Der Briefwechsel
1. Catherine Mavrikakis an Pierre Jarawan
Lieber Pierre Jarawan,
wir kennen uns nicht, aber ich habe gerade Ihr Buch Am Ende bleiben die Zedern gelesen und empfinde in meiner Vorstellung bereits eine Verbundenheit zu Ihnen, ganz so, als hätte ich eine Welt betreten, Ihre Welt, und wäre Ihnen auf diese Weise nahegekommen. Das Phantasma einer Leserin! Ich habe nur ein einziges Buch von Ihnen gelesen und ertappe mich schon bei dem Gedanken: Pierre Jarawan ... Ja, den kenne ich.
Vielleicht treffe ich die Autorinnen und Autoren, die durch ihre Bücher zu mir sprechen, genau deshalb so ungern: weil ich mir diese Illusion von Nähe erhalten möchte. Ich glaube, ich bewahre mir gern die Illusion, man könne durch ein Buch miteinander befreundet sein.
Aber wir begegnen uns hier ja nicht wirklich, ich schreibe Ihnen bloß einen Brief, wir malen uns ein Treffen aus, das irgendwann stattfinden wird oder auch nicht, wir halten die Zeit an. Vielleicht begegnen wir uns eines Tages, ganz sicher sogar, aber erst einmal betrete ich die Nacht Ihrer Wörter und sage Sie gemeinsam mit Ihnen noch einmal.
Ich schreibe „Nacht“, weil Ihr Text mir ein Text aus der Dunkelheit zu sein scheint, aus dem Schlaf oder, besser gesagt, aus dem Moment des Geschichtenerzählens. Auch wenn der Libanon und sein Sonnenlicht im Text sehr präsent sind, hatte ich den Eindruck, dass der Erzähler seinem Vater sehr ähnlich ist: Er eifert ihm nach, indem er uns seine eigene Geschichte erzählt, die Geschichte seiner Faszination von seinem Papa.
Samirs Vater war ein großer Geschichtenerzähler, ein Magier, der Kinder und Erwachsene verzauberte, indem er ihnen Gute-Nacht-Geschichten erzählte, die sie in den Schlaf wiegten oder Wünsche in ihre Herzen pflanzten, die später in ihrem Leben erblühen würde. Wie kann man einen Vater vergessen, der es verstand, für seinen Sohn solche Märchen zu spinnen? Wie kann man den Verlust der väterlichen Geschichten verschmerzen, vor allem, wenn dieser Vater eines Tages wie im Märchen spurlos verschwindet?
Ihr Buch ist wie eine Geschichte aus dem Mund von Scheherazade, voller Abenteuer, voller verblüffender Wendungen, eine Erzählung aus tausendundeinem Tag, tausendundeiner Nacht, ein Krimi über die kindliche Psyche, ein subtiler Essay über Einwanderung. Ich habe es genossen, mich von diesen ineinander verwobenen Geschichten verführen zu lassen, von diesen erstaunlichen Abenteuern, die uns zum Lachen und Weinen bringen. Was könnte romanhafter sein als die Suche nach dem Vater? Und trotzdem beruht Ihre Fiktion vor allem auf der Geschichte des Libanons, auf seinem Schmerz und seinen Hoffnungen.
Ich musste beim Lesen viel an meinen eigenen Vater denken, meinen griechischen Vater, der in Algerien lebte. 1957 kam er auf der Flucht vor dem Krieg nach Kanada. Nach seinem Tod erlaubte mein Vater gewissermaßen auch mir, ein Märchen zu schreiben: La ballade d’Ali Baba (Die Ballade von Ali Baba, bisher nicht ins Deutsche übersetzt, Anm. der Übersetzerin.) Ja, ich habe nach dem Tod meines Vaters ein Märchen geschrieben, in dem eine erwachsene Tochter dem Geist ihres Vaters begegnet und dieser sie bittet, ihn anderswo zu beerdigen als auf dem dunklen, kalten Friedhof von Montréal, auf dem ihn die Familie, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, bestattet hatte. Mein Vater war ein Mensch, der immer unterwegs war, ständig auf Reisen. Wie kann man ihn sich in einer Urne unter einem Meter Schnee gefangen vorstellen? Ich musste mir eine andere letzte Ruhestätte für ihn ausdenken. In einem Buch.
