Woyzeck und die Chancengleichheit
Sind wir für unsere Probleme selbst verantwortlich? In welchem Maß ist unser Handeln durch unser gesellschaftliches Umfeld vorbestimmt? Diese Fragen untersucht das Prager Theater D21 in der neuesten Adaption von Georg Büchners „Woyzeck“.
Ein Jahr vor seinem Tod begann der deutsche Dramatiker Georg Büchner im Jahre 1836 mit der Arbeit an einem Theaterstück, das inspiriert war von einem realen Kriminalfall: Ein Mann hatte aus Eifersucht seine Geliebte erstochen. Von diesem realen Fall entlieh sich Büchner auch den Namen Woyzeck. Es reichte, die Kriminalgeschichte um einige historisch verbürgte Experimente mit Erbsenbrei an Soldaten zu ergänzen, und fertig ist das Drama – wenn denn Büchner nicht im Februar 1837 an Typhus gestorben wäre. Auch wenn Büchner nur einige ungeordnete Fragmente hinterließ, weckt sein Woyzeck auch im 21. Jahrhundert noch die Aufmerksamkeit des Publikums.
So auch in einem Hinterhof in Prag-Vinohrady, wo das Theater D21 beheimatet ist. Seit dem Jahr 2012 gibt es dieses unabhängige alternative Theater, das aus dem Kleinen Theater Vinohrady hervorging. Es verfügt über zwei Theatersäle mit einem Fassungsvermögen von rund 60 beziehungsweise 90 Besuchern. Im größeren Saal, der so genannten Pyramide, wird Büchners Woyzeck aufgeführt.
Dass Büchners Text unvollendet blieb, halten die Theatermacher für einen Vorteil. Der künstlerische Leiter der Bühne und gleichzeitig der Regisseur der Woyzeck-Inszenierung Jiří Ondra kam mit dem Text zum ersten Mal während seines Studiums an der Theaterhochschule DAMU in Berührung. Schon damals reizte ihn die Herausforderung, dass eine Bühnenumsetzung des Stückes ohne einen klaren und verständlichen inszenatorischen Schlüssel unmöglich bleibt. Gleichzeitig war Ondra fasziniert von der Zeitlosigkeit des Themas, das viele historische Ereignisse und Konflikte des 20. Jahrhunderts vorwegnahm. Auch deshalb entschied er sich, Woyzeck in das Programm für Grund- und Mittelschulen aufzunehmen. Die Leiterin des Theaters D21 Hana Mathauserová sieht in Büchners Stück einen Grundpfeiler im diesjährigen Programm: „Unser Motto für die Spielzeit 2015/2016 und das verbindende Element unserer drei diesjährigen Premieren lautet ‚ohne Dach und ohne Gesetz‘. Wir beschäftigen uns mit Charakteren, die in der Gesellschaft einen Platz einnehmen, den sie nicht aus freien Stücken gewählt haben.“ Bestandteil dieses dramaturgischen Planes sind außerdem die Adaption von Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte und das Stück Knoflíček (Knöpfchen) des mit dem D21 eng verbundenen Autors Jiří Ondra, der wie erwähnt auch für die Regie des Woyzeck verantwortlich ist.
Ein medizinisches und soziales Experiment
Schauspieler und Mitarbeiter des Theaters D 21, mit Michal Dudek als Woyzeck an der Spitze, untersuchen in der Büchner-Inszenierung, in welchem Maß der Mensch durch sein Umfeld vorbestimmt ist, und in welchem Maß er für seine Probleme selbst verantwortlich ist. Der Protagonist springt einem Ping-Pong-Ball gleich zwischen den anderen Figuren hin und her. Diesem Prinzip folgt auch die Anordnung der Szenen. Die Menschen um Woyzeck manipulieren ihn vorsätzlich, vor allem physisch – in der Entstehungszeit des Dramas wurden an Soldaten medizinische Experimente auf der Grundlage von deren Ernährung durchgeführt. Zum Ziel der Kostenersparnis wurde etwa mit einer Diät experimentiert, bei der die Soldaten drei Monate lang nichts anderes als Erbsenbrei bekamen. Resultat waren Halluzinationen und Vergiftungen. Thema der Prager Inszenierung ist aber auch die psychische Manipulation, die zusammenhängt mit Woyzecks Unfähigkeit sich in die Gesellschaft einzugliedern. Am Ende hat er alle menschlichen Werte aufgegeben – und damit auch seine Beziehung mit Maria sowie das gemeinsame Kind.
Gesellschaftspolitisches Engagement und Entschlossenheit kann man den Machern des Theaters D21 nicht absprechen. Zu ihrem Repertoire gehören unter anderem Václav Havels Audienz, George Orwells 1984 oder die Inszenierung Fuks, die anhand der Geschichte eines alternden Schriftstellers die Unfreiheit während des Kommunismus thematisiert.
Im D21 wird die Figur des Woyzeck als ein Projekt der Mächtigen präsentiert. Jiří Ondra platziert die Charaktere in eine Art Hangar oder Glashaus, wo sich aus Langeweile ein grausames Spiel entwickelt. Dies hat laut dem Regisseur auch eine politische Bedeutung: „Nach unserer Lesart von Büchners Text gibt es so etwas wie ‚Chancengleichheit‘ nicht. Die soziale Schere ist weit geöffnet, und trotz sämtlicher Bemühungen kann ein benachteiligtes Individuum nichts daran ändern.“ Zur dramaturgischen Umsetzung trug auch der Schauspieler Hasan Zahirović bei, indem er eigene Erfahrungen aus den Jugoslawienkriegen einfließen ließ: „Im Krieg tritt das Unmenschliche zu Tage, dass jeder in sich trägt. Wer kein Geld aber ein Gewehr hat, der hat die Macht. Kein Krieg hat Regeln. Auch wenn Büchner seinen Text schon vor beinahe 200 Jahren geschrieben hat: Im Krieg in Bosnien habe ich jeden Satz von Woyzeck selbst erlebt.“ Zahirović verweist vor allem auch auf das Grauen, das nach der bewaffneten Auseinandersetzung begann. Er ist überzeugt, dass sich diese Geschichte mit jedem weiteren Krieg aufs Neue abspielt.
Das Theater D21 hat seinen Woyzeck in ein Programm aufgenommen, in dem über den Rahmen der Theatervorführung hinaus eine Zusammenarbeit mit Schulen stattfindet. Es gibt Treffen und Diskussionen mit den Machern, die auch dazu dienen sollen, Lehrer für die Themen zu sensibilisieren. Im Fall von Woyzeck geht es dabei um den nicht enden wollenden gesellschaftlichen Druck, dem jeder Einzelne auch im Jahr 2016 noch, 180 Jahre nach der Entstehung des Textes, ausgesetzt ist. Die Leiterin des Theaters Hana Mathauserová betont die individuelle Ebene: „Es ist an jedem von uns, wie er sich gegen diesen sozialen Stress schützt. Ich spreche da etwa der Beeinflussung durch Werbung, von Entscheidungen von Frauen zwischen Kind oder Karriere. Häufig stellen wir auch finanzielle Bedürfnisse über unsere moralischen Vorstellungen. Das betrifft uns alle – manch einer meistert das besser, manch einer schlechter.“
Übersetzung: Patrick Hamouz