In zwei Jahrzehnten eigener Arbeit für die Bühne hat sich bei Raimund Hoghe vieles verändert. Ewig treu bleibt er dagegen seinem Bühnenbildner, seiner Fotografin und seiner sinnlichsten Muse, der Musik.
Musik ist so flüchtig wie der Tanz, und dennoch unauslöschbar. Sie übersteht die Zeit, und sie steht über ihr. Polyfonien, Sinfonien, Lieder und Rhythmen verschiedenster Epochen und Kulturen können im Hier und Jetzt aufgeführt oder abgespielt werden. Unter jenen Musikbesessenen, die nach vergessenen Schätzen graben, findet man auch so manchen Choreografen. Raimund Hoghe zum Beispiel. Schon als Schüler fuhr er regelmäßig nach Paris, um sich dort mit den Chansons von Bécaud, Piaf oder Aznavour einzudecken. Im November 2012 gewährte er mit dem Festival 20 Jahre – 20 Tage einen Ein- und Überblick in seine Welt als Künstler und Mensch. Dass er seine zwanzigste Kreation für die Bühne ausgerechnet Cantatas nennt, ist kein Zufall. Hoghes Karriere ist ohne seine organische und intellektuelle Beziehung zur Musik nicht vorstellbar.
Josef Schmidt, Maria Callas, Judy Garland
In dem Solo Meinwärts von 1994, in dem Raimund Hoghe zum ersten Mal selbst auf der Bühne stand, ging es um den Tenor Josef Schmidt. 2007 widmete er Maria Callas sein vorerst letztes Solo, 36, avenue Georges Mandel. 2012 stand in Cantatas, zusammen mit Hoghe und sieben weiteren Interpreten, auch eine junge Sopranistin auf der Bühne. So kam zum ersten Mal die Musik nicht allein aus Hoghes umfangreicher Plattensammlung. Und 2013 folgte eine Hommage an Judy Garland: An Evening with Judy. Drei Stücke über Vokalkünstler und deren bewegende Schicksale. Raimund Hoghe wandelt sich, indem er sich treu bleibt. Auch sein Szenograf Luca Giacomo Schulte und die Fotografin Rosa Frank gehören zu den Fixsternen: „Außer Luca ist niemand dabei, wenn ich mit den Tänzern probe. Ich präsentiere kein Work in progress vor Freunden, um Feedback zu bekommen. Ich rede mit Luca oder sehe mir die von ihm gefilmten Proben an.“
Zum Jubiläum „Cantatas“
Doch am Anfang steht der Ton. Die Proben zu Sans titre, dem 2009 uraufgeführten Duo mit dem kongolesischen Choreografen Faustin Linyekula, begannen mit langem Musik-Hören. Hoghes Ader als Musikbesessener und ein Anflug von Romantik werden wohl auch für die nächsten zwanzig Jahre Grundlage seiner Stücke bleiben. Doch spätestens seit er 2002 Young People Old Voices für dreizehn Tänzer kreierte, seine bisher größte Besetzung, entwickelt sich seine Arbeit über die Begegnungen mit neuen Persönlichkeiten oder das Wiedertreffen mit alten Bekannten wie zuletzt mit der Bausch-Interpretin Finola Cronin im Jubiläumswerk Cantatas. So gilt mehr denn je: „Ich gehe von den Tänzern aus, von ihrer Geschichte, ihren Erfahrungen. Jeder ist anders und jeder respektiert den anderen. Das finde ich wichtig.“ Hoghe und Linyekula könnten unterschiedlicher kaum sein. Doch sie teilen den Willen, die Fragilität des eigenen Körpers über poetische Akte in den Dienst der heute Leidenden zu stellen. Da entblößte Hoghe seinen Rücken zum vorerst letzten Mal.