Die Begegnung mit dem toten oder verschwundenen Vater war ein Beweggrund Ihres Schreibens, und ich muss gestehen, dass ich überrascht war, als der erwachsene Samir seinen Vater, der ihn mit seiner Mutter und Schwester in Deutschland zurückgelassen hatte, tatsächlich wiederfindet. Das Ende ist eines großen Märchens würdig, und ich habe mich wie ein Kind über das Wiedersehen gefreut. Samir musste das Leben seines Vaters verstehen, um mit sich selbst ins Reine zu kommen, um nicht immer nur in der Erinnerung zu leben und nicht ständig der Toten und Verschwundenen zu gedenken, wie er in seinem deutschen Zuhause tat. Samir, obwohl ein Kind Deutschlands, fühlte sich wie sein Vater dem Libanon verbunden, ganz so, als gäbe es für ihn keine Zukunft, er war erfüllt von einer Nostalgie, die nicht seine eigene war.
Ihr Buch schildert mit großer Finesse, wie schwer es ist für Flüchtlinge und Einwanderer ist, den Schmerz über den „Verlust der Heimat“ zu überwinden. In Deutschland leben Samirs Eltern in einem Viertel, in dem sich die libanesische Diaspora, eine lebendige Gemeinschaft, versammelt, und ihre berührenden Schilderungen dieser Beziehungen vermitteln den Eindruck, dass die Exilierten den Libanon auf deutschen Boden wiedererschaffen haben. Ich selbst habe sehr unter der Nostalgie meiner Eltern für Europa und für Algerien gelitten, ein Land, über das mein Vater sich zu sprechen weigerte. Als Kind hatte ich oft das Gefühl, in eine Zeit hineingesogen zu werden, die nicht meine eigene war, Orte zu kennen, die ich nie besucht hatte. Erzählungen haben große Macht ... Ihr Buch beschreibt die Verrücktheit des Exils auf grandiose Art und Weise, und Samir muss in den Libanon reisen, zum ersten Mal in seinem Leben, um mit dem, was er nicht selbst erlebt hat, abzuschließen zu können ... Was für ein Vorhaben ...
Ich versuche hier, über Ihr Buch nachzudenken und zu erklären, wie ich es verstanden habe oder wie gut ich es verstanden habe. Dabei ist ihr Buch ein Märchen, und Märchen bringen uns zum Staunen, machen uns Hoffnung oder Angst ... Vor allem aber verzaubern sie uns. Ich war beim Lesen völlig in den Bann geschlagen.
Nach der Lektüre von Am Ende bleiben die Zedern trage ich die Verzauberung, die ich Ihnen verdanke, immer noch in mir, obwohl ich zugegebenermaßen ein eher zynischer Mensch bin ... Ich bin ganz anders als mein Vater … Jetzt beginne ich Ein Lied für die Vermissen, worauf ich mich schon sehr freue. Sobald ich es ausgelesen habe, werde ich Ihnen wieder schreiben.
Es grüßt Sie verzaubert und in literarischer Verbundenheit,
Ihre Catherine Mavrikakis
[Aus dem Französischen von Sonja Finck, die zusammen mit Patricia
Klobusiczky den Roman Der Himmel über Bay City von Catherine
Mavrikakis ins Deutsche übersetzt hat.]
2. PIERRE JARAWAN an CATHERINE MAVRIKAKIS
Liebe Catherine Mavrikakis,
Ich möchte mich für Ihren Brief bedanken. Ich muss gestehen: Ich erhalte nur selten Briefe, was auch daran liegen mag, dass ich selten welche schreibe. Insofern war der Moment, als ich Ihren erhielt, ein besonderer.
