Elektronische Musik 2018
Nostalgie und Zukunftsvisionen
Fast 30 Jahre Techno – und schon dieses Jahr konnte man sich vor der historischen Aufarbeitung der Clubkultur kaum retten. Doch die Techno-Community brachte 2018 auch Menschen zum politischen Protest auf die Straße und positionierte sich mit einem klaren Bekenntnis zu Toleranz und mehr Achtsamkeit absolut zeitgeistig. Trotzdem schmerzt der Abschied von einigen alten Bekannten.
Von Laura Aha
Abgesehen von der chaotischen Weltpolitik fing das Jahr 2018 zumindest musikalisch gut an: Mitten im kalten Berliner Januar durfte man im Berghain mit der Weltpremiere von Italo Disco Legacy schon mal vom bevorstehenden Jahrhundertsommer träumen. Die Doku von Pietro Anton und Janis Nowacki, der das Berliner Label Private Records betreibt, bereitete das oft belächelte Genre endlich angemessen auf. Auch wenn sich der 80s-Disco-Hype schon seit Jahren mit Labels wie Dark Entries hält, schien 2018 das Italo-Fieber endgültig alle erfasst zu haben – mit Festivals, Partys und zahlreichen Aperol-Spritz-Events, um die in diesem Sommer niemand herumkam.
Den passenden Soundtrack lieferte der Ire Krystal Klear mit Neutron Dance, seinem ersten Release auf Running Back im Italo-Stil. Labelchef Gerd Janson brachte zudem mit dem Mastermix Front By Klaus Stockhausen & Boris Dlugosch die schönste Nostalgie-Compilation des Jahres heraus. Sie huldigt dem 1983 in Hamburg eröffneten Schwulenclub FRONT, wo Stockhausen und Dlugosch Residents waren und der als erster House-Club Deutschlands gilt. Obwohl Stockhausen seine DJ-Karriere 1991 beendete, legte er im September mit Dlugosch in der Panorama Bar auf. Die Crowd, irgendwo zwischen 18 und Ende 50, bewies, dass elektronische Musik ein generationsübergreifendes Projekt geworden ist, in dem neben Hautfarbe und sexueller Orientierung eben auch das Alter keine Rolle mehr spielt.
Verliebt in die Vergangenheit
2019 steht das 30. Jubiläum der Loveparade an – und schon dieses Jahr war die Begeisterung für die historische Aufarbeitung von Techno ungebrochen. Die Ausstellung Nineties Berlin machte das Jahrzehnt in der Alten Münze Berlin multimedial erlebbar, in Frankfurt gab Alex Azary, Chef des Offenbacher Labels Electrolux, die erste Pressekonferenz zum Museum of Modern Electronic Music, dessen Eröffnungszeitpunkt noch nicht feststeht. Jürgen „JL“ Laarmann, Gründer des ersten deutschsprachigen Technomagazins Frontpage, tauchte wieder auf der Bildfläche auf. Sein Podcast 1000 Tage Techno reihte sich ein zwischen anderen Podcasts wie Berlin: Then & Now des Crack Magazines und Berlin Zwanzig der Red Bull Music Academy. Diese kehrte 2018 für ihr 20. Jubiläum an ihren Entstehungsort Berlin zurück und holte sich neben großartigen Künstlerinnen und Künstlern auch viel negative Presse ins Berliner Funkhaus. Konzernchef Dietrich Mateschitz hatte sich 2016 in einem Interview rechtspopulistisch geäußert, was eine kritische mediale Auseinandersetzung mit dem Konzern und der durch ihn finanzierten Academy zur Folge hatte. Dennoch muss die im Rahmen der Academy stattfindende Party S3kt0r UFO – 30 Jahre Techno mit Hochkarätern wie Underground Resistance, Nina Kraviz, DJ Hell, Gudrun Gut und anderen erwähnt werden.Eine der interessantesten Newcomerinnen des Jahres war zudem Teilnehmerin der Red Bull Academy. Die sächsische DJ und Produzentin Annegret Fiedler aka Perel landete mit ihrem Debütalbum Hermetica auf dem New Yorker Avantgarde-Label DFA Records – als erste Deutsche überhaupt. Außerdem lieh sie dem in Berlin lebenden Curses für dessen Debüt Romantic Fiction ihre Stimme. Apropos Newcomer: In dieser Reihe darf natürlich Peggy Gou nicht fehlen. Die in Berlin lebende Koreanerin ist die Durchstarterin der House-Szene, das verspielte Glöckchen-Pattern ihres Hits It Makes You Forget (Itgehane) bimmelte auf jedem Open-Air, im Sommer spielte sie bis zu 20 Gigs im Monat. Mit ihren facettenreichen Sets und extravaganten Looks ist Instagram-Liebling Peggy Gou der lange vermisste Farbklecks im düsteren Techno-Einheitsbrei.
