Olga Grjasnowa
Unbefangene Zeitdiagnosen
Olga Grjasnowa auf der Prager Buchmesse | © Björn Steinz/Goethe-Institut
Olga Grjasnowa verwebt in ihren Romanen ungewöhnliche Plots mit komplexen politischen Fragen. Ihr analytischer Blick und erfrischend eigener Stil begeistern Leser und Kritik.
AUF EINEN BLICK
Olga Grjasnowa wurde 1984 in Baku, Aserbaidschan, in eine russisch-jüdische Familie geboren. 1996 kam sie mit ihrer Familie als Kontingentflüchtlinge nach Hessen, wo sie mit elf Jahren Deutsch lernte. 2010 erwarb sie den Bachelor im Studiengang „Literarisches Schreiben“ am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Im Anschluss an Studienaufenthalte in Polen, Russland (Maxim-Gorki-Literaturinstitut) und Israel studierte sie Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Olga Grjasnowa ist mit dem syrischstämmigen Schauspieler Ayham Majid Agha verheiratet, mit dem sie eine Tochter hat.Für ihren vielbeachteten Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. 2014 erschien Die juristische Unschärfe einer Ehe, gefördert durch das Stipendium des Berliner Senats und ausgezeichnet mit dem Chamisso-Förderpreis. Beide Romane wurden für die Bühne dramatisiert. 2017 folgte der Roman Gott ist nicht schüchtern.
EIGENWILLIGE, HYBRIDKULTURELLE PROTAGONISTEN
Für ihren scharfen, analytischen Blick und den erfrischend eigenen Stil wird die Autorin gefeiert – und ausgezeichnet. 2012 erhielt sie unter anderem den Anna-Seghers-Preis und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. In ihrem ersten Roman zeichnet Olga Grjasnowa das Bild einer selbstbestimmten, zielstrebigen, aber auch getriebenen jungen Frau. Ihr zweiter, 2014 erschienener Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe lebt von ähnlich eigenwilligen, sich ständig neu erfindenden Protagonisten. Sie eint, dass sie wenig auf beengende und zugleich identitätsstiftende Kategorien wie Heimat, Kultur oder Religion geben. Dazu gehört auch, immer dann die Zelte abzubrechen, wenn etwas zu ernst, zu intensiv, zu konfrontativ werden könnte.Die Schauplätze des ersten Romans – der Geburtsort Baku, die Jugend in Hessen nach der Einwanderung als jüdische „Kontingentflüchtlinge“ – überschneiden sich teilweise mit dem Leben der Autorin, dennoch ist Der Russe ist einer, der Birken liebt in keiner Weise autobiografisch. Als gewissenhafte Beobachterin will Olga Grjasnowa das, worüber sie schreibt, einfach genau kennen. Dementsprechend begeisterten sie im Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, das sie 2010 abschloss, vor allem die Recherche-Seminare. Die Theorie, die ihr in Leipzig fehlte, ergänzte Olga Grjasnowa durch Gastsemester am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und in Szenischem Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Für die Rückblenden in die Zeit des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Kaukasus-Region Bergkarabach recherchierte sie ausführlich an Ort und Stelle, sprach viel mit Zeitzeugen. Es ging ihr darum, nachvollziehbar zu machen, „wie ethnisch motivierte Gewalt funktioniert, wie innerhalb weniger Wochen Pogrome inszeniert werden können – nicht nur dort“, erzählt Olga Grjasnowa.
ROADMOVIE DURCH DEN KAUKASUS
Ihre Kaukasus-Recherchen sind auch in den Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe eingeflossen, für den sie 2015 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis erhielt. Interessiert habe sie der „krasse Kontrast zwischen heutigen postsowjetischen Lebenswelten in Aserbaidschan, Georgien, Armenien und Russland, wo Gewalt gegen Homosexuelle zur Staatsraison gehört, und der weltvergessenen Party-Szene in Berlin.“ Ihre Hauptfiguren, Ballettprofi Leyla und der Psychiater Altay, gehen zum Schein eine sogenannte Lavendel-Ehe ein – verschleiern also ihre homosexuelle Orientierung –, um in Moskau unbehelligt leben zu können. Zugleich entwickeln sie eine zärtliche Nähe zueinander, die keiner Definition bedarf. Der Roman folgt ihnen nach Berlin und – einige Krisen, Verwicklungen und eine Dreiecksbeziehung später – weiter nach Baku und mündet in ein scharf beobachtetes, schnell und direkt erzähltes Roadmovie durch den Kaukasus. Immer wieder prallen Freiheits- und Anspruchsdenken aufeinander, und spätestens, wenn im Kleinen alles gut werden könnte, meldet sich die Gesellschaft mit ihrem Normierungsdruck und dem freundlich-brutalen Verweis auf die Machtverhältnisse zurück.UNBEFANGENE ZEITDIAGNOSEN
Zuletzt 2017 erschien der Roman Gott ist nicht schüchtern. Als erschütterndes Zeitdokument erzählt er die Geschichte von Amal und Hammoudi: sie sind jung, schön und privilegiert – und sie glauben an die Revolution in ihrem Land. Amal feiert gerade ihre ersten Erfolge als Schauspielerin und träumt von kommendem Ruhm. Zwei Jahre später treibt sie im Ozean, weil das Frachtschiff, auf dem sie nach Europa geschmuggelt werden sollte, untergegangen ist. Sie rettet ein Baby, für das sie fortan sorgen wird. Hammoudi hat sein Medizinstudium beendet und eine Stelle in einem Pariser Krankenhaus bekommen. Er fährt nach Damaskus, um die letzten Formalitäten zu klären. Doch dann sitzt er mit hundert Wildfremden auf einem winzigen Schlauchboot und hofft nur, lebend auf Lesbos anzukommen. Erst in Berlin begegnen sich Amal und Hammoudi wieder: sie haben alles verloren und müssen nun völlig von vorne anfangen.IMMER NEUER STOFF ZUM SCHREIBEN
„Wenn ich mich über etwas aufrege, dann schreibe ich“, sagt Olga Grjasnowa. Anlass zum Schreiben gibt es für die Schriftstellerin mehr als genug: so thematisiert sie beispielsweise Denkfaulheit, Abgrenzungswahn und Alltagsrassismus – Phänomene, die fast nebenbei seziert werden. Ihre ungeschönten, leicht ironischen Diagnosen laufen, wie auf einem geteilten Bildschirm, parallel zur Handlung. Olga Grjasnowas Spezialität sind beiläufige Frontalangriffe auf eingefahrene Denkmuster. Darunter fallen auch ihre Interventionen im Freitext-Literaturblog der Wochenzeitung Die Zeit oder das Projekt Conflict Food am Gorki-Theater in Berlin: Beim gemeinsamen Kochen mit dem Publikum, Schauspieler und Ehemann Ayham Majid Agha und einem Spezialitätenkoch für französische, indische oder persische Küche werden hier Geschlechterstereotype und kulturelle wie politische Zuschreibungen filetiert.Olga Grjasnowa liest aus Gott ist nicht schüchtern