Mitte der Neunzigerjahre entwarfen die Filmemacherinnen und Filmemacher der Berliner Schule radikal neue Bilder der deutschen Gesellschaft. Noch immer hat ihr Kino viel über das eigene Land zu erzählen.
Blickt man auf die deutsche Kinolandschaft der Neunzigerjahre, begegnet man vor allem banalen Komödien – Beziehungskrisen von Frauen und Männern, ausgetragen in yuppiehafter Umgebung in bundesrepublikanischen Großstädten. Das deutsche Kino schien die Auseinandersetzung mit den neuen Zeiten zu scheuen: Das Jahr 1989, Mauerfall, Wiedervereinigung und Umbrüche waren selten Thema auf der Leinwand. Die großen sozialen, politischen und kulturellen Umbrüche ereigneten sich eher im Osten, weniger greifbar und offensichtlich waren sie hingegen im Rest des Landes. Die Filme der sogenannten Berliner Schule lassen sich nachträglich auch als Dokumente einer Gesellschaft im Wandel aus westdeutscher Perspektive lesen. Gerade durch ihre eher zurückhaltende Annäherung an Figuren, Orte und Stimmungen sind die ersten Filme von Christian Petzold (Jahrgang 1960), Thomas Arslan und Angela Schanelec (beide Jahrgang 1962), die alle an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin studierten, eine Sensation im biederen deutschen Kino der Neunzigerjahre.
Die innere Verunsicherung
Mein langsames Leben (2001) von Angela Schanelec
| Foto (Ausschnitt): © Peripher Filmverleih
Sie reflektieren eine unbewusste Verunsicherung, das Gefühl, dass die Historie einen anderen Lauf nimmt, man selbst aber die eigene neue Rolle darin noch nicht kennt. Es ist genau diese Verunsicherung, die bei einem Abendessen in einer Berliner Altbauwohnung immer wieder ein Stocken, ein Innehalten der Konversation verursacht:
Mein langsames Leben (2001) von Angela Schanelec lässt sich aus heutiger Sicht auch als eine Studie des Westberliner Lebens verstehen, das sich nach dem Fall der Mauer neu definieren muss. Wie lieben, leben und arbeiten wir nun? Um solche Fragen kreisen die sehr persönlichen Filme Schanelecs; die Antworten suchen sie in der wiedervereinten Stadt.
Die Berlin-Kreuzbergfilme (
Geschwister, 1997;
Dealer, 1999;
Der schöne Tag, 2001) von Thomas Arslan haben mittlerweile fast dokumentarischen Charakter. In gefühlter Echtzeit ziehen seine jugendlichen Heldinnen und Helden von meist türkischer Herkunft durch ein noch kaum gentrifiziertes Kreuzberg. Sie lassen sich durch den Tag treiben, ziellos, ungezwungen und fühlen sich dem Kiez zugehörig, der bald nicht mehr ihrer sein wird. Heute wäre der Bezirk rund um den Görlitzer Park kein Ort für ihr jugendliches Driften.
Die innere Sicherheit (2000) von Christian Petzold wiederum ist eine Reflexion über den Zustand der politischen Linke in Deutschland. Seine Versinnbildlichung findet er in einer Kleinfamilie, einem ehemaligen Terroristenpärchen, das mit seiner Tochter in einem weißen Volvo durch die deutsche Provinz fährt. Wie abgekapselt von ihrer Umgebung wirken die drei. „Die deutsche Linke ist zwei Tode gestorben, den ersten im deutschen Herbst, den zweiten nach dem Zusammenbruch der DDR. Sie begann, sich in ihren eigenen Infrastrukturen mit ihren Kindertagesstätten, Ökoläden und ausgebauten Dachwohnungen zu verbarrikadieren“, sagt Christian Petzold.
Es passt zur Haltung dieser Filme, dass sie keine klassischen Geschichten erzählen, weil sie sich nicht in einer großen historische Erzählung einordnen lassen. Stattdessen zieht das Leben wieder auf der Leinwand ein, Lebensgefühle, in ruhigen Einstellungen aufgezeichnet auf Parkplätzen, in Berliner Straßen oder Wohngemeinschaftsküchen. Es sind diese präzise in lichten, klaren Bildern festgehaltenen Zustandsbeschreibungen, die dem Kinozuschauer die Augen für die deutsche Wirklichkeit öffnen.
