Warum Kanada Speerspitze in Sachen Medieninnovation ist
Meeting in the middle

Augmented Montreal
Montreal Augmented | © Colourbox / Giovanni

In den Bereichen Film, Games und interaktive Medien rangiert Kanada weltweit vorn. Das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer visionären Medienpolitik, die es dem Land ermöglicht, sich erfolgreich gegen die Übermacht aus Hollywood zu behaupten. Ein Blick nach Montreal.

Was einmal ein kleines gallisches Dorf in einer englischsprachigen Welt war, ist heute eine kosmopolitische Großstadt mit vier Millionen Einwohnern und einer der wichtigsten Medienstandorte in Nordamerika. Montreal beheimatet Ubisoft, den Cirque du Soleil und führende Dienstleister im Bereich der Postproduktion. Auch das National Film Board of Canada ist hier ansässig. Die Stadt sowie die Provinz Quebec arbeiten gezielt daran, die klassischen Content-Industrien ins 21. Jahrhundert zu holen. Dabei haben sie eine Strahlkraft entwickelt, die den Ausgangspunkt ihrer Medienpolitik – das Bewahren der französischsprachigen Kultur als exception culturelle innerhalb Kanadas – weit übersteigt.
 
Vier Faktoren haben maßgeblich zu diesem Erfolg geführt. Zuerst die Fokussierung auf Computer- und Videospiele. Die kanadische Games- Industrie ist nach den USA und Japan die drittgrößte der Welt. Ubisoft-Gebäude in Montreal Ubisoft-Gebäude in Montreal | © Monik Richter Anders als in Deutschland, das bis heute kein Triple-A-Studio besitzt, wurde dieser Unterhaltungszweig seit seinen Anfängen in den Achtzigerjahren gezielt aufgebaut. Eine 1996 eingeführte Steuervergünstigung auf Lohnkosten fördert die Entwicklung von Games-Firmen und macht diese auch für ausländische Produktionen attraktiv. Ubisoft produziert in Montreal „Assassin’s Creed“, Warner Brothers Games die Spiele zu „Batman“. Von der bildungsbürgerlichen Ablehnung, unter der diese Industrie in Deutschland immer noch leidet, ist hier nichts zu spüren. 70 % der Kanadier betrachten Games als ein wichtiges Wirtschaftssegment, das ihnen auch in Zukunft Arbeitsplätze sichern wird. Im digitalen Zeitalter erweist sich der Schwerpunkt auf Computer- und Videospiele als Wettbewerbsvorteil: Webbasierte Unterhaltung ist von Natur aus interaktiv. Konzepte und Werkzeuge aus dem Game Design spielen bei der Gestaltung neuer Unterhaltungsformate eine prägende Rolle.
 
Ein weiterer Erfolgsfaktor ist das Fördersystem, das Entwicklungen in der Mediennutzung gezielt aufgreift und die Verbindung alter und neuer Medien konsequent vorantreibt. In Quebec stehen dabei drei Inststitutionen im Mittelpunkt: SODEC, CMF und NFB. Jede ermöglicht auf ihre Weise Medieninnovation. SODEC (Société de développement des entreprises culturelles) ist eine staatliche Agentur zur Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft. Sie umfasst neben Film und Fernsehen auch Kunst, Theater, Musik und die Buchbranche. Die SODEC, die seit 2016 auch Games und interaktive Inhalte unterstützt, hat  die digitale Dimension von Kultur und Medien klar erkannt und fordert die traditionellen Content-Branchen auf, sich neu auszurichten. Die Agentur (Budget 2018: 100 Millionen Kanadische Dollar, geteilt mit dem Conseil des arts et des lettres du Québec (CALQ)) fördert zum einen Firmen als Projekte und koordiniert zum anderen die Tax Credits im Bereich der Medienproduktion.
 
Für TV-Produktionen und interaktive Medien gibt es einen gemeinsamen Fördertopf, den CMF (Canada Media Fund). Der CMF fördert experimentelle Medienangebote und Softwareentwicklung in Höhe von 42 Millionen Kanadischen Dollars (in 2018). Projekte müssen entweder kommerzielles Potenzial oder gesellschaftliche Relevanz aufweisen. Zum Beispiel wurde im Jahr 2016 unter anderem die Adaption von Stephen Kings Roman „Insomnia“ in Virtual Reality gefördert. Andererseits unterstützt der CMF konvergente Unterhaltungsformate (Budget 2018: 280 Millionen Kanadische Dollar): Fernsehen und digitale Medien müssen hier so kombiniert werden, dass sie eine maximale Reichweite erzielen können. Die Verschränkung kann entweder aus einer plattformübergreifenden Vertriebsstrategie bestehen (TV plus Video on Demand zum Beispiel) oder aus einem transmedialen Wertschöpfungsmodell, wobei für jeden Ausspielweg eigene Inhalte geschaffen werden. Große Shows, nationale Sportevents und populäre Serien wie „Unité 9“ sind die Nutznießer dieses Mechanismus. Die Konvergenzförderung des CMF stimuliert zwar die Medieninnovation, hat aber auch Nachteile. Was, wenn ein Projekt nur eine Gattung umfasst, wie im Falle einer reinen Spiele-App? In diesem Fall sind die Fördermöglichkeiten sehr begrenzt, wodurch sich beispielsweise Macher von Independent Games benachteiligt fühlen können.
 
