Die Initiierenden des Projekts „Art+Feminism“ stellten die Frage, was geschehen würde, wenn sich eine ganze Reihe von Menschen gleichzeitig mit der Erstellung von Wikipedia-Inhalten beschäftigen würde, um gegen die Geschlechterungleichheit auf der Plattform anzugehen. Amber Berson, kanadische Botschafterin des globalen Projekts, macht deutlich, dass jeder einzelne Beitrag zählt.
Wikipedia ist eine öffentlich erstellte Enzyklopädie, eine gemeinsame Wissenssammlung. Noch bedeutsamer ist, dass Wikipedia als globale kostenlose Online-Enzyklopädie jeden Monat von fast 500 Mio. Einzelbesuchern in mehr als 250 Sprachen genutzt wird. Die englische Version von Wikipedia umfasst mehr als 4,5 Mio. Artikel, die alle von ehrenamtlichen Beteiligten gemeinsam verfasst und lektoriert werden. Sollte es einen Artikel über Sie und Ihre Arbeit geben, dann liegt das daran, dass sich jemand die Zeit genommen hat, ihn zu verfassen. Art+Feminism ist ein Projekt, das mit dem Ziel ins Leben gerufen wurde, mehr Inhalte über Cis- und Transgender-Frauen sowie Feminismus und Kunst auf Wikipedia beizusteuern und in diesem Bereich gleichzeitig mehr weibliche Wikipedia-Beitragende zu schulen.
2011 gab Wikimedia – die Betreibergesellschaft von Wikipedia – eine Studie unter den Teilnehmenden in Auftrag, die ergab, dass der Anteil der sich als weiblich identifizierenden Personen bei den Beitragenden bei nur 9% liegt. Das befreundete Quartett Siân Evans, Jacqueline Mabey, Michael Mandiberg und Laurel Ptak, dem die Konsequenzen einer so stark geschlechtlich geprägten Wissensbildung Sorge bereitete, rief Art+Feminism als Experiment eines kollektiven Traums ins Leben. Es stellte die Frage, was geschehen würde, wenn sich eine ganze Reihe von Menschen gleichzeitig damit beschäftigen würde, in einem wenig beachteten Gebiet – der Kunst – Wikipedia-Beiträge zu erstellen. Alle vier Initiierenden sind beruflich in der Welt der Kunst verwurzelt: Evans ist Kunstbibliothekarin (damals für Artstor tätig), Mabey ist unabhängige Kuratorin, Mandiberg ein Künstler, der Wikipedia häufig in seine Arbeit einbindet, und Ptak Künstlerin und Kuratorin, die 2013 als Mitautorin des Buchs „Undoing Property?“ in Erscheinung trat. Art+Feminism erstellt heute Schulungsmaterialien für künftige Wikipedia-Teilnehmende und unterstützt jährlich Hunderte von Wikipedia-Schreibmarathons (sog. Edit-a-thons – dieses Format gab es bereits vor der Durchführung von Veranstaltungen dieser Art durch Art+Feminism.)
AUTORINNEN BEWIRKEN IN KANADA SPÜRBARE VERÄNDERUNG
Im Jahr 2013, als Art+Feminism in Leben gerufen wurde, wurde ich mit der Organisation von Schreibmarathons in Montreal (Quebec) und Kingston (Ontario) beauftragt. Im ersten Jahr der Initiative fanden in Kanada fünf offizielle Veranstaltungen statt: in der Luke Lindoe Library am Alberta College of Art and Design in Calgary (Alberta), am Klondike Institute of Arts and Culture in Dawson City (Yukon), an der NSCAD University Library in Halifax (Nova Scotia), im Eastern Bloc in Montreal (Quebec) (gemeinsam mit by Studio XX, revue .dpi und Skol) sowie in der Art Metropole in Toronto (Ontario). 2017 fanden im gesamten Gebiet Kanadas offiziell 23 Veranstaltungen statt und für 2018 stehen 25 Veranstaltungen auf dem Programm. Fast alle Termine liegen im März, meist um den Internationalen Frauentag (8. März), wobei einige Angebote auch zu anderen Zeitpunkten oder als Veranstaltungsreihen über das gesamte Jahr stattfinden. An der Art Gallery of Ontario werden alle zwei Monate Edit-a-thons zu wechselnden Themen angeboten.
