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Neue Musik 2018
Showtime

Rehearsal der musiktheatralen Installation <i>Principal boy</i>, Eclat Festival Neue Musik Stuttgart
Rehearsal der musiktheatralen Installation Principal boy, Eclat Festival Neue Musik Stuttgart | Foto (Ausschnitt): © Frank Kleinbach

Ob als klamaukige TV-Show, als dystopische Macho-Performance oder als überreligiöse Gebetszeremonie – 2018 stellte die Neue Musik unter Beweis, dass auch die Kunst des Entertainments ihr nicht fremd ist.

Von Leonie Reineke

Wer laut ist, setzt sich durch – ein simples Prinzip, auf das nach wie vor Verlass ist; nicht nur in der Politik, sondern in sämtlichen Lebensbereichen. Bisweilen setzt sich Lautstärke rücksichtslos über anderes hinweg, versperrt den Blick auf entscheidende Details, vereinfacht und verkürzt. Manchmal ist sie aber auch notwendig. Um wachzurütteln, um Klarheit zu schaffen, oder schlicht: um den Wunsch nach Stille entstehen zu lassen. Das hat im Jahr 2018 auch die Neue Musik erkannt. Oft war es laut, emphatisch und überbordend. Mal mit eindrucksvollem, mal mit ernüchterndem Resultat.

Eintauchen ins Erlebnis

Ob bei den großen Festivals oder den kleinen Lokalveranstaltungen: Immer wieder war Musik eines von vielen Mosaiksteinchen in einem größeren Gesamtbild – der Show. Entertainmentbasierte Konzepte schienen in diesem Jahr Konjunktur zu haben. So ließ etwa Jessie Marino in ihrem Musiktheater Nice Guys Win Twice, das bei den Internationalen Darmstädter Ferienkursen uraufgeführt wurde, die Mitglieder des dänischen Ensembles Scenatet als Schauspieler, Pantomimen, Moderatoren, Jazz- und Rockmusiker auftreten. Das Bühnenbild bestand aus einer Ansammlung von beweglichen Leinwänden – auf jeder lief ein anderer Film – und offenbarte sich als Panorama der Reizüberflutung. Eine kritische Stellungnahme der Künstlerin zu unserer schnelllebigen Gesellschaft? Oder ein ideenloses Aufzählen aller momentan in Mode befindlicher Topoi der Gegenwartskunst? Die Urteile fielen unterschiedlich aus.

Noch um einiges schriller ging es beim Frankfurter Ensemble Modern zu: In der Veranstaltungsreihe Connect wurde im April ein Stück von Philip Venables aufgeführt, das die Institution Konzert kurzerhand zur klamaukigen TV-Quizshow umerklärte. Das Ensemble trat hier mehr als stimmungsankurbelnde Begleitband und Jingle-Lieferant in Erscheinung denn als konzertierender Klangkörper. Ähnliches geschah bei dem im Sommer gestarteten Format Music for Hotel Bars, bei dem Neue Musik passgenau in diverse Berliner Luxushotel-Ambientes hineinkomponiert wurde. Ob man sich hier beim Versuch des Hinhörens von der Geräuschkulisse der Bar gestört fühlte, oder doch eher beim Cocktailtrinken von der erratischen Musikdarbietung, lag sicherlich im Auge des Betrachters. Fest steht aber: Das Motto lautete Eventkultur statt Kontemplation.

Raus aus der Komfortzone

Auch das Stuttgarter Festival Eclat wurde zum Schauplatz eines ungewöhnlichen Großformats. Hier allerdings wirkte das Konzept von Übertreibung und Überbietung auf sonderbare Weise überzeugend: In Principal Boy kreierte Raphael Sbrzesny in der Sporthalle des Theaterhauses einen Parcours aus Metallskulpturen, Videos und Klanginstallationen sowie eine zutiefst irritierende Choreografie, bei der literweise Duschgel und Deo zum Einsatz kamen; ein dystopisches Setting zwischen pubertärem Machotum und verschlüsselter Symbolträchtigkeit. Den Besuchern wurde eine Reihe von Miniperformances geboten, die vor Männlichkeitsklischees und narzisstischer Aggression ebenso strotzten, wie sie diese zugleich als Ausdruck verkappter Perspektivlosigkeit entlarvten. Damit gelang Sbrzesny die stilisierte Darstellung eines Persönlichkeitsprofils, das er selbst als „immer mehr in den Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit rückendes nihilistisches Subjekt“ bezeichnet: die Figur des Terroristen.

