Mich interessiert nicht wie Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt
Pina Bausch
Ursula Kaufmann
„Nelken-Line“ Montréal
Zum Auftakt der Saison 2020/21 hatte Danse Danse die Aufführung des ikonischen Werkes „Nelken“ der Choreografin Pina Bausch geplant. Nachdem die aktuelle Situation die Absage erzwang, fanden sie virtuelle Lösungen, um Bauschs Tanz und Geist über unsere Bildschirme hinaus zum Leben zu erwecken.
Im Anschluss an einen Online-Tanzworkshop über die Nelken Line mit Anik Bissonnette, der künstlerischen Leiterin der École supérieure de ballet du Québec, appelliert Danse Danse an Ihre Kreativität und an Ihre wunderschönen Videos, um eine einzigartige Nelken Line zusammenzustellen.
Von Québec bis Frankreich sammelten sie mehr als 20 Tanzclips.
Das Projekt NELKEN-LINE
Im Jahr 2017 startete die Pina-Bausch-Stiftung - mit dem Ziel, das Vermächtnis des Tanztheatergründers fortzuführen - das Nelken-Line-Projekt, das seither Tausende von Tanzliebhabern aus der ganzen Welt zusammengeführt hat. Das Konzept ist einfach: Dank eines Tutorials lernen die Teilnehmer einen kurzen Auszug aus dem Nelken-Stück, bevor sie zusammenkommen, um es zu tanzen, indem sie durch einen öffentlichen Platz oder virtuellen Raum paradieren. Das Ergebnis wird gefilmt und das Video an die Stiftung geschickt, die es archiviert und verbreitet. So entsteht eine bewegende internationale Gemeinschaft, die am Tanz die tiefe Menschlichkeit von Pina Bausch teilt. Entdecken Sie die 371 Videos : https://bit.ly/3iMA2xn
Ein*e gute*r Fotograf*in versteht es, genau die Momente einzufangen, die tatsächlich stellvertretend für eine Choreographie stehen, und ist in der Lage, Bewegungen durch den Stillstand zu vermitteln und die stilistischen Besonderheiten einer Tanzproduktion abzubilden. Doch dazu bedarf es eines vorausahnenden Blickes, der die Fotografin oder den Fotografen exakt in den Momenten den Auslöser betätigen lässt, die entscheidend sind für die Choreographie.
Ursula Kaufmann
Ursula Kaufmann hat diesen Blick und erweist sich dadurch immer wieder als Glücksfall für die Tanzszene. In einem Interview wurde sie einmal gefragt, woran sie erkenne, dass sie nun auf den Auslöser drücken müsse. Sie antwortete, dass sie das nicht mit Worten erklären könne, ihr Gefühl sage ihr den richtigen Zeitpunkt Und dieses Gefühl trügt sie nicht. So hat sie im Laufe der Jahre, seit sie 1984 begann, sich der Tanzfotografie zu widmen, die Tanzproduktionen zahlreicher Ensembles abgelichtet. National und International, städtische Kompanien und freischaffende Truppen - Ursula Kaufmann kennt sie alle, und sie geht bei jeder Produktion mit der gleichen Leidenschaft, dem gleichen Enthusiasmus zu Werk.
Tanz lebt von den Bildern, die er kreiert, er ist wortlos nur insoweit, als er sich nicht der gesprochenen Sprache bedient. Doch er kann dem*der Betrachter*in durch die Bilder und die Bewegungen, durch Stimmung und Atmosphäre, unendlich viel erzählen. Mit ihrer Kamera fängt Ursula Kaufmann einzelne Abschnitte der „Tanz-Geschichten“ ein und macht unweigerlich neugierig auf die ganze Geschichte.
