Dionne Brand über Bertold Brecht
„Gedichte 1913–1956” von Bertolt Brecht

 Bertolt Brecht Gedichte 1913–1956 - von B. Brecht; Theatre Arts Book, 1997
Bertolt Brecht Gedichte 1913–1956 - von B. Brecht; Theatre Arts Book, 1997

In meiner grünen Reisetasche waren eine zweibändige Ausgabe des Oxford English Dictionary, ein Paar Jeans, zwei T-Shirts, einige Stifte, ein Palästinensertuch, ein Notizbuch sowie Bertolt Brecht. Beim Packen der Tasche war für mich von vorneherein klar gewesen: das Wörterbuch und Brecht mussten mit. Die Stifte waren Nebensache. Das Notizbuch war ein kleiner Luxus. Zur Not hätte ich auch einfach die Ränder meines Wörterbuchs zum Schreiben benutzen können. Das Palästinensertuch hatte ich in letzter Minute in meine Tasche gestopft – ein Symbol letzten Widerstands. Als es bei einer Durchsuchung aus meiner Tasche herausfiel, bemerkte ein amerikanischer Soldat die durchkreuzten Nähte als etwas, das er erkennen sollte, woran er sich jedoch nicht mehr erinnern konnte. Das Wörterbuch und Brechts Gedichte 1913–1956 hatten mich ständig begleitet und waren bei meinen diversen Wohnungswechseln in Toronto mit mir ein- und ausgezogen.

1983 hatte ich mich dann entschieden in Grenada zu arbeiten. So zogen sie mit mir von Insel zu Insel durch die Karibik. Zunächst von Toronto nach Ottawa, dann von Ottawa nach St. Georges, von St. Georges nach Vieux Fort, von Vieux Fort nach Roseau, dann zum ruhenden Vulkan La Soufrière, die windzugewandte Seite von St. Vincent hinauf, zurück nach St. Georges, jetzt in meiner Tasche, ein Versteck auf einer Kuppe oberhalb einer Feuerwehrwache verlassend, eine Straße mit amerikanischen Soldaten und Geschützen entlang, auf dem Weg zu einem Behelfslager des US-Militärs. So ermüdet waren diese Bücher, dass der Leim am Rücken von Brechts Gedichtband der Meeresluft und den ständigen Ortswechseln nicht mehr standgehalten hatte und sich ahnungsschwer auf den Seiten von „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“ öffnete.

Die Revolution hatte mich nach Grenada verschlagen; die Invasion der Amerikaner vertrieb mich von der Insel. Brechts Gedichte waren mein Begleiter. Sie besaßen eine düstere Schwermut, in der sich meine Gefühle für die einmarschierenden Amerikaner und den Untergang der Revolution widerspiegelten. Als Brecht aus Deutschland floh, schrieb er:

Auf der Flucht vor meinen Landsleuten
Bin ich nun nach Finnland gelangt. Freunde
Die ich gestern nicht kannte, stellten ein paar Betten
In saubere Zimmer. Im Lautsprecher
Höre ich die Siegesmeldungen des Abschaums. Neugierig
Betrachte ich die Karte des Erdteils. Hoch oben in Lappland
Nach dem Nördlichen Eismeer zu
Sehe ich noch eine kleine Tür.
   (1940 –VIII)

Unwillkürlich kamen in mir dieselben Gefühle auf angesichts des großen Triumphs der USA über das winzige Grenada. Damals war es, zusammen mit der Bewaffnung der Contras in Nicaragua, der jüngste Beweis für die amerikanische Einmischung in Lateinamerika und in der Karibik.

Ich muss zugeben, dass ich damals vor 25 Jahren nicht die „kleine Tür“ auf der Karte der Inselwelt erkannte. Brecht war hoffnungsfroher als ich. Auf dem Weg zum Militärlager der US-Armee hallte ein anderes Gedicht in meinem Kopf nach:

Nebel verhüllt
Die Straße
Die Pappeln
Die Gehöfte und
Die Artillerie.
   (1940 – IV)

Man musste nur den Nebel mit gleißender Hitze und die Pappeln mit Tropenpflanzen vertauschen. In jedem der 500 Gedichte dieses Bandes spiegelt sich der Alltag von Menschen überall dort, wo sie ideologischer und materieller Macht schonungslos ausgesetzt sind. Dass Brechts Gedichte auch heute noch wirken, mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod, ist sowohl ein Geschenk als auch eine Schande. Natürlich kennt jeder Brechts große Stücke. Diese Stücke enthalten eine nüchterne Lyrik. Die Kraft seiner Gedichte ist die Klarheit und Reichweite seiner Einsichten. Ich fühle mich seinen Gedichten sehr eng verbunden. In der Art, wie er sich als Künstler mit seiner Zeit auseinandersetzte, wie er die Membran von Ästhetik und Ethik erkundete, erkenne ich meinen eigenen künstlerischen Ansatz. In seinem harten, traurigen und ehrlichen Auge erkenne ich eine tiefe Verwandtschaft.

Dionne Brand © Jason W. Chow Dionne Brand © Jason W. Chow Dionne Brand,
Toronto