Kapitel 2
Revolution und Kerzen
„Es waren jedenfalls nicht die fehlenden Bananen, die uns auf Straßen brachten, sondern dieses ständige Gefühl der Angst und dass man endlich mal frei seine Meinung äußern wollte“, erinnert sich Katharina Steinhäuser aus Jena.
Von Regine Hader und Dr. Andreas Ludwig
Die Menschen richten ihre Rufe „Wir sind das Volk“ direkt an die SED und die Staatsführungsprecher. Am siebten jeden Monats ziehen Demonstrierende durch die Straßen, um die „überwältigende Zustimmung“ von 98,85 Prozent zur SED-Politik bei den gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 zu kritisieren.
Jeden Montag nach den Friedensgebeten in den Kirchen Ostdeutschlands wird klarer, dass diese Zahlen nicht die tatsächliche Stimmung im Land ausdrücken. Bei den Montagsdemonstrationen demonstrieren die Bürger*innen gegen das Regime. „Im ersten Moment ist die Stimmung noch angespannt und angstvoll“, beschreibt die Zeitzeugin, die selbst in Jena dabei war – schließlich wissen alle Anwesenden, wie der Staat im Zweifelsfall mit Regimekritiker*innen umgeht. Sie beschreibt dieses Gefühl als den grundlegenden Ton der DDR: ein Summen oder Grundrauschen der Angst, das über Jahre im Hintergrund läuft. „Natürlich waren wir auch mal glücklich, frisch verliebt und jung. Aber man sollte permanent Hurra schreien – und auch das konnte falsch sein.
Ich erinnere mich an eine große Trostlosigkeit.“ An den Alltagssituationen und Waffen hing die „permanente, diffuse Unsicherheit und Angst, etwas falsch zu machen, rechtlos eingesperrt zu werden und dem Staat ausgeliefert zu sein.“ Katharina Steinhäuser erinnert sich an ihre erste Demonstration: „Als ich hörte, dass in Leipzig Zehntausende demonstrieren, hat es mich unheimlich ermutigt. Ich dachte: Nun kannst du auch nicht mehr an der Seite stehen. Es machte uns einfach Mut zu wissen, wie viele es schon waren.“Es herrscht Aufbruchstimmung als sie nah aneinander stehen, loslaufen und sich gegenseitig die Kerzen anzünden. Obwohl sie von den brutalen Übergriffen auf Demonstrierende in der Vergangenheit, den Konsequenzen für ihre beruflichen Laufbahnen und das eigene Leben wissen, spüren die Demonstrierenden nicht nur Mut, sondern auch Erleichterung. Nach einer „langen Zeit der Depression“ fühlt sich jeder gemeinsame Schritt auf der Straße nach Freiheit an. „Alleine schon gegen das Regime zu demonstrieren, war eine plötzliche Veränderung, zu sagen: Jetzt geht’s los! Wir lassen es einfach nicht mehr zu, Stillschweigen über alles zu werfen, was uns belastet.“
Originaltransparente der Friedlichen Revolution
| Foto: Bernd Schmidt © wir-waren-so-frei.de
In Leipzig protestieren die Bürger*innen zwei Tage nach den brutal niedergeschlagenen Protesten zur 40-Jahr-Feier in Berlin. „Keine Gewalt!“, fordern sechs prominente Leipziger Bürger die SED-Funktionäre auf und erreichen tatsächlich, dass die anwesende Polizei, das Militär und die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ passiv bleiben. Die 300.000 Demonstrierenden umrunden schließlich die komplette Leipziger Innenstadt über die Ringstraße – ein Wendepunkt.
Heimlich filmt der Journalist Siegbert Schefke mit. Sein Video wird nach Westdeutschland geschmuggelt, im Westfernsehen gesendet – und verbreitet die Nachricht der friedlichen Revolution.
Aufruf der DDR-Opposition Neues Forum
| Foto: © Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR
Wie können die Oppositionellen diese Proteste eigentlich organisieren? Jemand gibt heimlich einen Zettel weiter, ein anderer schreibt ihn eilig ab, die Worte auf den Rechenkästen sehen „unschuldig“ aus, fast wie eine Mitschrift aus dem Unterricht – tatsächlich sind sie aber zutiefst politisch. Mit diesen losen Blättern verbreitet sich der Aufruf des Neuen Forums in wenigen Tagen. Zum ersten Mal in der Geschichte der DDR wollen Oppositionelle offiziell als politische Gruppe zugelassen werden. Es sind Stunden der Positionierung – in ein paar Tagen unterschreiben tausende Bürger*innen den Aufruf.
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