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© Valerie Tremblay Blouin [CC BY-SA 4.0]
Art+Feminism Wikipedia Edit-a-thon in Montreal im Jahre 2016
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© AWang (WMF) - Own work, CC BY-SA 4.0
Art+Feminism Wikipedia Edit-a-thon 2017 in New York
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© X-Javier (Own work) [CC BY-SA 4.0]
Art+Feminism Wikipedia Edit-a-thon 2017 in Paris
Veranstaltungsort des ersten Wikipedia-Schreibmarathons von Art+Feminism in Montreal war das „Lab“, eine Gemeinschaftswerkstatt in den Räumen des Künstlerzentrums „Eastern Bloc“. Die Veranstaltung wurde von Mitgliedern des Eastern Bloc begleitet, die zur Beantwortung von Fragen zur Verfügung standen und tatkräftige Unterstützung bei der Durchführung leisteten. Zu den weiteren beteiligten Zentren und feministischen Künstlerinnengruppen gehörten Skol, .dpi Journal und Studio XX. Der ganztägigen Veranstaltung folgte eine informelle Diskussionsrunde in einer lokalen Bar. Mehr als 35 Personen waren direkt vor Ort anwesend, andere Teilnehmende aus Montreal nahmen per Fernzuschaltung teil. Von denjenigen, die vor Ort teilnahmen, hatte die Hälfte überhaupt keine Erfahrungen mit dem Erstellen von Wikipedia-Artikeln, ein Viertel brachte Vorkenntnisse mit und ein Viertel besaß bereits die nötigen Kenntnisse. Wir arbeiteten in Kleingruppen mit Video- und Internet-Tutorials, wobei sich die Einteilung der Gruppen nach den bevorzugten Lernmethoden der einzelnen Teilnehmenden richtete. Wir griffen auch auf das Broadcast-Tutorial von Eyebeam zurück, das die zentrale Anlaufstelle des Projekts bildete. Einige Teilnehmende blieben den ganzen Tag, andere kamen und gingen. Es gab viel gegenseitige Hilfsbereitschaft, sowohl im Hinblick auf die Inhalte als auch die Form. Es herrschte eine sehr angenehme und gastfreundliche Atmosphäre. Die Teilnehmenden gehörten allen Bevölkerungsgruppen und Geschlechtsidentitäten an.
2015 und 2016 fanden die Montrealer Schreibmarathons in den Räumen der Canadian Women’s Art History Initiative (CWAHI) an der Concordia University statt. 2017 wurde die Veranstaltung dann an der Bibliothèque et Archives nationales du Québec (BAnQ – die Nationalbibliothek Quebecs) durchgeführt, die mehr Teilnehmenden Platz bot. Neben Schulungsangeboten zur Nutzung von Wikipedia als Plattform boten wir auch einen Jahresworkshop zum Thema Vorurteile auf Online-Plattformen an (bezogen auf Geschlecht, Rasse und sonstiges). Die Leitung des Workshops übernahm Anne Goldenberg, die ihre Dissertation zu Vorurteilen auf Wikipedia verfasste. Mit zunehmender Verbreitung der Initiative führten verschiedene Gruppierungen aus dem öffentlichen Leben und dem universitären Bereich neben der größeren Jahresveranstaltung auch kleinere Edit-a-thons durch. Dabei profitierten wir sehr von der Unterstützung durch Benoit Rochon, dem Präsidenten von Wikimedia Canada, und seine Kolleginnen und Kollegen bei der ACFAS, die bei allen Veranstaltungen technische Unterstützung leisteten. Mit dieser Hilfe erfuhren die Veranstaltungen in Montreal einen beträchtlichen Wachstumsschub. Im Gegenzug konnten wir diese Stellen unterstützen, indem wir ihnen unsere Lehrmittel zur Verfügung stellten und bei ihren Veranstaltungen englische Sprachkurse anboten. Wir stellten fest, dass unser Modell auch in anderen Bereichen aufgegriffen wurde, zum Beispiel im Rahmen einer Abendveranstaltung unter dem Motto „Linguistik + Feminismus“.
Und wir sind noch lange nicht am Ende
Da wir schon oft mit der CWAHI zusammengearbeitet haben, behandeln die neuen Artikel der Teilnehmenden aus Montreal größtenteils historische kanadische Künstler. Im Rahmen unserer Veranstaltungen wurden beispielsweise folgende Seiten erstellt: Elise Gravel, zeitgenössische Kinderbuchautorin und -illustratorin aus Montreal, Julie Tremble, zeitgenössische Filmemacherin und Animationsgestalterin aus Montreal, Jacqueline Hoang Nguyen, zeitgenössische bildende Künstlerin, gebürtig aus Montreal, ansässig in Stockholm, Qaunak Mikkigak, Inuit und Bildhauer, und die kanadischen Dub-Poeten Lillian Allen, Lorena Gale und d’bi young. Auf internationaler Ebene wurden im Jahr 2017 rund 2000 neue Seiten erstellt. Bei den Montrealer Edit-a-thons haben wir jedoch festgestellt, dass die Teilnehmenden oft mehr Interesse daran haben, Seiten zu überarbeiten oder zu übersetzen als neue Inhalte zu erstellen. Dies liegt einerseits am zeitlichen Rahmen, hat aber auch mit dem Umfang des Materials zu tun, das übersetzt werden muss. 2018 organisierte Art+Feminism in Zusammenarbeit mit Artexte und dem Musée d'art contemporain de Montréal (MACM – Museum für moderne Kunst in Montreal) einen Schreibmarathon, zudem wird an der Université de Montreal eine Satellitenveranstaltung stattfinden.
Als ich 2013 das Angebot zur Zusammenarbeit mit Art+Feminism annahm, hätte ich niemals gedacht, dass sich das Projekt so nachhaltig darauf auswirken würde, wie Wissen bewahrt wird. Die Teilnahme an einer Initiative, die sich so engagiert dafür einsetzt, dass Stimmen nicht verklingen und dass auch Akteure und Einrichtungen am Rand der Kunstszene wahrgenommen werden, hat meine Arbeit als Kuratorin und Historikerin grundlegend verändert.