„Ich will meine Wurzeln nicht verlieren“
Kornél Mundruczós neue Inszenierung der Winterreise deutet das eigentümliche zeitgenössische Phänomen „auf dem Wege sein“. Der international anerkannte ungarische Regisseur im Gespräch.
Flüchtlinge auf Ungarns Autobahn. In der Budapester Vorstellung von Winterreise im Budapest Music Center im Oktober 2015 waren Bilder zu sehen, die in der ursprünglich bereits für Frühjahr geplanten Premierenvorstellung noch nicht hätten gezeigt werden können. Hat die Geschichte das Werk eingeholt?
Kornél Mundruczó: Wir mussten auf die gegenwärtige Krise in Europa reagieren. Wir waren vor Ort auf den Straßen und haben gedreht. Ob uns die Zeit in die Karten gespielt hat? Ich weiß es nicht, aber gewiss ist, dass es sich hier um eines jener Ereignisse handelt, die wir erst später verstehen werden. Ich hoffe, dass diese Bilder etwas neutraler sind als jene, mit denen die Nachrichten arbeiten und in denen ein ganz bestimmter ideologischer roter Faden erkennbar ist. Ich wollte die menschliche Seite der Ereignisse beleuchten. Das hier gedrehte Material fügte sich dann schlussendlich perfekt in den zuvor entstandenen Filmsequenzen ein.
Wie sahen die Pläne für die ursprüngliche Produktion aus, die in den Opernhäusern Antwerpen und Gent im Frühling 2014 erstaufgeführt wurde?
Herzog Blaubarts Burg füllt keinen ganzen Abend aus. Die größte Herausforderung bestand für mich deshalb darin, ein entsprechendes Werk zu finden, das den einzigartigen Charakter des Bartók-Werks ergänzen könnte. Unsere Winterreise wurde in Kombination mit dem Bartók-Stück in Antwerpen und Gent elfmal in Folge gespielt. Sie war ein riesiger Erfolg. In die Opera Vlaanderen, die ja zeitgenössische Werke zeigt, werde ich bereits auf wiederkehrender Basis eingeladen, auch zurzeit arbeite ich dort an einer Produktion. Das ist für mich eine große Freude und Ehre zugleich, das war es schon bei der ersten Gelegenheit, denn der Intendant hatte damals bei den Wiener Festwochen eine mit dem Proton Theater erarbeitete Prosa-Aufführung gesehen, nämlich Nehéz Istennek lenni (Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein), und lud mich daraufhin ein, eine Oper zu inszenieren.
An die Winterreise knüpfte sich für mich eine Kindheitserinnerung, auch wenn ich mit dem Werk nicht eingehend vertraut war. Es ist sehr intim – ein Klavier, ein Sänger, und auch im musikalischen Kanon nimmt es einen festen Platz ein. Es ist ein ebenso einzigartiges Werk wie das von Bartók. Aus diesem Grund schlug ich die Winterreise vor und mein Vorschlag wurde angenommen. Mein Grundkonzept sah wie folgt aus: Blaubart ist ein Emigrant, der gezwungen ist seine Heimat zu verlassen und sich in der Fremde ein riesiges Reich aufbaut, dessen Räume seine eigenen Traumata bergen, sie stellen sozusagen die Schauplätze seiner Verbannung dar, und diese zeigt er Judith. Am Ende der Vorstellung kam dann der Gedanke auf, dass vielleicht er Béla Lugosi sei. Der echte. Nicht Dracula selbst, der nicht sterben kann, sondern der Mann, der Dracula spielte und durch diese Rolle bis heute weiterlebt. Auch Lugosi war im Flüchtlingslager, nachdem er Ungarn verlassen hatte. Daraus ergab sich also der Gedankengang: Flüchtlinge als zeitgenössische Erscheinung, das Lager als Purgatorium, in dem alle darauf warten, dass endlich einmal die Entscheidung gefällt wird, wohin es als nächstes geht – das alles steht in Zusammenhang mit der Winterreise. Auf der Bühne des Opernhauses war die Videoinstallation auf einer riesigen Leinwand hinter dem Klavier und dem Sänger zu sehen, mit den Bildern aus dem Flüchtlingslager in Bicske. Ich muss dazusagen, dass zur Zeit der Dreharbeiten 2013 im Lager noch verhältnismäßig humane Bedingungen herrschten.
Woher rührt deine Beziehung zur deutschen Sprache, Literatur und Musik?