Ursula Kaufmann über ihre Ausstellung
Pina Bauschs meistzitierte Aussage: „Mich interessiert nicht wie Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt“, übertrage ich auf meine Fotografie.Meine Fotos sollen weder bloßes Dokument noch eigenständiges Kunstwerk sein. Ich zitiere Beate Sokoll (Zentrum für ZeitgenössischenTanz) aus dem Vorwort zu meiner Publikation:. Getanzte Augenblicke, Ursula Kaufmann fotografiert Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal, Verlag Müller *Busmann,2005:
„Der Tanz gilt, um ein oft bemühtes Wort aufzugreifen, als flüchtigste der Künste. Ohne die Mittel der Sprache, eines Librettos, einer Textvorlage, vergehen die Bewegungen fast im gleichen Moment, in dem sie entstehen. Ist ein Zuschauer einer Bewegung nicht gefolgt, so ist diese entschlüpft, ohne dass man es nur bemerkt hat. Notationen oder Videoaufzeichnungen sind nur unzureichende Mittel, diese Form, der Bühnenkunst festzuhalten. Allerdings ist es möglich, einen kleinen Moment einer Choreographie mit der Fotokamera zu dokumentieren, gleichsam einen winzigen Augenblick einzufrieren und abrufbar zu machen.
Hier ein weiteres Zitat von Jochen Schmidt, einem (verstorbenen) Tanzkritiker der FAZ:
„Warum also lasse ich mich gleichwohl immer wieder einmal darauf ein, etwas über Pina Bausch zu Papier zu bringen - wie dieses Vorwort zu einem neuen Bildband der von mir überaus geschätzten Fotografin Ursula Kaufmann? Ist der Grund dafür vielleicht darin zu suchen, dass die Choreographin - mindestens für mich - auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch etwas darstellt, was ich vor 23 Jahren im Vorwort zu einem anderen Pina Bausch-Buch , dem von Hedwig Müller und Norbert Servos, als eine latente Herausforderung beschrieben habe: 'Die Bausch macht keine Ausflüchte und erlaubt sie auch dem Betrachter nicht. Sie ist für jedermann, ihre Kritiker eingeschlossen, eine ständige Erinnerung an die eigene Unzulänglichkeit, ein permanentes Ärgernis, eine andauernde Aufforderung, den Trott und die geistige Trägheit aufzugeben, die Lieblosigkeit über Bord zu werfen und anzufangen mit gegenseitigem Vertrauen, gegenseitiger Achtung, Rücksichtnahme, Partnerschaft'. Pina Bauschs Stücke, so sah ich es damals und sehe es immer noch, lösen Betroffenheit aus und machten Parteinahme erforderlich: entweder für oder gegen sie.
(Vorwort zu meiner Publikation Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal (Müller/Busmann, 2002).
Die erste Begegnung mit Pina Bausch hatte ich 1975 mit dem Stück Frühlingsopfer. Seitdem hält die Faszination für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch an. Die Wiederaufnahmen früherer Stücke haben fast nichts an Aktualität verloren. Universelle Themen von Ängsten, Verlassenwerden, Liebe und Sehnsucht zwischen den Geschlechtern, wie ich gerade im Januar 2020 in der Wiederaufnahme von 1977 von Blaubart erleben konnte.
Ursula Kaufmann
Die gebürtige Essenerin, Jahrgang 1945 und gelernte lndustriekauffrau, entdeckte ihre Liebe zum Theater und zur Fotografie schon als Teenager. Aber erst 1984 vereinte die Frau mit dem strengen Haarknoten einer klassischen Ballerina beide Leidenschaften zum Beruf. Denn sie hatte einen großen Traum: „Nur einmal möchte ich Pina Bauschs Tanztheater Wuppertal fotografieren dürfen!“ Seit sie 1975 Bauschs Choreografie Frühlingsopfer (1e Sacre du Printemps mit der Musik von lgor Strawinsky) gesehen hatte, ließen sie die außerordentliche Bilderkraft, der Facettenreichtum origineller Bewegungen und die charismatische lndividualität der Tänzer nicht mehr los. „lch liebe diese Wuppertaler Tänzer. lhre ausdrucksvollen Gesichter vergisst man nie“, schwärmt die inzwischen längst international renommierte Fotokünstlerin.