Ich muss gestehen: auch ich treffe Autorinnen und Autoren am liebsten durch ihre Bücher. In meinen Regalen stehen unzählige Romane, deren Geschichte ich Ihnen problemlos nacherzählen könnte, zum Teil auch mit Zitaten, die mir unvergessen geblieben sind. Aber spätestens wenn es darum ginge, Ihnen zu verraten, wer das Buch geschrieben hat, müsste ich überlegen und es würde mir in zahlreichen Fällen nicht einfallen. Manch eine Autorin und oder Autoren kränkt das womöglich in seiner Eitelkeit. Für mich persönlich gäbe es kein größeres Kompliment, als wenn Leserinnen und Leser sich eher an meine Geschichten erinnern, als an meinen Namen. Insofern gefällt mir Ihr Gedanke der freundschaftlichen Verbundenheit durch Bücher.
Oder durch Briefe. Ich war sehr berührt darüber, wie gründlich Sie Am Ende bleiben die Zedern gelesen haben und möchte mich für Ihre Worte zum Buch bedanken. Vielleicht muss man selbst eine schreibende Person sein – oder aber eine Person mit einer Vergangenheit wie Sie, einer ähnlichen Vergangenheit oder Familiengeschichte also – um zu erkennen, dass der Text, obwohl er so viel im Licht spielt, ein Text aus der Dunkelheit ist.
Ich glaube, diese Dunkelheit ist eine, die fast allen nachfolgenden Generationen vertraut ist, wenn die Eltern Flucht- oder Migrationserfahrungen gemacht haben. Es ist eine Dunkelheit, die aus der Verklärung der Vergangenheit hervorgeht, der Nostalgie. Insofern ist es eine Dunkelheit, die aus dem Erzählen kommt, dem Erzählen der Eltern oder der Großeltern, und vielleicht müssen wir unsererseits erzählen, um diese Dunkelheit hinter uns zu lassen.
Ein Gedanke, der mich beim Lesen Ihres Romans immer wieder überkam: Ich wünschte, ich hätte dem Himmel über Michigan mehr Beachtung geschenkt, als ich dort war. Im Frühjahr 2019 hat es mich nach Dearborn verschlagen. Bis nach Bay City, dem zentralen Schauplatz Ihres Romans, sind es ja nur zwei Autostunden, insofern muss es derselbe Himmel gewesen sein.
Ich war damals in den USA unterwegs, um dem amerikanischen Publikum die englische Übersetzung von Am Ende bleiben die Zedern vorzustellen. In Dearborn gibt es eine große libanesische Gemeinschaft. Ich erinnere mich an die Schlote und Türme der Autofabriken auf dem Weg zum Flughafen, aber nicht an den blasslila Himmel, der in Ihrem Roman so präsent ist.
Vielleicht ist seine Farbe aber auch Amy allein vorbehalten? So kam es mir beim Lesen Ihres Buches vor, das ja auch ein Buch der Farben ist, die uns von einer in ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Unzuverlässigkeit grandios gezeichneten Figur beschrieben werden.
Ihr Buch ist voller Szenen und Momente, die sich den Leserinnen und Lesern tief eingraben werden, da bin ich sicher. Merkwürdigerweise hat mich der Umstand, dass Amy später den Beruf der Pilotin wählt, am meisten berührt. Sie ist eine schonungslose, eine schonungslos offene Person, und am schonungslosesten ist sie gegenüber sich selbst. Doch dieser Versuch, dem Himmel nah zu sein, den sie so verachtet, macht sie für mich nahbarer, menschlicher, als alles andere sonst, was sie tut und sagt.
Was könnte romanhafter sein als die Suche nach dem Vater? Ich nehme hier Bezug auf die Frage aus Ihrem ersten Brief. Ich glaube: die Suche nach den Dunkelstellen der Vergangenheit.
In Der Himmel über Bay City fragt Amy an einer Stelle: „Was können wir tun, damit kommende Generationen nicht an der Last der Gräueltaten zerbrechen?“
Ist es nicht erstaunlich, dass wir – in einem weit gefassten Sinn – über dasselbe Thema geschrieben, und dabei doch so unterschiedliche Wege genommen haben? Den thematischen Bezug sehe ich vor allem im Hinblick auf „Ein Lied für die Vermissten“, das Sie ja gerade lesen, und von dem ich hoffe, dass es Ihnen ebenso gefällt.