Die deutsche Sprache und Kultur bringe ich nicht mit den deutschen Touristen am Plattensee in Verbindung, vielmehr kenne ich beides selbst aus Dresden und Wien. Mein Lieblingsfilmregisseur ist Fassbinder. Meine Mutter ist Deutschlehrerin, ein Zweig unserer Familie ist nach Wien ausgewandert. Ich höre diese Sprache gerne, auch wenn mein Deutsch nicht herausragend ist. Die deutsche Musik ist für mich sehr logisch, fast schon ein mathematisches Konstrukt, doch nichtsdestotrotz setzt sie gewaltige Emotionen frei. Das zeigt auch, dass ich die Kunst für viel exakter halte als man im Allgemeinen annimmt.
In der Budapester Aufführung der Winterreise war vorn das Orchester, dahinter auf einem bühnenähnlichen Podest eine ärmliche Behausung für den Sänger und im Hintergrund lief das Video. Die ganze Bühne musste neu gedacht werden.
Die Idee zur Orchester-Version à la Zender kam vom Danubia Orchester Óbuda, wobei ich diese auch schon in Antwerpen im Hinterkopf hatte, dort schien mir aber das Konzept Klavier-Sologesang als besserer Gegenpol zu Bartók. Die Winterreise ist das Drama eines jungen Mannes. Aus dem Text erfahren wir nur wenig: Es gibt ein Dorf, eine Liebe, eine Frau und ihre strenge Mutter. Denken wir nur daran, wie viele junge Männer, junge Familien wir unter den Flüchtlingen sehen. Der Sänger János Szemenyei verkörpert jenen jungen Mann in der Vorstellung, den ich gesucht habe: Wir arbeiten mit ihm im Proton Theater schon lange als Komponist und Schauspieler zusammen. Die Basis der Inszenierung war die Videoarbeit. Sie ist momentan im Museum für Zeitgenössische Kunst Antwerpen zu sehen, die Musik dazu kommt dort aus dem Kopfhörer. Trotz der Tatsache, dass ich bei meinen Theaterproduktionen regelmäßig auf das Medium Video zurückgreife, lastete ein gewisser Druck vor der Budapester Vorstellung auf mir: Bei dieser Produktion handelt es sich nämlich um kein Konzert, kein Theater, keine Videoinstallation, sondern um eine Kombination der drei. Zum Glück fiel die Rezeption seitens des Publikums positiv aus, es hat gut auf die Fusions-Variante reagiert und war offen für das Neue. Ich könnte jedoch auch weiterhin nicht die konkrete Gattung bestimmen.
Wird es davon eine Serie geben oder plant das Proton Theater andere Vorstellungen?
Wir würden uns über eine Fortsetzung freuen, aber bis jetzt gibt es noch keine konkreten Pläne. Im Moment arbeiten wir an unserer neuen Produktion, deren Premiere nächstes Jahr bei den Wiener Festwochen zu sehen sein wird, die Vorpremiere dazu findet im April im Trafó in Budapest statt. 2016/17 werde ich wieder in Antwerpen und Basel gastieren, unter anderem deshalb, weil wir mit dem Proton Theater nur alle zwei bis drei Jahre ein neues Stück produzieren können. Leider unterstützt der ungarische Staat unser Theater nicht wirklich. All unsere Vorstellungen entstanden und entstehen bis heute in internationaler Koproduktion, also mit der Unterstützung ausländischer Partner. Das wird allerdings nicht immer so bleiben, und im Moment kann sich das Proton Theater kein Ensemble leisten, all unsere Mitarbeiter sind vielerorts tätig. Hier eine festere Struktur zu erreichen, bleibt unser Ziel, die Gefahr des Zerfalls ist sonst sehr groß. Gleichzeitig freuen wir uns aber sehr, dass wir regelmäßig vor vollem Haus spielen dürfen, so wie zuletzt Dementia an zwei aufeinanderfolgenden Abenden im Vígszínház. Darüber hinaus laufen verschiedene Stücke von uns im Trafó und mit unseren Repertoirestücken sind wir ständig präsent im Ausland. Die Sicherung unseres Bestehens verlangt uns ungeheure Energien ab. Doch warum tun wir das alles? Weil ich meine Wurzeln nicht verlieren will, denn ohne sie könnte ich auch im Ausland nicht arbeiten. Es ist mir wichtig, mich zusammen mit diesen Schauspielern und in dieser Sprache über die Probleme, die Realität und den Zerfall dieses Landes in radikaler Weise äußern zu können.
Die Fragen stellte Júlia Ránki