Neue Bilderbücher
Wittgensteins Nashorn

Aktuelle Bilderbücher erzählen davon, dass Tiere die besten Freunde sein können. Und: Fantasie öffnet die Augen für Nicht-Sichtbares.

Von Holger Moos

© Edition Nilpferd Minu ist ein fantasievolles, neugieriges Kind. Sie liebt die Natur, hört das Gras wachsen und hat Himmi, ein kleines blaues Vögelchen, als besten Freund. Doch sie vermisst ihre verständnisvolle Oma, die leider weit weg, irgendwo im Süden wohnt. Eines Tages begegnet Minu einem rätselhaften Mann mit Zauberhut. Dieser „Geheimnismann“ zeigt dem Mädchen ganz besondere Blumen, die entfernte Lieblingsmenschen ganz nah kommen lassen und vielleicht sogar Wünsche erfüllen können. Minu und der Geheimnismann heißt dieses Bilderbuch von Andrea Karimé und der Illustratorin Renate Habinger. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur wählte es zum Bilderbuch des Monats Mai 2023: „Ein Bilderbuch wie ein Sommertag: Voller Geheimnisse, Wärme und Poesie. Gekonnt werden Wortneuschöpfungen sowie Sprachspiele mit den fantasievollen Illustrationen verwoben. Vom ersten Satz taucht man ein in eine Freundschaftsgeschichte, in der es um Sehnsucht, Blumen und Wörter geht.“

Krähen als Lebensretter

© Hanser In diesem Jahr wurde der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler 80 Jahre alt. Gemeinsam mit der Illustratorin Kathrin Schärer hat er ein rührendes Bilderbuch geschaffen: Das kleine Wildschwein und die Krähen. Darin erzählt Hohler von einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem kleinen Windschwein und den Vögeln des Waldes. Diese retten dem kleinen Wildschwein das Leben. Die perfekten Tierzeichnungen sind eindrucksvoll, ohne kitschig zu sein, und können bestens Gefühle wiedergeben. Für Kathleen Hildebrand von der Süddeutschen Zeitung hat Hohler „sich und seinen großen und kleinen Lesern ein wunderbares Geburtstagsgeschenk gemacht“, der Rezensentin scheint, dass „Schärers liebevoller, anrührender Zeichenstil diesmal ein wenig abgefärbt hat auf Franz Hohler“.

© NordSüd Verlag Eigentlich geht es an erster Stelle um Fantasie in Ludwig und das Nashorn von dem Illustratorenduo Golden Cosmos und der Autorin Noemi Schneider. Alles beginnt damit, dass ein Junge ein Nashorn in seinem Zimmer sieht, was der Vater natürlich bezweifelt. Also versucht der Junge dem Vater klarzumachen, dass etwas existieren kann, auch wenn man es nicht sieht. Da kommt der deutsche Philosoph Ludwig Wittgenstein ins Spiel, der das auch behauptete und dem das Bilderbuch ein Nachwort widmet. Besonders zu beachten sind die Illustrationen: ein Siebdruckverfahren, in dem Zeichnungen auf Papier am Computer mit Druckgrafik kombiniert wurden. Und auf jedem Bild ist irgendwo das Nashorn zu entdecken. Das Buch wurde vom Deutschlandfunk für Die besten 7 im März 2023 ausgewählt und gewann den Luchs des Monats April 2023. Das Urteil der Jury: „Es zeugt von großer Kunst, wie sich Text und Bild in ihrem Zusammenspiel aufs Einfachste beschränken und gleichzeitig das Unsichtbare mit viel Witz und Wärme sichtbar machen.“

Die mutige Luise

© Kunstanstifter Irgendwas ist immer mit Luise: Sie setzt als Kleinkind den Kinderwagen selbst in Bewegung, trifft stets die falschen Töne auf dem Klavier, lässt aus Versehen das Wasser aus dem Meer, startet eine Rakete ins All und verwechselt schon mal das Gaspedal mit der Bremse. Kein Wunder also, dass die Erwachsenen oft rufen: Aber Luise! – da liegt es nahe, dass die Illustratorin Franziska Neubert und Jürgen Banscherus ihr neues Bilderbuch genau so nennen. Auf einem einsamen Planeten trifft Luise schließlich Luis, der irgendwann Heimweh nach den Eltern bekommt. Sie kehren mit einer selbstgebauten Rakete zur Erde zurück. Die farbigen Holzschnitte verleihen der zauberhaften, Mut machenden Geschichte eine fröhliche Stimmung.

© Aladin Was macht die Nacht? Das ist doch eine einfache Frage, oder? „Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?“, fragt ein Kind seinen Papa beim Gute-Nacht-Sagen. Der erzählt dem Kind, was in den Nachtstunden geschieht. Das ist so viel, so märchenhaft und merkwürdig, so überraschend und unglaublich, dass es erst einmal darüber schlafen muss. Stimmungsvolle, bunt und schwarz gedämpfte Farben zeigen eine surrealistische Traumwelt. Für die Stiftung Lesen ist es eine ganz besondere Bilderbuchgeschichte: „Traumschöne Illustrationen, nachtdunkel und voll versponnener Details … zum Vorlesen, drüber-Reden, Nachdenken und Weiterspinnen. Denn wer weiß schon zu sagen, ob nicht wirklich nachts die Kastanie ihre Blätter wäscht,  sich zwei verliebte Züge durch die Stadt jagen, sich Gespenster plötzlich vor Menschen fürchten oder ein Riese aus Versehen auf eine Baustelle tritt?“