Digitale Medien im Unterricht
Warum der Grundsatz „Pädagogik vor Technik” bestenfalls trivial ist

Mädchen im Klassenzimmer mit Tafel und Laptop
Was ist der Mehrwert digitaler Medien? | Peter Atkins © adobe.stock (Ausschnitt)

Wenn es um Bildung und Digitalisierung geht, wird momentan sehr häufig der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ geäußert. Auf den ersten Blick scheint das eine sinnvolle Forderung zu sein. Wenn man genauer hinsieht, stellt sich jedoch heraus, dass dieses Motto bestenfalls trivial ist und im schlimmsten Fall sogar verhindert, dass die Möglichkeiten digitaler Medien sinnvoll genutzt werden.

Es gibt mindestens drei Lesarten des Grundsatzes „Pädagogik vor Technik“:

  1. Technik sollte dem Menschen dienen, nicht der Mensch der Technik.
  2. Man sollte sich zunächst auf das pädagogische Kerngeschäft konzentrieren, bevor man den Unterricht für Technik öffnet.
  3. Pädagogische Entscheidungen müssen vor technischen Entscheidungen getroffen werden. 
Im Folgenden werden diese Lesarten einer kritischen Prüfung unterzogen.

Lesart 1: Trivialität 

Ein prominenter Vertreter der These, dass sich die Technik dem Menschen unterzuordnen habe, ist der Augsburger Medienpädagoge Klaus Zierer. Sein Buch „Lernen 4.0” (2017) trägt sogar den Untertitel „Pädagogik vor Technik”. Wer die These vertritt, dass Technik dem Menschen zu dienen habe (und nicht umgekehrt), kann sich breiter Zustimmung sicher sein. Doch diese Zustimmung hat einen hohen Preis. Denn de facto gibt es keinen einzigen Pädagogen und keine einzige Pädagogin, der bzw. die ernsthaft die Position vertreten würde, dass der Mensch der Technik zu dienen habe. Eine These, der jede(r) zustimmt, und deren Gegenteil niemand für wahr hält, ist jedoch nichtssagend. „Pädagogik vor Technik” ist in dieser Lesart daher keine gehaltvolle These, über die man wissenschaftlich streiten könnte, sondern schlicht eine Trivialität.
 
Das bedeutet nicht automatisch, dass der Grundsatz wertlos wird. Denn auch inhaltlich Triviales kann wichtige Funktionen erfüllen. „Pädagogik vor Technik” taugt insbesondere als warnender Weckruf, wenn Bildungseinrichtungen Gefahr laufen, angesichts technischer Möglichkeiten pädagogische Prinzipien zu vernachlässigen, die eigentlich selbstverständlich sind.

Lesart 2: Technikblindheit 

Die folgende Illustration kann als Ausgangspunkt für eine kritische Analyse der zweiten Lesart dienen:

Buch, Schreibheft, Tablet „Auch Schrift und Buch als Unterrichts-Techniken identifizieren" | Illustration: Katharina Bitzl (Illustration von Katharina Bitzl. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 03./04.03.2018, Buch II, S. 13.)
 
Pädagogik wird hier durch Buch, Stift und Schrift visualisiert. Pädagogisches Handeln bedeutet also beispielsweise, Lesen und Schreiben zu lehren. Die Technik in Gestalt eines Tablets, auf dem Schreibschwünge durch kleine Pfeile angedeutet werden, bleibt im Hintergrund.
 
Illustriert wird hier ein sehr verbreitetes Verständnis unterrichtlicher Technik, zu deren Gegenstandsbereich gewöhnlich vom Overhead-Projektor über das Whiteboard bis zum Smartphone vor allem elektronische Geräte gezählt werden. Doch natürlich sind auch Schrift und Buch (im Gegensatz zur natürlichen Sprache) Formen von Technik. Darauf hat - um einen Klassiker zu zitieren - Walter Ong deutlich hingewiesen:
 

„Yet writing [...] is a technology, calling for the use of tools and other equipment: styli or brushes or pens, carefully prepared surfaces such as paper, animal skins, strips of wood, as well as inks or paints, and much more.”

(Walter Ong 1982, S. 80-81)

 
Was mit der Erfindung der Schrift technologisch begann, wurde durch den Buchdruck weitergeführt. Die frühe Neuzeit war maßgeblich durch die Konkurrenz von Schreib- und Druckkunst um die Führungsrolle in der Informationstechnologie geprägt. Der beispiellos komplexe Buchdruck, die ars nova ingeniosa, galt als High-Tech des 15. Jahrhunderts (vgl. Giesecke 1998, S. 67).
 
Für uns sind Schrift und Typografie hingegen so selbstverständlich geworden, dass ihr technologischer Charakter kaum noch wahrgenommen wird. Das kann zu der falschen Vorstellung führen, der auf Buch und Schrift basierende Unterricht sei durch eine Pädagogik geprägt, die ganz ohne Technik auskomme. Wenn man über das Verhältnis von Pädagogik und Technik nachdenkt, ist es jedoch entscheidend, auch Schrift und Buch als Unterrichts-Techniken zu identifizieren.
 
