Grenzen können geografisch sein, physisch, psychisch, gesellschaftlich, biografisch, stilistisch, finanziell, … die Liste scheint endlos. In diesem Artikel sammeln die Berlinale-Blogger 2017, was sie zum Thema „Grenzen“ auf der Berlinale bemerkt haben.
Philipp Bühler – Deutschland: Grenzen werden in Sabus Wettbewerbsbeitrag Mr. Long permanent überschritten: zuerst geografisch, von Taiwan nach Japan, dann aber auch zwischen den Genres. Als seine neuen Nachbarn Mr. Longs Kochkünste bemerken, bauen sie dem Profikiller einen fahrbaren Suppenstand. Kulinarisches Gewaltkino mit Moral – das hat Festivalchef Dieter Kosslick natürlich gefallen. Am schönsten wirkt aber die Überwindung von Sprachgrenzen: Wie häufig bei Jim Jarmusch (etwa in Ghost Dog, 1999) führt eine konsequent non-verbale Nicht-Kommunikation zum Erfolg. Eine kleine Utopie in einem Wettbewerb, in dem andauerndes Reden meist Katastrophen nach sich zieht (The Dinner, The Party).
Ahmed Shawky – Ägypten: Egal, ob man sich bei der Berlinale mit seinem Sitznachbarn im Kinosaal unterhält, ob man in die vielen verschiedenen Gesichter aus aller Welt blickt, die nach der Vorführung den Saal verlassen oder ob man sich von den unzähligen internationalen Filmen berühren und in andere Welten entführen lässt: Das Filmfestival versprüht stets die Atmosphäre einer grenzenlosen Welt – der einzigartigen Welt der Berlinale.
Camila Gonzatto – Brasilien: Um Freiheit statt Grenzen ging es in der Debatte mit dem Künstler Christo – eines der Highlights in der Sektion Berlinale Talents. Seit Jahren arbeitet Christo an riesigen Kunstwerken, die nicht zum Verkauf stehen. „Die Arbeit ist Ausdruck einer Freiheit. Und Freiheit ist nicht käuflich. Die Arbeiten stellen eine Momentaufnahme dar. Diese Zeit können Sie sich nicht zurückholen“, erklärt der Künstler in Berlin. „In unserer Arbeit steckt viel Politik. Aber es handelt sich um reale Politik und keine veranschaulichende Politik. Der größte Teil der heutigen Kunst besteht aus Bildern. Ich schätze die Körperlichkeit der Werke und diese Interaktion mit den Menschen. Das bereitet viel Arbeit und stellt mich vor zahlreiche Probleme, aber es ist das, was mich am Leben hält.“
Sarah Ward – Australien: Eine oft thematisierte Grenze ist der Wechsel von Miteinander und Gegeneinander. Eine Handvoll scheinbar willkürlich zusammengewürfelter Charaktere auf engstem Raum unter ungewöhnlichen Umständen: Diese Idee ist nicht neu. Noch deutlich weniger neu sind die eintretenden Folgen, selbst mit Álex de la Iglesia im Regiestuhl. Das Chaos, die Streitigkeiten und die Heuchelei in The Bar sind vorhersehbar. Doch dies macht den neuen Film des spanischen Filmregisseurs nicht weniger scharfsinnig. Mit schwarzem Humor – seinem Markenzeichen – und einem rasanten Tempo ist diese Mischung aus Thriller und schwarzer Komödie ein Zeugnis menschlicher Interaktion im Kampf ums Überleben. Fremde suchen zwar gemeinsam Zuflucht. Letztendlich muss jedoch jeder feststellen, dass er für sich alleine kämpft – gegen die anderen, und gegen die Welt.
Yun-hua Chen – China: Wer eine Antwort auf die Frage danach sucht, was Grenzen sind, erhält mit dem Film Somniloquies von Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor die meiner Ansicht nach beste Antwort. Das Werk vermag es, mit wunderschönen Kinobildern zur Begriffsklärung beizutragen. In träumerischer, poetischer und selbstreflektierender Art pendelt der Film zwischen Licht und Schatten, Bewusstem und Unbewusstem, Worten und Bildern, Körper und Raum sowie zwischen verschiedenen schlafenden und kaum wahrnehmbaren Gestalten. Immer wieder verschwimmen die Grenzen, werden überschritten und wieder neu festgelegt. Die Traumgespräche, die wir in unregelmäßigen Abständen hören, sind manchmal lustig, manchmal aber auch schockierend, während die Kamera lustvoll in der schlummernden Dunkelheit schwelgt.