Der verschollene Buckel
Denn was lange die Rezeption seiner Werke überstrahlte, und meistens gegen seinen Willen, verschwindet mehr und mehr aus dem Blickfeld. Der Buckel hieß 1998 sein filmisches Selbstporträt für den WDR. In seinen ersten Stücken setzte er seinen Rücken gleichsam als Symbol ein und entblößte ihn. Es war ein Lackmus-Test für den Blick der Gesellschaft auf ihre Außenseiter. In Deutschland kam das schlecht an, wirkte zu explizit mahnend. In Frankreich herrschte eine rein ästhetische Rezeption vor. Da hing Rosa Franks Foto von Hoghes entblößtem Rücken auf einem Großplakat vor dem Centre Pompidou und wurde zum natürlichen Teil der urbanen Kunstlandschaft. Er kommentierte es damals so: „Kunst bedeutet für mich, dass man etwas Existenzielles einsetzt. Wenn ich auf der Bühne mein T‐Shirt ausziehe und meinen Rücken zeige, dann geht es nicht um Exhibitionismus oder Therapie, sondern um die Form des Körpers jenseits gängiger Einordnungen.“
Hoghe 2.0
Ganz offensichtlich hat sich im Lauf von zwei Jahrzehnten sein Bezug zum eigenen Körper gewandelt. Es geht heute nicht mehr um dessen Form, sondern darum, wie er sich bewegt. In Cantatas schreiten die Interpreten immer wieder das Karree der Bühne ab. Dabei legen sie, Hoghe voran, ein Marschtempo vor, wie man es in seinen Werken bisher nicht sah. Im Gegenteil: „Meine langen Stücke sind wie eine gemeinsame Reise, ein gemeinsames Durchschreiten der Zeit. Da entsteht eine direkte Verbindung zum Publikum“, sagte er 2011, als erster artiste associé des Festivals Montpellier Danse.
Dazu kommt: Der Hoghe von heute hat Humor! Im zweiten Teil von Cantatas inszeniert er sich in burlesken, rührenden Bildern mit Finola Cronin, wo beide die gute alte Zeit bei Pina Bausch evozieren. Darin steckt viel Selbstironie. Schon Pas de deux/Schritte für zwei, das 2011 kreierte Duo mit Takashi Uneo, ist immer wieder von Gender-Späßen unterwandert. Da stülpt Hoghe Uneos schwarz-goldene Kimonoschleife auf seinen Kopf und macht aus der weißen Rose, die er zuvor seinem Gegenüber reichte, eine Zigarettenspitze. Mit seiner Sonnenbrille wird er zur Diva, die sich selbst genießt.
Hoghologie
Früher schrieb Hoghe, heute schreibt man über ihn. Drei Werke innerhalb eines Jahres, das spricht Bände. 2012 erschien Schreiben mit Körpern im Kieser Verlag. 2013 folgten ein opulenter Fotoband, herausgegeben von der Kunststiftung NRW und das erste ausländische Werk über ihn, Throwing the Body into the Fight, in dem Interpreten und ständige Begleiter ihre Beziehung zu Hoghe in Worte fassen. Britisch-subjektiv sind die sensiblen und oft poetischen Blicke auf den Menschen und sein Werk und daher erfrischend, sodass auch eine deutsche Ausgabe durchaus zu verführen wüsste.
Buchtipps:
„Throwing the Body into the Fight – A Portrait of Raimund Hoghe.“
Mary Kate Connolly, Intellect Live, 2013; 140 Seiten, in englischer Sprache
www.intellectbooks.com; www.thisisLiveArt.co.uk
„Schreiben mit Körpern: Der Choreograph Raimund Hoghe“
Katja Schneider (Herausgeber), Thomas Betz (Herausgeber), Rosa Frank (Fotograf)
Kieser Verlag, 2012
„Raimund Hoghe“
Ein Buch mit Fotos von Rosa Frank, Luca Giacomo Schulte, Jacqueline Chambord, Raimund Hoghe
Herausgegeben von der Kunststiftung NRW
Verlag Theater der Zeit, 2013