We Dance Together, We Fight Together
Man kommt auch 2018 nicht umhin, über das politische Potenzial des Dancefloors zu sprechen. Dass dieses immer wieder erkämpft werden muss, zeigte sich im April, als es in den georgischen Nachtclubs Bassiani und Café Gallery zu schwerbewaffneten Polizeirazzien kam. Offiziell wollte man damit den Drogenhandel im Club verhindern. Die Clubbesitzer und die georgische Szene vermuteten jedoch politische Motive hinter den unverhältnismäßig gewaltsamen Razzien. Der rechtskonservativen Regierung sei der queerfreundliche Club ein Dorn im Auge, sagte auch Michail Stangl, Chef der Techno-Plattform Boiler Room in Deutschland, im Interview mit der Tageszeitung Die Welt. Tausende versammelten sich zu einem Protestrave vor dem georgischen Regierungsgebäude, bei dem unter anderem die deutschen DJs Ateq, Sa Pa und DJ Dustin aus dem Dunstkreis des Weimarer Giegling-Labels auflegten. Die internationalen Solidaritätsbekundungen unter dem Hashtag #WeDanceTogetherWeFightTogether bezeichnete Stangl als den womöglich „wichtigsten Moment, den elektronische Musikkultur je erfahren hat“. In repressiven Staaten seien Clubs als safe spaces besonders wichtig.Doch Techno brachte auch in Deutschland Menschen auf die Straßen. Zur Gegendemo AfD Wegbassen tanzten in Berlin zwischen 25.000 und 70.000 Menschen gegen Rechtspopulismus. Organisiert von über 70 Berliner Clubs und Partykollektiven bewies die Szene, dass sie alles andere als unpolitisch ist. Farbenfrohe Raverinnen und Raver auf der Straße des 17. Juni erinnerten nicht nur optisch an die Loveparade, sondern ließen deren Grundidee eines idealistischen Gegenentwurfs zur Gesellschaft für ein paar Stunden mögliche Realität werden.
Für Toleranz und mehr Achtsamkeit
Außerdem feierte man unter dem Motto Mein Körper – meine Identität – mein Leben in Berlin das 40. Jubiläum des Christopher Street Days. Das Vermächtnis der bunten Parade, die seit ihren Anfängen für die Sichtbarkeit und Akzeptanz der queeren Community kämpft, konnte man 2018 deutlich sehen. Auf kommerziellen Festivals wie dem MELT! traten Künstlerinnen und Künstler wie Fisherspooner und Fever Ray auf, vor deren Show auf der Hauptbühne das Kollektiv um die Berliner Dragqueen Pansy eine Voguing-Performance in Vulva-Kostümen zum Pussy Riot-Hit Straight Outta Vagina hinlegte. Die Transfrau Honey Dijon spielte neben der queeren DJ The Black Madonna eines der Closing-Sets auf der Big Wheel Stage.Dass die Techno-Szene ihre Haltung gegen Diskriminierung jeglicher Art verteidigt, zeigte auch die Entwicklung in der Sexismus-Debatte um den DJ Konstantin. Dieser hatte sich 2017 im Techno-Magazin Groove abwertend über weibliche DJs geäußert und dadurch eine international beachtete Diskussion über Sexismus in der Szene angestoßen. Auf dem Fusion-Festival 2018 kam es in der Folge zu Boykott-Aufrufen seines geplanten DJ-Sets, das aufgrund eines Flaschenwurfs aus dem Publikum sogar vorzeitig abgebrochen werden musste. Da Konstantin im Oktober 2018 auf dem Amsterdam Dance Event für drei Gigs gebucht worden war, formierte sich mit der Petition ADE – don’t welcome sexism, remove Konstantin from the line-ups eine Protestbewegung, der sich auch zahlreiche DJs anschlossen. In der Folge veröffentliche Konstantin ein langerwartetes Statement, in dem er sich für seine Aussagen entschuldigte.