Lenkte diese Arbeit den Blick in jeder Hinsicht auf die verstörenden Seiten unserer Gegenwart, präsentierte das Musikfest Berlin eine „Show“, die sich einer klaren zeitlichen Einordnung entzog: Karlheinz Stockhausens Inori, erstmals aufgeführt 1974. Das Anbetungsstück für zwei Tänzer, die – begleitet von einem Orchesterapparat von spätromantischen Dimensionen – auf einem 2,50 Meter hohen Podest Gebetsgesten mimten, ließ die Philharmonie zur überreligiösen Kultstätte werden. Allerdings war dieses zeremonielle Großereignis nur Teil eines umfangreicheren Stockhausen-Schwerpunkts beim diesjährigen Musikfest. So kamen auch weitaus sperrigere Stücke des Komponisten zur Aufführung, wie etwa Kontakte, Zyklus oder seine frühen Klavierstücke.

Nicht weniger sperrig (und an geistigem Tiefsinn und Raffinesse kaum zu übertreffen) ist Mathias Spahlingers selten aufgeführtes passage/paysage, das ebenfalls beim Musikfest Berlin zu hören war. Mit diesen durchaus anspruchsvollen Programmen zeigte sich die künstlerische Leitung betont vorwärtsgewandt. Man war Wagnisse eingegangen, die für ein Repertoirefestival ohne expliziten Neue-Musik-Fokus sicherlich nicht selbstverständlich sind. In einem Punkt allerdings hat sich die zukunftsweisende Perspektive ganz und gar nicht eingelöst: in der Gender-Frage. 2018 war keine einzige Komponistin im Programm des Musikfests vertreten. Dass diese Schieflage offenbar niemandem bei der Planung aufgefallen war, ist letztlich ein Indikator dafür, wie viel auf diesem Gebiet noch zu tun ist.

Diskussionsbedarf

Andernorts widmete man sich dafür der Gleichberechtigung von Geschlechtern umso engagierter: Bei den Darmstädter Ferienkursen etwa waren sieben von elf Kompositionsaufträgen an Frauen gegangen. Außerdem hatte sich die künstlerische Leitung erstmalig in der Geschichte der Veranstaltung für eine Quotierung beim Anmeldevorgang der Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer entschieden: Angestrebt worden war ein Frauenanteil von fünfzig Prozent. Dieses Ziel hat man mit etwa zweiundvierzig Prozent zwar knapp verfehlt, aber dennoch eine deutliche Verbesserung im Vergleich zu den vorherigen Jahrgängen erreicht.

Der Grund, weshalb sich die Problematik nicht im Handumdrehen, sondern nur schrittweise lösen lässt, liegt vor allem im Trägheitsmoment des über Jahrhunderte von Männerpersönlichkeiten dominierten musikhistorischen Kanons. So haben Frauen als autonome Schöpferinnen oder Entscheidungsträgerinnen im Musikbetrieb bis heute Seltenheitswert. Diese Erkenntnis schürt seit einiger Zeit starken Rede- und Handlungsbedarf in der Szene. Dementsprechend umfasste das Programm der Darmstädter Ferienkurse 2018 so viele Konferenzen und Gesprächsrunden wie lange nicht mehr. Vor allem ließ sich hier die Tendenz beobachten, dass seltener musikästhetische Fragestellungen im Zentrum standen, als vielmehr Diskurse, die Organisationsstrukturen und institutionelle Hierarchien des Musikbetriebs im Blick haben. So etwa in einer viertägigen Konferenz, die Teil des Projekts Defragmentation war – einer Initiative, an der mehrere Festivals beteiligt sind und deren Ziel es ist, Diskurse um Gender und Diversity sowie Dekolonisierung und technologischen Wandel in kuratorische Praktiken einzubinden.

Alternative Geschichten erzählen

Eines der an Defragmentation beteiligten Festivals ist die Berliner MaerzMusik. Auch hier wurde der Versuch unternommen, alte Hierarchien und Wertvorstellungen der abendländischen Kunstmusik zu revidieren, oder zumindest kritisch zu überdenken. So lag – wie schon 2017 – ein besonderer Schwerpunkt auf dem Schaffen des Komponisten Julius Eastman. Eastman, 1940 in New York geboren, hatte ein Leben als Außenseiter geführt. Als afroamerikanischer, homosexueller Komponist im New York der 1960er und 70er Jahre fand er in einer von weißen, heterosexuellen Männern beherrschten Kunstmusikszene kaum Aufstiegschancen. Nach seinem frühen Tod im Jahr 1990 wollte die Musikwelt nichts mehr von ihm wissen. Partituren gingen verloren, Aufnahmen blieben unveröffentlicht. Erst seit Kurzem wird Eastman allmählich wiederentdeckt. An dieser Aufarbeitung beteiligte sich die MaerzMusik auch 2018 maßgeblich.

Und noch ein weiterer Name tauchte im Programm des Festivals auf, der lange Zeit im Neue-Musik-Betrieb nicht präsent gewesen war: Terre Thaemlitz. Beworben wurde der 1968 geborene US-amerikanische Künstler explizit als „transgender artist“. Denn gerade die Verweigerung einer festgelegten Geschlechtsidentität macht den Kern seiner Arbeit aus: In multimedialen Performances kritisiert er gezielt heteronormativ geprägte Weltbilder und festgefahrene Wertmaßstäbe. Fast all seine Projekte zeichnen sich durch eine ausufernde Verwendung von Textmaterial aus. Umso schlichter und unterkomplexer mutet dagegen die Musik an. Doch das hat seinen Grund: Musik dient Thaemlitz – nach eigener Aussage – lediglich als Trägermasse für seine kultur- und gesellschaftskritischen Statements.

