Die Stimme der Poeten jedoch,
sie geht uns alle an.
Eines der Bücher, das ich von Vancouver in die Niederlande, dann nach Kambodscha und jetzt nach Montreal mitgenommen habe, ist Hannah Arendts Men in Dark Times (deutsch 1989: Menschen in finsteren Zeiten). Es ist ein Buch, das sich von ihren bekannteren Werken unterscheidet; sein Gegenstand sind andere Menschen und andere Leben.
Men in Dark Times wurde 1968 veröffentlicht. Es ist eine Sammlung von Aufsätzen von Schriftstellern und Philosophen, die von Erich Lessing bis Walter Benjamin, von Bertolt Brecht, Hermann Broch bis Isak Dinesen reichen.Für mich geht es in diesem Buch über Dichtung und den Dichter. So schreibt Broch: „Soll Poesie zu Läuterung und Selbsterkenntnis des Menschen führen, muss sie ihn in die Tiefen menschlicher Widersprüche stürzen; im Gegensatz zur Philosophie, die sich nur an den Rand des Abgrunds wagt.“ Arendt macht sich diese Widersprüche zur Aufgabe. Es sind die uns innewohnenden Paradoxa und Missklänge, die unser Leben und unsere Beziehungen untereinander prägen.
Diese Widersprüche haben mich in meinem eigenen Leben immer wieder zum Geschichtenerzählen zurückgeführt. Durch Geschichten wissen wir, dass viele Wahrheiten gleichzeitig existieren können, wie zum Beispiel in Hermann Brochs beklommen brillantem Meisterwerk Die Erzählung der Magd Zerline die Wahrheit der Zerline neben der Wahrheit ihres Liebhabers und dessen Geliebter besteht. Zerlines Beweggründe—sie sind unschuldig, heimtückisch und wahnsinnig zugleich—brechen aufeinander wie Glasfragmente, unfähig eine Einheit zu bilden, jedoch Teil eines Ganzen. Broch zeigt uns, in den Worten Arendts, wie „Geschichten etwas bedeuten, ohne den Fehler zu begehen, diese Bedeutung zu definieren.“
Arendt gelingt es in Men in Dark Times Erzählung, Kritik und Rhetorik miteinander zu verflechten. Zunächst ist da die Erzählung einer Biographie (Brecht, das Genie, der uns unliebsame Wahrheiten mitteilt, der sich seinen Weg bahnt von Augsburg nach Svendborg, weiter nach Santa Monica und schließlich nach Ost-Berlin), die literarische Kritik („Es gibt keine Sentimentalität in Brechts großartiger und großartig präziser Definition eines Flüchtlings: Ein Bote des Unglücks.") und am Ende die Rhetorik („Es war genau diese außerordentliche Intelligenz, die sich wie ein Aufblitzen den Weg durch polternde marxistische Plattitüden bahnte, die es den guten Menschen so schwer machte, Brecht seine Sünden zu vergeben.“).
Arendt konzentriert sich anhand von Brecht, anhand seiner Stücke, seiner Dichtung und seiner Lebensbahn, Stück für Stück auf das Gute. Wie war es möglich, fragt sie, dass ein guter Mensch, nein!, einer der besten, mit allen Annehmlichkeiten in Ost-Berlin unter einem Regime lebte, das seine Freunde umbrachte? Ist es wahr, dass es wichtiger ist „eine bessere Welt zu hinterlassen, als gut gewesen zu sein?“
Wie kaum einem anderen gelingt es Arendt diese Widersprüche zu beleuchten und sie mit dem ihr eigenen schonungslosen Intellekt, aber auch einem intensiv ergreifenden Mitgefühl vor uns auszu-
breiten.
Dieser Tage mache ich mir häufig Gedanken über meine eigene Liebe zur Literatur und meinen Glauben an ein Leben durch Schreiben. Wenn Hermann Broch von „der absoluten Unzulänglichkeit der Literatur“ spricht, höre ich meine eigenen Zweifel tausendfach verstärkt.
Men in Dark Times bleibt in mir wie ein Gang, von dem viele unbeleuchtete Zimmer abzweigen. In jedem sitzt ein Mensch, der vor sich hindenkt, ein Mensch, der an einem Werk schafft, ein Mensch, der in ständiger Auseinandersetzung mit den Ideen anderer ist.
Das Kostbare an diesem Buch ist für mich, dass jeder von uns in diesen Zimmern ist und wir nur durch den Diskurs, durch diese leidenschaftliche Auseinandersetzung, den Weg zueinander finden können.
Madeleine Thien,
Montreal