Auch im Bereich Mental Health fand 2018 ein Sinneswandel statt: Durch den Tod des EDM-Superstars Avicii wurde erstmals ein ernsthafter Diskurs zum Thema geführt. Bereits 2016 hatte die britische NGO Help Musicians UK die Studie Can Music Make You Sick? veröffentlicht. 2018 wurde das wichtige Thema in einer breiten Öffentlichkeit auf Festivals und Konferenzen (beispielsweise bei der LOOP Konferenz, dem Crossroads Festival, Music Pool und Most Wanted:Music) diskutiert. Die in Berlin lebende DJ und Produzentin Emika veröffentlichte ihr Album Falling in love with sadness bewusst am 10. Oktober, dem Mental Health Day, und spendete einen Teil der Erlöse an die Initiative Music Minds Matter.
Neue Techniken kommen – alte Bekannte räumen das Feld
Neue technische Möglichkeiten wie Künstliche Intelligenz und Virtual Reality halten auch in der Musikwelt Einzug. Künstlerin Holly Herndon versuchte mit ihrem neuen Projekt Spawn einer künstlichen Intelligenz das Singen beizubringen. Umgekehrt traten „echte Musikerinnen und Musiker" im virtuellen Raum auf. In der im Juni veröffentlichten Edition des Online-Games GTA After Hours können Spielerinnen und Spieler einen Club betreiben – und reale DJs wie Dixon, The Black Madonna, Solomun oder Tale Of Us buchen. Die animierten „Live-Sets“, die daraufhin über Facebook von Resident Advisor „gestreamt“ wurden, stellen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auf den Kopf.Und auch auf der Leinwand gab es wieder Techno. Mit der Serie Beat, der zweiten deutschen Eigenproduktion des Amazon-Dienstes Prime Video, versuchte sich Regisseur Marc Kreuzpaintner an einem Club-Thriller mit Soundtrack von Marcel Dettmann und Ben Lukas Boysen. Johannes Schaff holte sich für die künstlerische Doku Symphony of Now, eine Neuinterpretation des 1927 erschienenen Klassikers Berlin: Die Sinfonie einer Großstadt, Größen wie Frank Wiedemann, Hans-Joachim Roedelius, Thomas Fehlmann, Gudrun Gut und Modeselektor ins Boot.
Wo neue Techniken Einzug halten, müssen alte leider manchmal weichen. Nachdem bereits im April das deutsche Popmagazin Intro die Printausgabe einstellen musste, trifft es zum Jahresende mit Spex und Groove auch die beiden Magazine, die den deutschsprachigen Popdiskurs der letzten vier Jahrzehnte maßgeblich geprägt haben. Die 1989 gegründete Groove, die die Szene seit ihren Anfängen begleitet hat, bleibt zum Glück jedoch als reines Onlinemagazin erhalten – ebenso wie die Spex. Und wenn einen die letzten 30 Jahre eines gelehrt haben, dann, dass die Techno-Szene so einige Umbrüche verkraften kann – egal ob sozial, politisch oder medial.
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