Andrea D’Addio – Italien: Die denkwürdigste Grenzüberschreitung der Berlinale hat in meinen Augen Khaled vollzogen: der syrische Flüchtling in The Other Side of Hope von Aki Kaurismäki, dem besten Film der Berlinale 2017. Khaled kommt als blinder Passagier in einem polnischen Frachtschiff nach Finnland, nachdem er kreuz und quer durch Europa gereist ist. Auf der Flucht vor dem Krieg hat er unterwegs seine Schwester aus den Augen verloren. Er hat sie vergeblich in den Flüchtlingslagern in Serbien, Österreich, Deutschland, Kroatien und Ungarn gesucht. Als ihn die finnische Beamtin, die einschätzen muss, ob ihm der Flüchtlingsstatus anerkannt wird, fragt, wie er es geschafft habe, ungestört durch Europa zu reisen, ohne Papiere vorzeigen oder Fingerabdrücke abgeben zu müssen, antwortet Khaled: „Niemand wollte sie wirklich sehen.” Die Grenzen von heute verlaufen weniger zwischen Staaten, als vielmehr zwischen sozialen Klassen.
Nathanael Smith – Vereinigtes Königreich: Für mich ist diese Szene, in der Khaled das Gespräch mit den Behörden über seinen Asylantrag führt, eine der besten Szenen in The Other Side Of Hope – und gleichzeitig eine der einfachsten. Mit seinem typisch trockenen Humor und seinem unverkennbaren Spiel mit Farbe ist Aki Kaurismäkis Film wieder einmal eine wahre Freude. Während des Gesprächs, als Khaled von den Schrecken der Grenzüberquerung auf seiner Flucht, der Trennung von seiner Familie und der Gewalt erzählt, die ihm widerfahren ist, zeigt die Kamera die ganze Zeit sein Gesicht in Nahaufnahme – und hält dabei ganz still. Kaurismäki hat erkannt, dass manche Geschichten ohne die cineastische Trickkiste auskommen.
Julia Thurnau – Norwegen: Je. Moi. Warum ich und nicht du? Ich bin die Andere. Nein, du! Ich habe mehr Geld als du. Ich bin arm, aber meine Vorfahren waren reich. Du, Ossi. Ausländer! Du bist lesbisch. Ich bin transgender. Bisexuell. Du trägst gerne Frauenkleider. Ich bin kein Transvestit, ich bin intersexuell. Du bist schwul. Sugar Daddy. Hure. Lehrer. Schriftsteller. Politikerin. Polizistin. Arzt. Putzkraft … Sind nicht alle Kategorien Stereotype? Äußerliche Faktoren, herstellbar, änderbar, flexibel? Boxen, in die wir Dinge sortieren? Fängt nicht die Wahrheit wie auch die Kunst jenseits dieser Kategorien an? Sind Grenzen nicht da, um überschritten zu werden? Mit betonter Toleranz drehen sich viele Filme der Berlinale 2017 ungewollt um Stereotype.
Dorota Chrobak – Polen: Grenzen können sehr subtil sein. Eine von ihnen verläuft … zwischen Wohnung und Balkon. Wenn Du auf einem Stuhl auf dem Balkon sitzt und vor Dich hin schaust, dann entfliehen die Gedanken wie von selbst in die Ferne – bis ins All. Aber es reicht, sich umzudrehen, um sofort in die Realität zurückzukehren, zurück zum Alltagstrubel und zu den Verpflichtungen. Es gibt einen riesengroßen Unterschied zwischen dem „Ich in der Wohnung” und dem „Ich auf dem Balkon”. Das norwegische Film-Tagebuch From the Balcony präsentiert eine Gegenüberstellung von Wohnung und Balkon und vergleicht dabei das, was wir als „persönlichen Bereich” bezeichnen mit dem, was wir als „sozialen Bereich” kennen. Die Grenze dazwischen ist schmal und in gewisser Weise mit Einsamkeit verbunden. Ohne andere Menschen können wir nicht Mensch sein, aber wir können auch nicht wir selbst sein, ohne allein zu sein.
Pablo López Barbero – Spanien: In dem Film The Party von Sally Potter habe ich viele Grenzen gesehen. Unsichtbare Grenzen aus unausgesprochenen Worten, Lügen und Eifersucht. Das sind eher abstrakte Grenzen, und vielleicht zugleich die menschlichsten. Die Handlung erschließt sich bei einem Abendessen unter Freunden. Als Untreue und andere Geschichten ans Licht kommen, bricht das, was erst nach gesunder Freundschaft aussah, auf. Auf humorvolle Weise enthüllt Potter die frivolsten Seiten des Menschen, paradoxerweise in einem Schwarz-Weiß-Film. Es geht um gesellschaftliche Grenzen, die wir in Beziehungen errichten, mit unseren Freunden oder mit uns selbst. Und es ist vielleicht schon zu spät, um diese zu überwinden