Im Libanon gibt es heute – 30 Jahre nach dem Ende es Bürgerkriegs – eine ganze Generation, die vor der von Amy gestellten Frage steht. Ich glaube, sie fragt hier nicht nur nach Familie. Sie fragt auch nach dem Funktionieren, vielleicht sogar dem Überleben von Gesellschaften.
Ich verstehe mich selbst in erster Linie als Geschichtenerzähler. Ich möchte gern unterhalten. Aber ich verstehe mein Schreiben auch als die Möglichkeit eines Anerzählens gegen ein Schweigen, ohne mich jedoch der Illusion hinzugeben, damit wirklich etwas zu verändern. Vielleicht ist es also ein egoistisches Schreiben, das mir notwendig erscheint, weil das Schweigen vor allem für mich selbst unerträglich ist. Vielleicht geht es aber auch Amy so? Sie fragt, was wir tun können, um nicht zu zerbrechen. Indem sie uns ihre Geschichte erzählt, gibt sie die Antwort, glaube ich, selbst.
Jedenfalls möchte ich Ihnen für Ihren Roman danken. Es ist der erste Roman, den ich in den vergangenen sechs Monaten gelesen habe. Auch wenn ich auf diese lange Lesepause nicht stolz bin, so habe ich für sie den vielleicht besten Grund, den man vorbringen kann: Im März bin ich Vater von Zwillingen geworden.
Wie ich meine Söhne bestmöglich in ein Leben begleiten kann, in dem es immer ein offenes Ohr, einen sprechenden Mund, gibt, einen erzählenden Mund, der nichts verbirgt, ist eine Frage, die ich mir seitdem immer wieder stelle, denn in meiner eigenen Familie war das Sprechen über die Vergangenheit eher Ausnahme als Regel, insofern ist das nichts, was ich gelernt habe, nichts, von dem ich glaube, besonders gut darin zu sein. Ich werde mir also Mühe geben müssen.
Ihr Roman, das Thema, das Sie dafür gewählt haben, und ganz sicher auch der erschütternde Zugang dazu, haben mich jedenfalls daran erinnert, dass es wichtig ist, sich immer wieder an diese Frage zu erinnern.
Auf Ihren zweiten Brief freue ich mich schon jetzt.
Herzliche Grüße
Pierre Jarawan
3. CATHERINE MAVRIKAKIS AN PIERRE JARAWAN
Lieber Pierre Jarawan,
getragen von der unendlichen Melancholie Ihres Buchs Ein Lied für die Vermissten verspüre ich den Drang, in einer Schachtel mit alten Fotos zu wühlen. Ich suche nach einem bestimmten Bild. Mit einem Mal habe ich das Bedürfnis, Cristinas Gesicht sehen.
Ich erinnere mich an ihre Erzählungen … Ihre Schwester war in Argentinien verschwunden, während der Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 im Land herrschte. Was Julieta, einer renommierten Menschenrechtsanwältin, höchstwahrscheinlich zugestoßen war, traumatisierte Cristina so sehr, dass sie sich angewöhnte, von heute auf morgen aus dem Leben ihrer Freunde zu verschwinden. Cristina taucht unverhofft irgendwo auf und ist genauso plötzlich wieder weg. Sie kehrt von einer Reise zurück, ist eines Abends einfach da, ergreift kurz darauf ohne Vorwarnung die Flucht, und zwingt uns so, den Verlust nachzuempfinden, den sie auf sehr viel tragischere Weise hatte erleben müssen.