Die Kritik kreiert die Berliner Schule
Tatsächlich nehmen diese Filme eine radikal subjektive Perspektive auf ihr Thema ein, um so wieder zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Zustandsbeschreibung zu gelangen. Dieser neue Blick wird von der Kritik gefeiert und mit dem Label Berliner Schule versehen. Es handelt sich hier also nicht um eine Bewegung wie die Nouvelle Vague in Frankreich, um einen Zusammenschluss von Regisseuren, die für eine bestimme Kinovision stehen. Vielmehr fühlt sich die Filmkritik durch die Berliner Schule im deutschen Kino wieder zu Hause – auch weil es sich um Regisseure handelt, die sich mit der deutschen und der internationalen Filmgeschichte auseinandergesetzt haben. Auf der Leinwand treten sie in einen leidenschaftlichen Dialog mit ihren Vorgängern, weil sie wissen, dass jedem Bild ein (Vor-)Bild vorausgeht. Mit der Berliner Schule wird in Deutschland der Diskurs über das Kino – wie schon zu Zeiten des Neuen Deutschen Films in den Sechziger- und Siebzigerjahren – wieder eröffnet, die gesellschaftliche Bedeutung dieser Kunstform neu diskutiert.
„Kino muss gefährlich sein“
Jüngere Regisseurinnen und Regisseure greifen diesen Diskurs auf: Maren Ade, Valeska Griesebach, Ulrich Köhler, Benjamin Heisenberg und Christoph Hochhäusler. Auch jenseits des Kinos setzen sie sich intensiv mit ihrem Medium und dessen Möglichkeiten auseinander. Man organisiert Filmvorführungen mit anschließenden Gesprächen, monothematische Podiumsdiskussionen, und 1998 entsteht die Filmzeitschrift
Revolver. In der ersten Ausgabe fasst Mitherausgeber Christoph Hochhäusler in einem Pamphlet mit dem Titel „Kino muss gefährlich sein“ die Maxime dieser zweiten Generation von Filmemachern der Berliner Schule zusammen: „Seien wir realistisch, untersuchen wir die Wirklichkeit. Erforschen wir die Schmerzgrenze mit den Mitteln des Films. Versuchen wir Filme, die nicht naheliegend, sondern persönlich, nicht nachahmend, sondern beobachtend sind.“
Ronald Zehrfeld, Christian Petzold, Nina Hoss (Phoenix)
| Foto (Ausschnitt): © Piffl Medien
Das deutsche Kino wird wieder sichtbar
Mittlerweile wird der Begriff Berliner Schule kaum mehr verwendet. Die Jahre, in denen die Regisseure mit diesem Kritikerlabel noch Rückendeckung auf ihren neuen Wegen brauchen, sind längst vorbei. Doch ihr Kino bleibt weiterhin überraschend und gefährlich, arbeitet sich quer durch die Genres an der Wirklichkeit ab. In seinem Western
Gold (2013) erinnert Thomas Arslan an Deutschland als Auswanderernation, Christian Petzold folgt in seinem eigensinnigen Thriller
Phoenix (2014) einer Jüdin, die nach dem Zweiten Weltkrieg verzweifelt ihr altes Deutschland und ihre Liebe sucht.
Toni Erdmann (2016) von Maren Ade
| Foto (Ausschnitt): © NFP Filmverleih
In Maren Ades weltweit beachteter Tragikomödie
Toni Erdmann (2016) schlüpft ein Altachtundsechziger-Vater in eine peinliche Verkleidung, um seine Karrieretochter zu provozieren und ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Auch mit diesen Nachfolgern der Berliner Schule gelangt das deutsche Kino nach langen Jahren der Unsichtbarkeit wieder zu internationaler Aufmerksamkeit – gerade, weil die Filme und ihr genauer Blick der Welt etwas über das eigene Land zu erzählen haben.
Rajendra Roy, Anke Leweke: The Berlin School: Films from the Berliner Schule, MoMA 2013