Interessant ist auch, woher der CMF seine Mittel bezieht. Ein Teil der Gelder wird aus Rückzahlungen und Gewinnen bereits realisierter Produktionen generiert. Zusätzlich müssen die Betreiber von Vertriebskanälen wie Kabel, Radio und Satellit eine Abgabe für die Herstellung von neuen Inhalten zahlen. Geplant ist, diese Verpflichtung auf Internetprovider und Telekommunikationsunternehmen auszuweiten, doch noch ist es nicht so weit.
 
Eine besondere Position nimmt das National Film Board of Canada ein. Das NFB (Budget 2018: 35 Millionen Kanadische Dollar) ist Fonds, Produktionshaus und Labor in einem und hat in seiner langen Geschichte Cinéma Vérité, IMAX, 3D und Computeranimation maßgeblich mitgestaltet. Im Jahr 2009 richtete die Institution ihren Fokus neu aus und fördert seither zu gleichen Teilen Spielfilme, Dokumentarfilme, Animation und Neue Medien. Im digitalen Bereich arbeitet das NFB plattformunabhängig. Manche Projekte sind rein webbasiert, wie das Game „I Love Potatoes“ zum Thema soziale Innovation. Andere beginnen als E-Book und werden in Virtual Reality weiterentwickelt, wie „Unknown Photographer“, das eine Fotosammlung aus dem Ersten Weltkrieg interaktiv erlebbar macht. Ein weiteres Projekt fand ausschließlich auf dem Live-Streaming- Videoportal Twitch statt.
 

Stets stellt sich die Frage, wie aus technologischen Neuerungen innovative Inhalte und Formen entstehen können. Da die Herangehensweise an die Projekte interdisziplinär erfolgt, kommen in der Regel medien- und plattformübergreifende Ergebnisse zustande („Journal of Insomnia“, „Cancer of Time“). Ziel ist es, einen gesellschaftlichen Diskurs auszulösen und dabei die Mediennutzer selbst zu Wort kommen zu lassen („Bear 71“, „Megaphone“). Die Wahl der Projektpartner ist sehr frei. So können auch Zeitungsverlage Projekte anstoßen und Fördermittel bekommen, wie die New York Times für „Short History of the Highrise“.
 
Der dritte Erfolgsfaktor liegt im Bildungssystem. Vielfältige multidisziplinäre Studiengänge und Labs für neuartige Medienarbeit erlauben es Studenten, frühzeitig mit neuen Erzählweisen zu experimentieren und branchenübergreifende Netzwerke aufzubauen. Bei der Filmschule INIS (Institut national de l’image et du son) steht ein Studiengang für interaktive Medien gleichberechtigt neben den klassischen Lehrgängen für Film und Fernsehen. Im TAG (Technoculture, Art and Games), einem multidisziplinären Zentrum zur Erforschung und Kreation von Spielen sowie digitaler Kunst an der Concordia University in Montreal, arbeiten Studenten an neuen digitalen Erlebnisformen. So wurde beispielsweise das preisgekrönte Spiel „Kentucky Route Zero“ im TAG entwickelt. Um Ausbildung und Beruf nachhaltig miteinander zu verschränken, haben auch Absolventen jederzeit Zugang zum Lab.
 
Eine vierte Erfolgskomponente ist kulturell bedingt. Man geht in Kanada viel unbefangener mit Technologie um als die meisten Europäer. Auch – und das betonen Medienschaffende immer wieder – herrscht im Land eine Macherkultur. Wer etwas will, geht es an. Einen Rückzug auf kleinkarierte Positionen, der die deutschen Berufsverbände in Sachen Medien kennzeichnet, wird man hier nicht finden.
 
Das Beispiel Kanada zeigt, wie die Medien im digitalen Zeitalter kulturell, wirtschaftlich und gesellschaftlich neu eingeordnet werden müssen. Die Zukunft liegt in der branchenübergreifenden Zusammenarbeit und im gemeinsamen Dienst am Publikum. Die Medienszene ist so aufgestellt, dass sich Autoren, Filmemacher, Künstler, Journalisten, Gamer Designer, Produzenten, Programmierer und Datenanalysten als gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe begegnen können. Daraus spricht die Hoffnung, dass ihr gebündeltes kreatives Potenzial die Bedeutung der neuen Technologien endlich greifbar machen kann.