Wieso nun ausgerechnet ein Musikfestival wie die MaerzMusik sich in der Pflicht sieht, Künstler mit einer derart distanzierten Haltung gegenüber Musik einen nicht unwesentlichen Anteil des Programms gestalten zu lassen, mag nicht ganz einleuchten. Gleichzeitig aber scheint es ein typisches Symptom für eine aktuell herrschende Tendenz zu sein: die Befürchtung, Musik allein könne nichts mehr bewegen.

Neue Harmlosigkeit versus Subversionspotenzial

Der Hang zum Zweifeln an der Wirkkraft von Musik schien glücklicherweise nicht überall um sich zu greifen. So waren etwa die Donaueschinger Musiktage in diesem Jahr bemerkenswert klangzentriert. Etliche Stücke kamen ganz ohne „plus“ aus und stellten das Schallereignis ins Zentrum. In manchen Fällen waren dabei eindrucksvolle, dramaturgisch durchdachte und klanglich ausgefeilte Kompositionen entstanden, wie etwa Malin Bångs Orchesterstück splinters of ebullient rebellion, Enno Poppes einstündige Arbeit Rundfunk für neun Synthesizer oder auch Mirela Ivičevićs Case White für Ensemble. Teilweise aber schien der Trend auch in Richtung „neue Harmlosigkeit“ zu gehen, etwa bei Kompositionen von Ivan Fedele, Marco Stroppa, Rolf Wallin oder Francesco Filidei. Ob das Orchester als filmmusikalischer Effektapparat, das Soloinstrument als virtuoses Sahnehäubchen oder das Kammerensemble als schmuckvolle Wohnzimmertapete zum Einsatz kam: Vielen Komponisten schien es offenbar ein Bedürfnis zu sein, zu einer Musiksprache zurückzukehren, die braven Schönklang und behagliche Unterhaltung liefert. Von einem Streben nach Reibung, nach Herausforderung, nach Unbequemlichkeit war hier nicht viel zu sehen.

Stattdessen sorgte an anderer Stelle die Neue Musik für politische Brisanz – allerdings völlig unfreiwillig: Ende August berichteten die Berliner Lokalzeitungen von einem Plan der Deutschen Bahn AG, den S-Bahnhof Hermannstraße mit „atonaler Musik“ beschallen zu wollen. Ziel sei die Vertreibung der dort ansässigen Trinker- und Drogenszene. Auf atonale Musik sei man gekommen, da sie übliche Hörgewohnheiten unterlaufe und von vielen Menschen als unangenehm empfunden werde. Mal abgesehen davon, dass die Deutsche Bahn AG offenbar höchstens eine vage Vorstellung davon zu haben schien, was der Begriff „Atonalität“ eigentlich bedeutet, ist eine solche Initiative ein Affront – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass nicht einmal ein Jahrhundert vergangen ist, seitdem Atonalität noch von den Nationalsozialisten als „entartete Musik“ diskreditiert wurde.

So löste die Meldung binnen kürzester Zeit einen Online-Shitstorm aus. (In der Zwischenzeit hatte es das Thema sogar in die New York Times geschafft.) Bald darauf begannen verschiedene Akteure der Neuen Musik, kreative Gegenoffensiven zu starten: E-Mails von Rundfunkredaktionen sowie Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftlern an die Deutsche Bahn AG mit der Nachfrage, ob für die Aktion Kompositionsaufträge ausgeschrieben würden, bis hin zu Fake-Videotrailern für die Party-Veranstaltung „Deutsche Bahn Atonal“ kursierten im Netz. Eine Reaktion des Bahn-Managements blieb aus, woraufhin die Initiative Neue Musik Berlin e.V. eine öffentliche Protestaktion ausrief: Unter dem Motto Atonale Musik für alle wurde ein Live-Konzert auf dem Vorplatz des Bahnhofs Hermannstraße organisiert, um zu demonstrieren, welches Ambiente hier künftig zu erwarten sei.

Der hohe Publikumsandrang sprach für sich; zwei Tage später war das Vorhaben der Deutschen Bahn AG gecancelt. Ob man dort derweil zu der Erkenntnis gelangt war, welche fatalen Signale man mit einer solchen Aktion ausgesandt hätte oder ob man sich einfach nur keine weiteren Feinde machen wollte, bleibt Spekulation. Festzuhalten ist jedoch: Hier hat die Neue Musik mit Nachdruck bewiesen, dass allein ihre Existenz die Kraft zu Kontroverse und Subversion hat.
 

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