Interview mit Charles Raab
Privatsphäre in der Waagschale

Justitia
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Im Interview spricht Politikwissenschaftler Charles Raab über die unterschiedlichen Facetten von Privatsphäre und beleuchtet, warum Gesetzgeber häufig mehr Wert auf nationale Sicherheit als auf Privatsphäre legen.

Privatsphäre hat ganz unterschiedliche Facetten. Werden die in der Praxis der Regulierung ausreichend berücksichtigt?
 
Ich finde nicht. Privatsphäre hat viele Facetten, die, abgesehen davon, dass Privatsphäre ein individuelles Recht ist, nicht bedacht werden. Zum Beispiel, wie verschiedene Informationspraktiken Gruppen oder eine ganze Gesellschaft beeinflussen. Während ich es als sehr wichtig empfinde, dass wir die Idee nicht aus den Augen verlieren, dass Privatsphäre ein Recht ist, denke ich, dass das nicht ausreicht. Bei der Regulierung von Privatsphäre müssen wir darüber hinaus gehen und uns überlegen, welche Auswirkungen verschiedene Informationspraktiken auf andere Werte haben, wie unsere Würde und Autonomie, genauso wie auf Gruppen von Menschen, die in Bezug auf Privatsphäreregulierung durch das Netz fallen können.
 
Welche Rolle spielt Kultur im Zusammenhang mit Privatsphäre und ihrer Regulierung?

Das kommt darauf an, was man unter Kultur versteht. Wenn man damit Länder, eine nationale Kultur meint, sehen wir, dass manche Länder oder Kulturen, unter anderem bedingt durch historische Faktoren, ein größeres Bewusstsein für Privatsphäre haben als andere. Wenn man hingegen versucht, zu verstehen, wie Privatsphäre kulturübergreifend reguliert werden kann, dann kommt es möglicherweise zu einem Konflikt zwischen der Idee von Privatsphäre als allgemeinem Menschenrecht und spezifischeren Verständnissen von Privatsphäre von Kulturen innerhalb einer Gesellschaft, z.B. von junge Menschen, die Facebook nutzen, im Gegensatz zu älteren, die das nicht tun und daher ein anderes Verständnis davon haben, wie sie beeinflusst werden. Beide müssen berücksichtigt werden. Das ist eine sehr schwierige Frage, weil Kultur immer im Zusammenhang zu betrachten ist. Und in verschiedenen Zusammenhängen gibt es Normen dafür, wie Privatsphäre verletzt werden kann. In anderen Kontexten, werden diese Normen nicht zwingend dadurch verletzt, wie Informationen gesammelt und genutzt werden.
 

Das Interview mit Charles Raab zum Anschauen.
 
Warum hat die nationale Sicherheit oft Vorrang, wenn Gesetzgeber versuchen nationale Sicherheit und Privatsphäre in Einklang zu bringen?

Das hat zwei Gründe: Erstens lässt sich die nationale Sicherheit – gerade, wenn man an terroristische Bedrohungen denkt – leicht als oberste Priorität von Regierungen darstellen. Regierungen sagen dann: „Unsere oberste Priorität ist es, die Menschen zu schützen“. Ich meine damit nicht, dass sie das nicht sagen sollten, aber wenn Privatsphäre generell als viel weniger wichtig angesehen wird, ist das eine einigermaßen kurzsichtige Perspektive. Zweitens, wenn sie darüber reden, nationale Sicherheit und Privatsphäre abzuwägen, dann ist es relativ selten, dass sie offen sagen, wie sie beim Abwägen vorgehen, was sie auf die Waagschalen legen. Es kann auch sein, dass eine Person ganz anders abwägt als eine andere, obwohl beide gleichermaßen besorgt über nationale Sicherheit und Privatsphäre sind. Man befindet sich in einem schwer manövrierbaren Bereich, wenn man Wörter wie „Abwägen“ und „nationale Sicherheit“ sowie „Privatsphäre“ verwendet. Alles ist schwierig in diesem Bereich und letztlich geht es vielleicht darum, sich tiefere Gedanken zu machen und die Debatte in einer breiteren Öffentlichkeit anzufachen.