Kapitel 5
Der erste Tag "drüben"
Wo sich seit dem Mauerbau sowjetische und amerikanische Panzer gegenüberstanden, sind die Medien live dabei, als Ostberliner*innen nach West-Berlin strömen. Sie wollen „mal schauen“.
Von Regine Hader und Dr. Andreas Ludwig
Die Älteren möchten mal wieder über den Kurfürstendamm schlendern, Freund*innen und Verwandte wiedersehen. Die Jüngeren entdecken neue Orte, wo der Ostberliner Stadtplan bisher nur eine weiße Fläche zeigte. Währenddessen bleiben viele Bürostühle leer, die Maschinen in den Fabriken arbeiten einsam, denn die Arbeiter*innen besuchen Westberlin – an reguläre Arbeit ist nicht zu denken. Einige wollen den Trubel aber auch nicht mitmachen oder halten aus politischen Gründen „die Stellung“.
Zwischen Golfs und BMWs bewegen sich Ost-Berliner „Trabanten“ durch den nächtlichen Stau auf West-Berlins Straßen. Einige Stunden nach den Abendnachrichten im West-Fernsehen gleicht West-Berlin einem riesigen Straßenfest. „Es ist eine Mixtur verschiedener Gefühle. Bei meiner ersten Reise war es natürlich erstmal eine größere Überraschung, wie alles aussieht. Ich bin nun auch nicht blind und mir war klar, dass es jenseits der Mauer andere Probleme gibt; dass unser jetziges System Menschen zurücklässt oder eben neue Probleme schafft. Alles was A war, war jetzt Z. Alles was wichtig war, war jetzt unwichtig und umgekehrt“, erinnert sich Katharina Steinhäuser an ihren ersten Besuch in Westberlin.
In den kommenden Tagen schauen sich auch die West-Berliner*innen Ost-Berlin an. Anfangs beantragen sie noch Tagesbesuche und Berechtigungsscheine zum Empfang eines Visums, passieren Grenzkontrollen, müssen Geld tauschen. Weil niemand mehr kontrollieren will, den Zorn oder Spott der Reisewilligen ertragen möchte, besichtigen die Neugierigen die Auflösung jeglicher Ordnung bald unbürokratisch. Manchen soll es gelungen sei, statt eines Ausweises einen Fahrschein vorzuzeigen und einzureisen, andere bleiben an der Mauer stehen, glauben erst jetzt, dass sie wirklich offen ist.
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