Ursula Kaufmann
| © Ursula Kaufmann
Von der Ruhrtriennale bis zu den Salzburger Festspielen und der Opéra Nationale de Paris ist sie gefragt. lhre Fotos von lnszenierungen aller Theatersparten werden von den größten Zeitungen der Welt bis hin zu Le Monde, El pais und The New York Times gedruckt. Einzel- und Gruppenausstellungen in Deutschland und weltweit - so in Kyoto, Casablanca, lstanbul und New York - dokumentieren die Vielzahl der zeitgenössischen Choreografen, deren Werk Kaufmann in Momentaufnahmen festhält: „lch fotografiere gern Menschen“, erläutert sie schlicht. „Das lnteressanteste und Größte war für mich schon immer der Tanz. Denn menschliche Bewegung einzufangen hat etwas Magisches. Man kann nicht vorausahnen, was kommt.“
Das Herz der Fotografin gehört vor allem Pina Bausch und ihrem Ensemble. Kaufmann gestaltet seit 2004 jährlich einen Pina Bausch-Tanzkalender und ist Autorin des großformatigen immerwährenden Bausch Kalenders der Edition panorama (2010 und 2021). Drei Fotobände veröffentlichte sie bisher: Nur Du -Ursula Kaufmann fotografiert Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal, 1998, bewusst doppeldeutig benannt in Anlehnung an das gleichnamige Amerika-Stück von Pina Bausch; Ursula Kaufmann fotografiert
Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal (2002) und Getanzte Augenblicke - Ursula Kaufmann fotografiert Pina Bausch das Tanztheater Wuppertal (2005). ln der Tat fängt Kaufmann die Eleganz, Lebensfülle, Farbigkeit und Melancholie der Bausch-Stücke so authentisch ein wie wenige andere.
Das erste persönliche Treffen der Fotografin mit der legendären Choreografin sei „total banal“ verlaufen, erinnert sich Kaufmann. Quasi auf dem Treppenabsatz sei sie der wortkargen, scheuen Tanz-lkone vorgestellt worden. Als die dann Kaufmanns Fotos für das erste geplante Buch sah, sei es „wohl eine Art Liebe auf den ersten Blick für dieselbe Arbeitsweise“ gewesen - nichts Verstelltes, alles echt, punktuell genaue Bilder. Fast drei Stunden habe Bausch die Fotoauswahl für Nur Du autorisiert, in ihrer ruhigen Art jedes „ja“, „nein“, „eventuell“ detailliert begründet. „Eins meiner liebsten Fotos wollte sie nicht mitnehmen“, weiß Kaufmann noch genau. Der Grund: „Die Tänzerinnen haben keinen Blickkontakt. Das müssen sie in dieser Szene aber.“
Wie sehr psychologische oder praktische Details für Bauschs künstlerische Feinarbeit entscheidend waren. erfuhr Kaufmann auch bei dem Ungarn-Stück Wiesenland. ln der Generalprobe stürmte der temperamentvolle Tänzer Fernando Suels Mendoza spontan ins Parkett, schnappte sich die Fotografin und lud sie ein, die berühmte Bausch-Diagonate auf der Bühne mitzutanzen. „lch schwebte im siebten Himmel, fühlte mich wie Aschenputtel in den Armen des Prinzen“, lacht Kaufmann mit leichter Selbstironie. Leider sei diese Aktion jedoch von Bausch nicht in die Produktion aufgenommen worden. Mit prosaischer Begründung, mutmaßt die Fotografin: die jeweils ausgewählte Zuschauerin trüge womöglich einen zu engen Rock, um die großen schritte der Truppe mitmachen zu können.
2005 war Kaufmann eine Woche bei der Einstudierung von Orphée et Eurydice mit dem Ballet de l’Opéra national de Paris in den Pariser Probensälen mit Pina Bausch zusammen. Aber näher gekommen sei man sich nicht wirklich. Zu verschlossen sei Bausch gewesen, zu sehr in ihre ldeen vertieft. lhr Tod sei bitter. lmmerhin aber geht die Arbeit des Tanztheaters Wuppertal mit unvermindertem Welterfolg weiter. Und noch immer sitzt Ursula Kaufmann bei den Generalproben zu den Neueinstudierungen und Wiederaufnahmen in der Mitte der ersten Reihe des Parketts im Wuppertaler Opernhaus. „Und wenn ich krank wäre - verpassen würde ich keine dieser einzigartigen Begegnungen und Erfahrungen“.