Es ist zehn Jahre her, seit Cristina mich zum letzten Mal überrumpelt hat. Ich weiß nicht, wo sie lebt, und klammere mich an die verrückte Hoffnung auf ein Wiedersehen. Diese Hoffnung konnte sie bei ihrer Schwester nicht haben ... Trotzdem ... Trotzdem muss sie manchmal geträumt haben, dass Julieta vor ihrer Tür steht. Ja, wie soll man um einen Menschen trauern, den man nicht beerdigen konnte, dessen Tod ungreifbar geblieben ist? In Argentinien traf dieses Schicksal, die ungeheuer brutale Auslöschung der Existenz, mehr als 60.000 Menschen.
Sie schaffen es, in Ihrem Buch, das für mich zugleich ein Schlaflied und ein Requiem ist, von diesen körperlosen Toten, deren Abwesenheit keine Spur hinterlassen hat, zu erzählen. Auf Deutsch lautet der Titel Lied für die Vermissten, und genau das scheint mir Ihr Text zu sein, ein Lied in seiner ursprünglichen Bedeutung: ein gesungenes Gedicht, ein von Ihnen gesungenes Gedicht für alle, die nicht mehr sind.
Die Anzahl der Vermissten im Libanon wird auf 17.415 geschätzt. Von ihnen ist in den Erzählungen über das Land fast nie die Rede. Als würde die Geschichte sich erlauben, die Verschwundenen noch unsichtbarer zu machen. Wenn Sie von den 17.415 Libanesinnen und Libanesen berichten, die dem kollektiven Vergessen anheimgefallen sind, muss ich zwangsläufig an andere Verschwundene anderswo auf der Welt denken.
Das Leid all dieser Menschen hallt wie ein Echo wider, ihre Schicksale sind beim Lesen in meinem Kopf miteinander verwoben. Ich spiele DJ, mixe Los desaparecidos von Maná mit einem libanesischen Lied von Fairouz, dessen Text ich nicht richtig mitsingen kann.
Kabul erlebt schwere Zeiten. Der Anblick von jungen und alten Menschen, die unbedingt aus Afghanistan fortwollen, auf unzähligen Displays und Bildschirmen weckt in mir einen Schmerz, den ich seit der Lektüre Ihres Buchs Am Ende bleiben die Zedern besser verstehe. Der überstürzte Aufbruch, das Trugbild von der Heimat, das in den Köpfen jener entsteht, denen es gelingt „das Land zu verlassen“, „ein neues Leben anzufangen“, wie es so schön heißt, der Schmerz des Exils, der einhergeht mit der Sorge um zurückgebliebene Angehörige und Freunde, das Gefühl der nachfolgenden Generationen, schlimme Erinnerungen in sich zu tragen, die nicht die eigenen sind: das ist das Los aller Flüchtlinge, die sich hoffnungsbeladen auf den Weg machen.
Natürlich ist Afghanistan heute nicht der Libanon von damals. Beides politisch gleichzusetzen, wäre unpassend, wenn nicht gar fatal. Trotzdem handelt es sich um dieselbe menschliche Odyssee, dieselbe tiefe Verzweiflung, dieselben Hoffnungen von Menschen, die an ihrem Land leiden … Auch die Hilflosigkeit der Zeuginnen und Zeugen im „Westen“ ist dieselbe. Dieselbe Scham über die reiche Welt, die aus der Ferne mit der Gewalt spielt …
Irgendwann in zwanzig Jahren werde ich mir in Montréal ein enges Zimmer und eine Krankheit mit einer Afghanin teilen. Sie wird so alt sein wie ich oder wahrscheinlich eher etwas jünger ... Ich werde sie nach ihrer Lebensgeschichte fragen, erst, um uns die Zeit zu vertreiben, dann aus Freundschaft. Sie wird mir von ihrer Flucht aus Kabul erzählen, davon, wie unendlich traurig sie ist, in Nordamerika zu sterben, auch wenn sie es als Glück empfindet, dass ihre Tochter und ihr Sohn jetzt in diesem Land leben, das sie wie ihr eigenes lieben werden.