Vor diesem Hintergrund entpuppt sich der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ in der aktuellen Debatte als bewahrpädagogischer Appell: „Setze zuerst auf die Buch-und-Schrift-Pädagogik, bevor Du (digitale) Technik in Deine (didaktischen) Überlegungen einbeziehst!“.
 
Doch wer dieser Aufforderung folgt, verkennt nicht nur, wie sehr die traditionelle Pädagogik durch Buch- und Schrift-Technik geprägt ist. Aus der Buch-und-Schrift-Perspektive wird es auch sehr schwierig, sich an Prinzipien zeitgemäßer Bildung zu orientieren.

Lesart 3: Kulturblindheit 

Die dritte Lesart des Grundsatzes „Pädagogik vor Technik“ ist eine Variation des Themas, das schon in der zweiten Variante anklingt. Die These, dass pädagogische Entscheidungen prinzipiell vor technischen Entscheidungen zu treffen sind, blendet ebenfalls aus, wie sehr pädagogische Handlungen und Entscheidungen durch die vorhandene Technik mitbestimmt werden.
 
Pädagogik den Vorzug vor Technik zu geben, erinnert darüber hinaus an Klafkis „Primat der Didaktik“, das den Zusammenhang zwischen Unterrichtszielen und Methoden in einer Ziel-Weg-Analogie abbildet:
 

„[M]an muß das Ziel kennen, um über den Weg entscheiden zu können.“

(Klafki 1961, S. 76)


Wenn man den Unterricht auf der Grundlage dieses Prinzips planen will, legt man also zunächst die Ziele fest, die es zu erreichen gilt, und entscheidet erst in einem zweiten Schritt, mit welchen Methoden diese Ziele am besten zu erreichen sind.
 
Der blinde Fleck dieser Vorgehensweise zeigt sich aktuell in der Debatte um den Mehrwert digitaler Medien. Dieser Mehrwert scheint nur dann gegeben zu sein, wenn sich die vorab gesetzten Ziele mit digitalen Medien besser, schneller, nachhaltiger etc. erreichen lassen als auf traditionellem Wege.
 
Ausgeblendet wird bei diesem Vorgehen, dass die unterrichtlichen Zieldimensionen nicht unabhängig von medialen und technischen Rahmenbedingungen sind. Vereinfacht gesagt: Die Ziele, die sich in einem ausschließlich auf Buch und Schrift basierenden Unterricht realistischerweise erreichen lassen, unterscheiden sich signifikant von den Zielen, die man mit Buch, Schrift, Tablet und Internetzugang ansteuern kann. Der wahre Mehrwert digitaler Medien besteht also nicht darin, alte Ziele schneller zu erreichen, sondern völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen, die im Idealfall gesellschaftlich und individuell bedeutsam sind (vgl. hierzu Rosa 2017).

Das Motto „Pädagogik vor Technik“ verstellt nicht nur den Blick auf diese Zusammenhänge, sondern auch auf die grundlegenden Veränderungen, die für die Phase der Leitmedientransformation prägend sind: Es geht darum, dass die gesamte Gesellschaft durch die Kultur der Digitalität (vgl. Stalder 2016) in eine neue Denk-Nährlösung, „a new medium to think and imagine differently“ (Manovich 2013, S. 13) getaucht wird, in der auch solche Begriffe wie „Lernen“ und „Wissen“ neue Bedeutungen erhalten (vgl. hierzu z.B. Weinberger 2011).
 
Aus der „Pädagogik vor Technik“-Perspektive bleiben diese komplexen Zusammenhänge, die für das Verständnis der Kultur der Digitalität und der Veränderungen im Bereich des Lernens und Lehrens entscheidend sind, weitgehend unsichtbar. Es ist daher auch wenig überraschend, dass sich die These „Lernen bleibt […] Lernen – ob digital oder nicht“ (Zierer 2017, S. 53), die gleich auf mehreren Ebenen problematisch ist, nahtlos in ein Gedankengebäude integrieren lässt, in dem der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ eine zentrale Bedeutung besitzt.

Fazit 

Wer „Pädagogik vor Technik!“ ruft, verkennt häufig den Charakter von Technik und blendet den Einfluss von Technik auf Pädagogik sowie den Einfluss von Medien auf Kultur und Gesellschaft aus. Der Grundsatz ist bestenfalls trivial und schlimmstenfalls ein Baustein einer Theorie, die ungeeignet ist, Lernen und Lehren unter den Bedingungen der Digitalität angemessen zu beschreiben – geschweige denn zu analysieren oder zu gestalten.
 

Literatur: 

Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.

Klafki, Wolfgang (1961): Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Unveränderter Nachdruck der Auflage von 1975. Weinheim und Basel: Beltz 2010.

Manovich, Lev: Software Takes Command. New York/London/Oxford/New Delhi/Sydney: Bloomsbury 2013.

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp 2016

Ong, Walter J. (1982): Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. London/New York: Routledge 1988.

Rosa, Lisa (2017): Lernen im digitalen Zeitalter. Online-Quelle: https://shiftingschool.wordpress.com/2017/11/28/lernen-im-digitalen-zeitalter/ (zuletzt aufgerufen am 20.08.2018)

Weinberger, David: Too big to know. New York: Basic Books 2011.

Zierer, Klaus: Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich. Hohengehren: Schneider 2017.