weiterhin Filme, die Einblicke in die Queer-Kultur liefern, wie etwa vergangenes Jahr die Kurzdokumentation Walk! über die New Yorker Ballroom- und Vogue-Szene. „Ich denke, viele Dinge, die sich vor der Zeit des Internets ereignet haben, geraten in Vergessenheit.“
Glücklicherweise haben Menschen wie der Queer-Journalist Richard „Bugs“ Burnett, der für verschiedene Magazine und Zeitungen schreibt, darunter HOUR, Xtra! und die Montreal Gazette, ausführlich über das Thema berichtet. An den 25. Jahrestag der Sex-Garage-Razzia wurde außerdem 2015 auf dem Fierté-Festival – dem nach der Einstellung von Divers/Cité im gleichen Jahr nunmehr einzigen Pride-Festival in Montreal – in Form einer Ausstellung mit den Fotos von Linda Dawn Hammond erinnert.
„Mir war nicht bewusst, dass der Vorfall noch so fest im Gedächtnis verankert ist“, gibt die Fotografin zu, die elf Jahre zuvor von Montreal nach Toronto gezogen war. „Einige jüngere Leute, die in die Ausstellung kamen und nichts von der Sex-Garage-Razzia wussten, waren erstaunt, dass so etwas ‚damals‘ passieren konnte. Ich habe gehört, dass es in manchen Kreisen umstritten ist, den Sex-Garage-Vorfall als ‚Unser Stonewall‘ zu bezeichnen. Aber mir ist bewusst, dass die Geschichte des LGBTIQ*-Aktivismus in Montreal nach diesem Ereignis einen anderen Lauf genommen hat, und ich bin stolz, ein Teil davon gewesen zu sein.“
Die Sex Garage hat mit Blick auf die Menschenrechte der LGBTIQ*-Community in Québec mehr erreicht als je ein Ereignis zuvor. Sie brachte eine ganze Generation von Menschen dazu, rauszugehen und – was noch wichtiger ist – sich politisch zu engagieren und die Kultur sowie die Gesellschaft zu verändern.
Puelo Deir
Wenn Deir auf das Verhältnis zwischen der Polizei und der heutigen Queer-Szene in Montreal angesprochen wird, antwortet er spontan: „Es gibt keines. Die jungen Queers sind nicht sonderlich gut auf die Polizei zu sprechen, und das kann ich absolut nachvollziehen. Die Studentenproteste des ‚Printemps Erable‘ [2012 – Ahorn-Frühling], die sich in jüngerer Zeit wiederholt haben [2015], haben deutlich gemacht, dass sich am Verhältnis zur Polizei fast nichts geändert hat. Die Polizei hat meines Wissens noch nie an einer Parade beim Divers/Cité-Festival oder einer der heutigen Pride-Veranstaltungen in Montreal teilgenommen. Ich denke, es liegt noch ganz viel Arbeit vor uns.“
Deir, der momentan an einer Dokumentation/einem Theaterstück über Sexarbeitende und das kanadische Prostitutionsgesetz arbeitet, verweist auf einen Punkt, der derzeit möglicherweise das umstrittenste Thema der Queer-Politik in Kanada darstellt: wie Polizist*innen, wenn überhaupt, außerhalb der Dienstzeit an Pride-Paraden teilnehmen sollten.
Diese Frage kam auf, als Black Lives Matter (BLM) Toronto die Pride-Parade im letzten Jahr stoppte, um Pride Toronto eine Liste mit Forderungen zu präsentieren. Der Punkt auf dieser wichtigen Liste, der in den Medien die meiste Aufmerksamkeit erhielt – und unzählige hitzige Debatten auslöste – war die Forderung, Umzugswagen der Polizei von der Parade auszuschließen. Anfang dieses Jahres haben die Mitglieder von Pride Toronto auf der jährlichen Mitgliederversammlung dafür gestimmt, die Forderungen von BLM zu akzeptieren und umzusetzen. Polizist*innen außer Dienst sind bei der Parade weiterhin als Teilnehmer*innen willkommen, jedoch nur als Fußgänger*innen und nicht in Uniform.
„Ich glaube, dass alles, was gerade in Toronto in punkto Pride und Polizei passiert, die Diskussion über das Thema fördert, was auch notwendig ist“, stimmt Trépanier zu, die heute als Tontechnikerin und weiterhin als DJ arbeitet. „Wie können Menschen nur so schnell vergessen, dass uns die Polizei gehasst hat? Ihre PR hat sie vielleicht besser im Griff, aber sie gibt immer noch Parolen gegen queere PoC-Communitys ab und die Leute leben in Angst vor der Polizei. Die Polizei ist keine harmlose Truppe – sie setzt immer wieder rassistische und homophobe Grundsätze durch. Und bei der Pride-Bewegung geht es darum, sich genau dagegen zur Wehr zu setzen.“
Diese Diskussion ist essentiell. Nicht alle Menschen, die zum LGBTIQ*-Spektrum gehören, profitieren in gleicher Weise von denselben Rechten und Privilegien. Und solange sich das nicht ändert, gibt es weiterhin gute Gründe dafür, auf die Straße zu gehen und zu protestieren.
„Ich habe das Gefühl, dass das, was Black Lives Matter getan hat, den Menschen wieder ins Gedächtnis gerufen hat, dass es bei Gay-Pride-Festivals um mehr geht als nur um Sponsoren, Tanzen und Paraden“, stellt Patrik fest. „Eine Sache, die ich definitiv von den Ereignissen um die Sex Garage gelernt habe, ist die, dass radikale Veränderungen immer eine schwierige und unangenehme Sache sind. Ein derart fundamentales Umdenken wie bei der Art und Weise, wie Homosexuelle oder Queers angesehen werden und ob sie von der Polizei respektiert werden oder nicht, lässt sich nicht auf die sanfte Tour erreichen, weil es auch immer etwas mit Gegenwehr zu tun hat.“
„Ich glaube, dafür stand die Sex Garage. Ihre Botschaft war ‚Genug ist genug‘“, sagt er. „Was danach kam, war das Gefühl, einfach überall ausgehen und schwul sein zu dürfen, und dass die Welt dafür bereit war.“