Eine ganze Epoche wird im Schnelldurchlauf an mir vorbeiziehen, und trotz der Tatsache, dass mich der nahende Tod ans Bett fesselt, werde ich magische Momente der Metamorphose erleben. Meine Geschichte wird mit der Geschichte dieser Frau verschmelzen und dadurch stärker, wahrhaftiger werden. Kabul wird sich vor meinen Augen erstrecken, und zusammen mit ihr werde ich eine Welt sehen, die ich nur aus Erzählungen kenne.
Afghanistan wird ein Fest sein, das sie für mich heraufbeschwört, und gemeinsam werden wir über ihre erste Entbindung lachen, über die Verspätung ihrer Mutter bei ihrer Hochzeit, darüber, wie verrückt das Leben und der Tod sind.
Ist das nicht die Macht aller Erzählungen, dass sie uns fremden Schmerz nachempfinden lassen? Erlauben sie uns, die wir vom Leben versehrt sind, nicht, den Schmerz zu bezähmen und ihm eine Form zu geben, die einem Zuhause ähnelt? Ermöglichen uns Bücher nicht, unermüdlich über das Leiden anderer zu wachen, erschaffen sie nicht einen Ort, an dem Geschichten einen Sinn ergeben? Wenn es uns schwerfällt, ein Buch zuzuschlagen, werden wir dann nicht zu Trägern des menschlichen Schicksals, so tragisch es manchmal auch sein mag?
Von den Flüchtlingen dieser Welt, die in die reichen Länder kommen, wissen wir so wenig. Manchmal begegnen wir ihnen in einem Krankenhauszimmer, am Tresen eines Cafés, auf den Seiten eines Romans.
Vor ihrem Tod verbrachte meine Mutter einige Nächte in Gesellschaft einer kaum jüngeren Libanesin. Ich weiß, dass diese Frau sie in den kalten Nächten mit ihren Worten zudeckte. Meine Mutter starb in Montréal und Zahlé. Ich möchte mich bei all denjenigen bedanken, die uns Geschichten erzählen und uns so ewig in den Schlaf wiegen.
Catherine
[Aus dem Französischen von Sonja Finck]
4. PIERRE JARAWAN AN CATHERINE MAVRIKAKIS
Liebe Catherine,
dieser Brief ist mit „München“ als Ort überschrieben, tatsächlich verlässt mein Zug die Stadt jedoch in diesem Augenblick. Auch Sie sind vermutlich auf Reisen gewesen, als Sie mir aus Nashville schrieben. So, wie schon die Lektüre Ihres Romans mich nach Michigan zurückgeführt hat, lässt mich nun auch dieses Detail an meine Lesereise in den Vereinigten Staaten denken. Auch ich war damals in Nashville. Es ist zum Verrücktwerden: Ich versuche, mich an Details zu erinnern. Mein Zimmer im Hotel, die Anordnung der Regale der Buchhandlung, in der ich gelesen habe, an Fragen aus dem Publikum … aber alles, was mir einfällt ist, dass ich dort an einer Straßenecke Barbecue aß. Mehr nicht.
Nashville kann nichts dafür. Ich stelle fest, dass es mir immer häufiger so geht, unabhängig von den bereisten Orten. Sie verblassen. Abläufe automatisieren sich: Lautsprecherdurchsagen an Bahnhöfen, das sterile Licht auf Flughafenkorridoren, Kofferbänder, Rolltreppen, der Austausch von Floskeln mit Taxifahrern, der Check-in im Hotel … im deutschen Literaturbetrieb gibt es ein Wort dafür: Lesereiseneinsamkeit.
Ich finde das Sich-häufen dieser Leerstellen frustrierend, denn es gibt Lesungen, Reisen, die mehr als 10 Jahre zurückliegen, und bei denen ich mich sogar noch an die Gesichter der Zuschauer erinnere - oder zu erinnern glaube - und weiß - oder zu wissen glaube - woran ich dachte, als ich hinterher schlaflos im Bett lag.
Und jetzt: Ich bin einmal im Leben in Nashville, und erinnere mich nur an das Barbecue? Das soll keine belanglose Anekdote werden. Woran wir uns erinnern und was wir vergessen, und warum, hat mich schon immer fasziniert. Manchmal ängstigt mich das Vergessen.
Denn ist es nicht so: Der Verstand eines Schriftstellers ähnelt einer Abstellkammer mit meterhohen Regalen. Wie besessen sammeln wir alle erdenklichen Bruchstücke, um sie später geduldig zu einem Universum zusammenzukleben, das eine Ordnung suggeriert. Dieser Vorgang des Archivierens läuft automatisiert ab. Wir erinnern uns erst, dass wir vor Jahren etwas hier abgelegt haben, wenn der Moment gekommen ist, an dem wir es schreibend verwerten können. Diesem Antrieb, dieser Besessenheit, alles zu bewahren, liegt ein vages Gefühl zu Grunde: Etwas stimmt nicht mit der Welt.
Insofern empfinde ich manchmal den Zwang, genau zu beobachten, hinzusehen, und vor allem: mir alles zu merken. Damit mir irgendwann, wenn ich schreibe, ein Detail aus der Erinnerung zufliegt, ein Geruch, Nuancen von Licht, bestimmte Blicke, die ich verwenden kann.
Vielleicht ergeht es Ihnen ja ähnlich? Das legt zumindest die Erinnerung nahe, die Sie an Cristina haben. Vielleicht ist Cristina ein Sinnbild für die Erinnerung an sich, die kommt und verschwindet, wie es ihr beliebt, und alles, was wir tun können, ist, uns an die Hoffnung zu klammern, dass sie im richtigen Moment wieder auftaucht.
Cristinas Geschichte ist tragisch. Die Leerstelle, die sie zum umkreisen scheint, kann vermutlich nie geschlossen werden. Ich erinnere mich an Gespräche mit Angehörigen von Vermissten, die mir erzählten, wie sie seit 30 Jahren oder mehr jedes Mal mit der Hoffnung ans Telefon gehen oder die Wohnungstür öffnen, nun endlich Gewissheit zu erhalten. Sie leben ein Leben, in dem eine Enttäuschung auf die andere folgt.
In Ihrem Brief schreiben Sie von der Macht aller Erzählungen, uns fremden Schmerz nachempfinden zu lassen. Und davon, wie uns die Lektüre von Büchern zu Trägern des menschlichen Schicksals machen kann. Ich stimme Ihnen zu.
Etwas stimmt nicht mit der Welt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb mir die Ordnung, die ich in Romanen finde, ein Gefühl von Sicherheit gibt. Mir sind Geschichten, sind Bücher bis heute Orte der Zuflucht. Soweit ich mich erinnere, habe ich immer in und mit ihnen gelebt. Als erfahrener Leser weiß ich: Gute Geschichten folgen bestimmten Strukturen, die Orientierung bieten. Ihre weltordnende Funktion gibt mir Sicherheit. Exposition. Vertiefung. Höhepunkt. Katastrophe. Es ist schwer, sich hier zu verlaufen. Vielleicht ist das Schreiben nichts anderes, als unser unterbewusster Versuch, eine Welt zu ordnen, die aus den Fugen geraten ist.
Jetzt, wo Sie auch Montreal erwähnen, fällt mir etwas anderes ein. Die Stadt im Mai. Ich hatte das Glück, zur Abendstunde vom Mont Royal aus auf die Stadt zu blicken. Nur wenige Wolken, wie mit Bleistift schraffiert, waren am Himmel, der sich nach und nach zu einem tiefen Blau verdichtete, das Rot der Abendsonne durchzog ihn wie Adern oder kleine Flüsse. Ich versuchte, von dort oben das Hotel 10 in der rue Sherbrooke zu sehen, in dem ich untergebracht war, aber es gelang mir nicht. Es war eine meiner letzten Stationen, bevor ich zurück nach Deutschland reiste, und jetzt, wo ich daran zurückdenke, bin ich froh, dass ich mir dieses und andere Details der Stadt bewahrt habe.
Vielleicht wird es mir eines Tages möglich sein, nach Montreal zurückzukehren. Vielleicht begegnen wir uns dann persönlich. Ich würde mich freuen.
Pierre